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Language:
Deutsch
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Published:
2024-03-05
Updated:
2024-03-08
Words:
17,016
Chapters:
9/11
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10
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5
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290

☼Do you remember?☼

Summary:

Warum Jay und Will Halstead schon als Kinder Polizist und Arzt werden wollten und welche Rolle ihre Eltern dabei spielten, erfahrt ihr in dieser Geschichte...
(one shot Reihe über Jay und Will's Kindheit in nicht chronologischer Reihenfolge)

Chapter 1: cop kid

Chapter Text

Im Verlauf meiner One Shot Reihe über Jay und Hailey (heroes in blue) kam mir die Idee, eine eigene One Shot Geschichte über Jay und Wills Kindheit zu schreiben.
Wir werden die zwei Jungs in den folgenden Kapiteln in unterschiedlichen Altersstufen bei wesentlichen Höhepunkten ihres Lebens begleiten.
Die Geschichten sind so aufgebaut, dass Jay mit verschiedenen Bezugspersonen in Konversation ist und mittels Flashbacks an zurückliegende Ereignisse denkt. Der Flashback wird hier erstmals nicht im Traumakontext verwendet.
Ich wünsche euch viel Spaß!

 

______________________________________

 

„Wolltest du eigentlich schon immer Polizist werden?“

Verdutzt sah Jay von den Überwachungsbildern auf, blickte seine Frau überrascht an.
Sie befanden sich im Abhörwagen. Burgess und Ruzek waren undercover unterwegs, während sie eng über Kabel und Computer mit ihnen in Verbindung standen.

„Was??!!!“

Verdutzt sah Jay auf seine Partnerin, legte dann skeptisch die Stirn in Falten. Upton hatte ihn förmlich aus den Gedanken gerissen.

„Du hast richtig verstanden. Ob du schon immer Polizist werden wolltest?“, sah ihn Hailey an. Jay dacht kurz nach, nickte dann entschlossen mit dem Kopf.

„Zuerst Soldat, dann Cop. Solange ich denken kann. Wieso? Wie kommst du jetzt darauf?“

„Will hat neulich davon erzählt“, entgegnete Hailey amüsiert.
Scherzhaft musterte Halstead seine Frau.

„Doch hoffentlich nur Gutes“, witzelte er belustigt, was Hailey überlegen grinsen ließ.

„Dein Gerechtigkeitssinn soll schon immer sehr ausgeprägt gewesen sein.“
Mehr sagte sie nicht.
Gedankenverloren musste Jay für einen Moment an seinen Bruder denken. Und daran wie alles angefangen hatte…

 

*Flashback*
Chicago, 20. Mai 1993

 

„Will? Du musst mir helfen“, jammerte der 9 jährige Jay, während er am großen Wohnzimmertisch an seinen Hausaufgaben saß und ein langes Gesicht machte.

Sichtlich genervt sah der rothaarige Junge von seinem Schreibzeug auf, brummte dem Kleineren mürrisch entgegen.

„Was ist?“, seufzte der 12 Jährige, ehe er sich wieder seinem Matheheft widmete. Die binomischen Formeln machten ihm besonders zu schaffen. Ausgerechnet an diesem Donnerstag hatte ihnen die Mathelehrerin eine ganz besonders knifflige Schularbeit aufgetragen.

„Ich bekomme diese Aufgabe einfach nicht hin“, jammerte der 9 Jährige, während er abermals sein angefangenes Blatt zerknüllte und zum bereits vierten Mal von neuem zu schreiben begann.

Will stöhnte frustriert, legte schließlich seinen Füller zur Seite und sah den Jüngeren herausfordernd an. So sehr er auch an ihm hing, aber an manchen Tagen schien ihn Jay in den regelrechten Wahnsinn zu treiben.

„Kannst du dich mal fünf Minuten alleine beschäftigen? So komme ich nie zu meinen Hausaufgaben“, verteidigte sich der Rothaarige, aber der Kleinste wurde nicht müde seinem Unmut Gehör zu verschaffen.

„Es ist aber wichtig. Wir sollen einen zweiseitigen Schulaufsatz über unseren späteren Berufswunsch schreiben.“

„Ja, und? Wo ist da jetzt dein Problem? Du weißt doch was du werden willst, oder nicht?“

„Schon. Aber, ich finde einfach keine Argumente dafür.“
Will hatte allmählich genug, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du wirst doch aber Gründe haben, warum du später zur Polizei gehen willst?“, fragte der Ältere ungläubig. Doch Jay kritzelte nur lustlos mit seinem Tintenfüller auf einem nebenliegenden Blatt Papier herum. Natürlich hatte er seine Gründe, aber diese in Worte zu fassen schien so unglaublich schwer zu sein.

„Weil ich anderen helfen kann und einer von den Guten bin. Weil man sich für Schwächere einsetzt und Gerechtigkeit schafft.“

„Und warum schreibst du das nicht auf?“

„Weil ich es nicht formulieren kann.“

Die Situation wurde von Pat Halstead unterbrochen, der gerade von der Arbeit nach Hause gekommen war und genervt das Wohnzimmer betreten hatte. Sofort war es auffallend still. Beide Jungs taten, als ob sie sich spürbar konzentrierten.
Wenn ihr Dad in der Nähe war, herrschte Ordnung und Disziplin.

Zufrieden schaute der Familienvater seinem Ältesten über die Schulter, ehe er bei seinem jüngsten hängen blieb, der in schlechter Schrift gerade den Anfang des neuen Aufsatzes geschrieben hatte. Unsanft zuckte Jay zusammen, als ihm der Vater das Blatt entrissen hatte.

Neugierig las Pat Halstead die Ausführungen seines Kleinsten, schüttelte dann abwertend mit dem Kopf.

„Du und Polizist. Mit der Handschrift? Wenn ich das lese, könnte ich dir das Blatt schon wieder um die Ohren knallen. Fünf Rechtschreibfehler in einem Satz und dann noch diese Sauklaue. Und will dann noch zu den Cops. Lächerlich“, brummte der Vater nicht gerade erbaut über Jays Zukunftspläne, ehe er unsanft das Blatt zurück auf den Tisch legte.

„Kannst du dir keinen ordentlichen Berufswunsch überlegen? Banker zum Beispiel oder Anwalt? Einen Job, mit dem man gutes Geld verdient und wirklich abgesichert ist. Sagt mal? was habe ich mir da eigentlich nur heran gezogen. Der eine will Arzt werden und der andere Polizist. Unglaublich“, wetterte Patrick und lief mit ungläubigem Kopfschütteln zum Kühlschrank, wo er nach einem Bier griff.

„Wann hat eure Mutter eigentlich das letzte Mal eingekauft? Die hat euch doch eigentlich längst einen Zettel geschrieben.“

„Kann schon sein“, murmelte Will und versank dann wieder in der Aufgabe, zuckte aber kurz darauf zusammen, als sein Vater lautstark mit der Faust auf den Tisch haute.

„Kann schon sein? Willst du mich auf den Arm nehmen? Das war ein klarer Auftrag und ihr sitzt hier und macht Hausaufgaben. Zack, los geht’s. Das Zeug könnt ihr später fertig machen. Wir haben keine Butter mehr und ich will, dass ihr einkaufen geht. Jetzt. Bewegung! Feuerwerk!“, setzte Pat Halstead die Jungs lautstark unter Druck. Will und Jay tauschten sich vielsagende Blicke aus. Eher aus Angst und Ehrfurcht räumten sie ihre Schulsachen zusammen und setzten sich schließlich in Bewegung. Wenn ihr Vater in dieser Stimmung war, schien keineswegs mit ihm zu spaßen zu sein.
Zum Glück war der nächste Wallmart nur eine halbe Meile entfernt. Ein Weg, den sie gut mit dem Fahrrad zurücklegen konnten.

Innerhalb kurzer Zeit hatten sie den Supermarkt erreicht, erledigten in Windeseile den geforderten Auftrag. Will stöhnte, als er seinen 9 jährigen Bruder nach etlichem Suchen in der Spielwarenabteilung entdeckte.

Fasziniert stand Jay vor der Spielzeugpistole mit den Platzpatronen, die nahezu täuschend echt wirkte. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, eine solche Waffe einmal in der Realität in den Händen zu halten, aber noch schien dieser Gedanke meilenweit weg zu sein.

„Jay, wo bleibst du denn wieder? Wir müssen nach Hause. Dad wartet schon“, nörgelte Will, der allmählich immer ungeduldiger wurde. Dem Jungen saß die Zeit im Rücken. Wenn sie bummelten oder zu spät kamen, würde ihr Vater richtig ungemütlich werden. Diese Erfahrung hatten sie bereits auf leidvolle Art und Weise gemacht.

Nachdem sie bezahlt hatten, setzten sie sich auf ihre Fahrräder und traten die Rückfahrt an.

Der Weg führte an einem kleinen Tunnel vorbei. Schon von weitem kam Will ins stocken. Sofort hielt er an. Allerdings so abrupt, dass Jay eine Notbremsung einlegen musste und ihm beinahe auf das Hinterrad geknallt wäre.

„Man, kannst du nicht aufpassen. Mein schönes Rad“, schrie der Kleine, ehe er die Ursache des abrupten Stopps realisierte. Gebannt starrte sein älterer Bruder auf die dunkle Unterführung.

Mitten im Tunnel befanden sich zwei Jungen, die blindlings auf etwas einschlugen. Bei genauerem Hinsehen fiel schließlich auf, dass es sich dabei nicht um einen Gegenstand, sondern um einen Menschen handelte. Genauer gesagt um einen kleinen Jungen.

„Verdammt, was machen die da?“, flüsterte Jay entsetzt und legte sein Fahrrad auf den Boden, wollte bereits los laufen. Nur in letzter Minute konnte ihn Will gerade noch zurück halten.

„Spinnst du? Die sind doch viel älter als du.“

Empört blickte der 9 Jährige auf. Sofort hatte sich sein Gerechtigkeitssinn gemeldet.

„Was willst du sonst machen? Warten bis sie den tot schlagen? Ich gehe da jetzt hin.“
Ehe sich Will versah, war Jay bereits auf die Szene zugelaufen.

„Hey“, schrie er aus Leibeskräften. Innerlich hätte Will den Jüngeren am liebsten erwürgen können, aber der Kleinere war bereits zu weit voraus gelaufen. Für einen Rückzieher war es längst zu spät.

Mit flinken Schritten lief der 12 Jährige nun dem Jüngeren nach. Die Schläger schauten erschrocken nach oben auf.

Will war sich nicht sicher, ob der plötzliche Abbruch allein ihrem Auftreten oder dem vorbeifahrenden Truck geschuldet war, aber die Täter ließen nun augenblicklich von dem Jungen ab.
In rasantem Tempo zogen sie sich zurück.

Geschockt traten Jay und Will näher, sahen entsetzt auf den blutenden Jungen, der sich auf dem Boden krümmte.
Blut strömte aus seiner Platzwunde am Kopf, während er sich weinend den schmerzenden Bauch hielt und sich regelrecht vor Schmerzen zusammengerollt hatte.

„Hey, was hast du? Warum haben die das mit dir gemacht?“, redete Jay unaufhörlich auf den Kleinen ein, aber dieser schluchzte nur leise. Sie schätzten ihn auf acht. Älter war er auf keinen Fall.

„Wir müssen ihn stabilisieren. Genau wie ich das in der Schule gelernt habe. Hilf mir kurz“, wies Will den Jüngeren an und versuchte den Jungen gemeinsam mit seinem Bruder nach oben zu hieven. Genau so, wie er es beim erste Hilfe Kurs beigebracht bekommen hatte. Der Kleine schrie vor Schmerzen, während sie ihn beim stehen unterstützten. Will opferte seine Sweatshirtjacke, die er dem fast Gleichaltrigen behutsam gegen die Stirn presste. Anschließend fühlte er seinen Puls, versorgte mit spartanischen Möglichkeiten behutsam seine Wunden und gab ihm etwas Wasser, das sie gerade im Supermarkt gekauft hatten.

Dank Jays Unterstützung schafften sie es den 8 jährigen einzuhaken und in das nächste Straßencafe zu bringen.

Während Will den Jungen behutsam auf einen Stuhl setzte, bat Jay im Inneren der Gaststätte um Hilfe. Sofort kam eine besorgte Asiatin nach draußen, um weitere Maßnahmen einzuleiten. In der Zwischenzeit rief ihr Mann einen Krankenwagen samt der Polizei, um den Vorfall schnellstmöglich aufklären zu können.

Es dauerte nur wenige Minuten, ehe die angeforderten Fahrzeuge eintrafen.

Ehrfürchtig sah Jay auf den Polizisten, der kurzerhand aus dem Streifenwagen stieg und direkt auf die Jungen zugegangen war.

Akribisch wurden die Geschwister nach dem genauen Tathergang befragt und schilderten jedes noch so kleinste Detail, das sie beobachtet hatten.

Nach mehrfachem Lob für ihre Aufopferungsbereitschaft und ihren Gerechtigkeitssinn bot der Sheriff an, Jay und Will samt ihrer Räder nach Hause zu fahren.

Natürlich staunten Cheryl und Patrick Halstead nicht schlecht, als Will und Jay auf einmal mit dem Cop vor ihrer Haustür standen.
Pat, der bereits mit dem Schlimmsten rechnete, zog ein grimmiges Gesicht.

„Was habt ihr beiden jetzt wieder ausgefressen? Kann man euch nicht einmal allein zum einkaufen schicken?“, tobte der Vater, der den Sachverhalt völlig falsch aufgefasst hatte. Zur Erleichterung der Kinder sorgte der Cop recht schnell für Aufklärung.

„Es ist anders als Sie denken.“
Kritisch sahen die Eltern ihre Söhne an.

„Ma’am, Sir? Ich darf Ihnen gratulieren. Sie haben da zwei ganz tolle Jungs. Die beiden haben einem 8 jährigen Jungen heute Nachmittag das Leben gerettet. Ohne Ihre Hilfe wäre die Sache deutlich schlechter ausgegangen“, lobte der Sheriff die Kinder, die jetzt stolz auf ihre Eltern sahen. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde Pat Halsteads Miene weich wie Butter.

Nach mehrfacher Würdigung ihrer Leistung und dem Versprechen mit einer Medaille für besondere Taten gewürdigt zu werden, verabschiedete sich der Mann.

Die Jungs liefen ins Haus. Es roch bereits nach Cheryls Gemüsepfanne. In wenigen Minuten würde das Abendessen stattfinden.
Während sich Will und Jay im Badezimmer die Hände wuschen, trat Pat Halstead in den Raum. Argwöhnisch taxierte er seine Jungs, machte schließlich ein zufriedenes Gesicht.

„Na, ja vielleicht wird das später ja doch noch was mit euch. Bei der Polizei oder im Krankenhaus“, flüsterte er leise, ehe er mit schnellen Schritten aus dem Raum verschwand.

Jay und Will grinsten einander überrascht an. Fast so, als ob sie in die Zukunft schauen konnten. Als ob sie wussten, was da bald noch auf sie zukommen würden…

Chapter 2: home

Chapter Text

„Owen, langsam. Du bist viel zu schnell!“, rief Jay, als sein kleiner Neffe zu weit voraus gefahren war.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall, dann ein Kinderschrei.
Seufzend rannte Halstead zu der Quelle des Geräuschs, besorgt auf den 5 jährigen sehend, der jetzt weinend am Boden lag, weil er vom Rad gefallen war.

Vorsichtig nahm Jay den Kleinen auf den Arm, besah sich seine Arme und Beine, die allem Anschein nach nichts abbekommen hatte. Zum Glück hatte der Junge einen Helm getragen.
Owen schluchzte ein bisschen, ließ sich von Jay aber relativ schnell beruhigen.
Als Will seinen Bruder erreichte, konnte dieser bereits Entwarnung geben.

„Ist nichts passiert. Er ist günstig gefallen.“

Der Arzt, der bis eben noch sein Auto umgeparkt hatte, schaute sorgenvoll auf den Kinderarm, der leicht abgeschürft war.

„Tut das weh? Hast du Schmerzen? Wir sollten das röntgen lassen“, war sich der rothaarige Mediziner sicher, aber Jay verdrehte nur genervt die Augen.

„Ist das nicht total übertrieben? Er ist doch nur hingefallen.“

„Er hat sich weh getan. Siehst du das nicht?“
Aber Jay schüttelte amüsiert mit dem Kopf. Das Theater, das sein Bruder bei seinem Stiefsohn veranstaltete, hatte er früher nie gemacht.

„Komm, als ob du früher so einen Affentanz veranstaltet hättest. Frag dich mal wie wir damals groß geworden sind“, beschwerte sich Jay, der den mittlerweile ruhigeren Jungen wieder nach unten auf den Asphalt der Straße setzte.

„Los, Owen. Wenn man vom Pferd gefallen ist, muss man gleich wieder aufsteigen. Beim nächsten Mal bist du vorsichtiger. Fahr noch eine Runde. Weiter geht’s “, animierte Jay den 5 Jährigen, während Will sichtlich fassungslos mit dem Kopf schüttelte.

„Was ist?“, fragte Jay, aber Will bewegte nur resignierend den Kopf von einer in die andere Richtung.

„Weißt du wie du gerade redest? Wie unser eigener Vater“, brummte Will, weshalb Jay getroffen auf seinen Bruder sah.

„So ein Unsinn. Als ob der Kleine von Selbstmitleid weiter kommt“, verteidigte sich Jay und musste dann doch an seine eigene Kindheit denken. Hatte Will recht gehabt? Schien er wirklich zu grob zu sein?

 

*Flashback, Chicago 29. April 1989*

„Mein Gott, Jay. Wie kann man sich nur so dämlich anstellen“, fluchte Pat Halstead, als er dem 5 jährigen Anschubs gab und dieser nach nur wenigen Metern wieder zum stehen gekommen war.

„Verdammt, was ist so schwer daran, sich auf dieses Fahrrad zu setzen, die Balance zu halten und einfach zu fahren? Was bist du für ein Weichei?“, tadelte der Familienvater seinen Sohn, der jetzt kleinlaut zu Boden sah und ein bisschen mit den Tränen kämpfte.

„Als ich noch die Stützräder hatte, war das irgendwie besser“, verteidigte sich der Kleine leise, kassierte aber nur vorwurfsvolle Blicke von seinem Vater.

„Die Stützräder gibt’s nicht mehr. Wer bald in die Schule kommen will, muss auch Rad fahren können. Es ist ja nicht so, dass du das nicht kannst. Du willst es einfach nicht. Du hast keine Lust darauf“, deutete Patrick auf seinen Schädel, was die Angst bei dem Jüngsten nicht kleiner machte.

„Als Will in deinem Alter war, hat er das schon längst gelernt. Dein Bruder konnte schon mit 4 Rad fahren.“
Missmutig schaute Jay zu seinem älteren Bruder, der ihm ein aufmunterndes Lächeln zuwarf. Verdammt, warum konnte der immer alles besser, während er von seinem Vater wie der letzte Idiot hingestellt wurde?

Frustriert sah Jay an seinem BMX Rad hinunter. Mittlerweile hasste er das Teil.

„Also ein letztes Mal. Danach könnt ihr hier machen was ihr wollt. Mein Baseballspiel fängt gleich an und ich will in Ruhe meinen Feierabend ausklingen lassen“, spielte Pat auf das Fernsehprogramm an. Die Jungs wussten, was das bedeutete. Den Feierabend ausklingen zu lassen, hieß bei ihrem Vater halb betrunken vor dem Fernseher zu sitzen und stundenlang Baseball zu schauen, bis ihre Mutter vom Einkauf nach Hause kam und es Abendessen gab.

„Wenn du das nicht kapierst oder nicht lernen willst, dann musst du eben dumm bleiben“, brummte Pat Halstead spöttisch und setzte Jay etwas unsanft auf das Rad. Ein letztes Mal trat der Kleine in die Pedale, um von seinem Vater Anschwung zu bekommen, ehe er einige Meter fuhr, schließlich nicht mehr trat, langsamer wurde und dann vor Angst abbremste.

Ein Vorgang, der den Familienvater endgültig zum toben brachte.

„Jetzt reicht’s mir hin. Ich hab die Nase voll von dir. Du wirst es nie lernen. Bei dir sind Hopfen und Malz verloren“, fluchte der Ältere sichtlich aufgebracht, ehe er mit laut schlagender Tür in das Innere des Hauses.

Jay, der sich mittlerweile wie der größte Versager des Jahrhunderts fühlte, ließ lustlos die Schultern hängen. Seine Lippen zitterten und dann begann er lautlos zu weinen.

Lange war er aber nicht allein, denn kurz darauf boxte ihm jemand freundschaftlich gegen den Arm. Es war Will.

„Hey, ich bin doch auch noch da. Ich hab das auch irgendwann gelernt“, versuchte der Erstklässler seinen Bruder zu trösten, der ihn aus verheulten Augen ansah.

„Du brauchst einfach Zeit. Entspann dich mal. Stell dir einfach vor, die Stützräder wären noch dran und dann fährst du einfach los. Versuch das mal. In deinem Kopf musst du einfach denken, das es geht.“

„Wirklich?“

„Komm, wir probieren das einfach aus. Ich geb dir Anschubs und du versuchst ganz langsam loszufahren.

„Und wenn ich hin falle?“
Will deutete auf Jays Kopf.

„Dann stehst du einfach wieder auf und versuchst es wieder. Außerdem hast du deinen Helm.“
Will seufzte, ehe er selbstsicher mit dem Kopf nickte. So langsam verstand er das Problem.

„Du hast Angst, oder?“
Jay sagte nichts, ehe seine Miene schuldbewusst auf den Lenker vor ihm glitt. Schließlich sah er seinem Bruder aber doch in die Augen, nickte schuldbewusst.

„Mama sagt, seine Angst bekämpft man nur, in dem man sich ihr ausliefert.“

„Echt?“

„Ja. Komm, wir machen das jetzt“, versuchte Will seinen kleinen Bruder zu animieren, der skeptisch die Zähne zusammen biss. Nach langem hin und her stieg er doch wieder auf sein Rad, trat vorsichtig in die Pedale, während Will ihm von hinten Anstoß gab.

Jay schloss die Augen, während er sich innerlich die Stützräder vorstellte, begann er immer schneller zu treten.

„Will, du kannst jetzt los lassen“, brüllte er seinem großen Bruder entgegen, stets der Überzeugung, dass der Ältere noch immer hinter ihm war.

Leider machte er einen fatalen Fehler und ließ die Augen zu lange geschlossen.

„Will?“

Jay drehte sich um, aber da war niemand mehr.
Panik brach in ihm aus. Schnell wandte er sich wieder nach vorne um. Das Fahrrad war mittlerweile zu schnell geworden, fuhr in rasantem Tempo den Hang hinterm Haus hinab.

„Jay! Du musst anhalten!“, hörte er seinen Bruder aus erhöhter Entfernung rufen, doch zu diesem Zeitpunkt war der Vorschüler bereits viel zu schnell geworden.

„Halt an!“
Der 5 Jährige versuchte zu bremsen, begann über dem Rasen zu schwanken und verlor die Kontrolle, ehe er mit einem lauten Schrei mit dem Autoanhänger seines Vaters kollidierte.
Ein lautes Geräusch erfüllte die Stille des Abends.

Dann ein lautes Weinen, samt hilflosen Kinderschreien, ehe die panischen Rufe des deutlich älteren Bruders ertönten.

„Mom? Dad? Ich glaube wir müssen schon wieder zum nähen ins Krankenhaus.“

_______________________________________

 

Schimpfend lenkte Pat Halstead den alten Sedan über die Interstate, während sie auf dem Weg ins Krankenhaus waren.

„Verfluchter Bengel. Warum kannst du nicht einmal auf mich hören?“, schrie Parick aufgebracht, während Will, der neben seinem Bruder auf der Rückbank Platz genommen hatte, mitleidige Blicke auf Jay warf.

„Wenn wir zu Hause sind, versohle ich dir den Hintern. Der ganze Anhänger ist ruiniert.“
Der Anhänger. Natürlich schien dieser viel wichtiger als der Junge selbst zu sein.
In der Notaufnahme angekommen, wurde der kleine Jay schon von einigen Schwestern erkannt. Mittlerweile waren sie zum zweiten Mal dieses Jahres hier und der 5 Jährige dachte noch mit Schrecken an den letzten Krankenhausbesuch.

Jay hatte eine Platzwunde am Kopf, die mit Sicherheit genäht werden mussten, aber das ahnte der Vorschüler zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Pat Halstead, dem die Sache mittlerweile sichtlich unangenehm schien, begab sich nur widerwillig in den Behandlungsraum.

Während Will anständig im Wartebereich vor der Notaufnahme hockte und sich begeistert das Modell eines Skeletts besah, wurden Vater und Sohn nach drinnen gebeten.

Jay, dem die ganze Atmosphäre zuwider war, musste sich mächtig zusammen reißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Nur die scharfen Blicke des Vaters sorgten dafür, dass er seine Emotionen unterschluckte und noch einigermaßen unter Kontrolle halten konnte.

So lange, bis der Arzt verkündete, dass die Wunde zu tief war und chirurgisch behandelt werden musste. Ab da schien es völlig vorbei zu sein.

In einem unachtsamen Moment versuchte Jay zur Tür zu rennen und aus dem Raum zu flüchten, aber Pat hatte es längst gemerkt und holte den Jungen ein. Unsanft schnappte er ihn am Bauch, ehe er sich mit seinem Sohn auf einen Stuhl setzte und grob nach seinem Kopf packte, den er gegen seine Schulter drückte.

Jay weinte und schrie, als sich die Betäubungsspritze in seine Haut bohrte, damit die Wunde von Nadel und Faden ordnungsgemäß zusammen geflickt wurde. Der kleine Junge schluchzte, wollte sich aus dem Griff befreien, aber Pat hielt ihn fest.
Kein tröstendes Wort, keine beruhigenden Sätze.
Pat sagte nichts. Er hielt ihn nur fest umklammert, während die Schwestern samt Arzt ihre Aufgabe erledigten.

Jay war mittlerweile heiser vom weinen. Längst hatte er jegliche Gegenwehr aufgegeben. Er schluchzte nur leise, schien sich stumm seinem Schicksal zu fügen.
Als er zum Abschluss eine Tetanusspritze bekommen sollte, ließ ihn Patrick komplett allein.
Er legte ihn auf die Liege, ehe er komplett den Raum verlies.

Und im Gegensatz zu eben war es nicht nur der Schmerz, der Jay heftig weinen ließ. Es war das Gefühl nichts wert zu sein. Keine Emotionen zeigen zu dürfen. Dass das was er empfand völlig falsch war, dass es einfach nicht sein durfte. Dass er zu schwach war, sich nicht besser zusammen reißen konnte.

Nur durch seinen Bruder schien der 5 Jährige Trost zu erfahren.
Schon kurz als der Arzt die Wunde desinfiziert und die Kanüle aus der Haut gezogen hatte, öffnete sich die Tür und Will steckte den Kopf in den Raum.

Schniefend zog sich Jay die Hose nach oben, bevor er sich auf die Behandlungsliege setzte und die Beine baumeln ließ.

Mittlerweile hatte das Personal den Raum verlassen. Nur die beiden Jungen blieben zurück.

Behutsam holte Will einen kleinen Dino aus der Tasche, den er vorsichtig zu Jay hinüber schob.

„Hier. Der ist für dich. Weil das eben so schlimm war.“

Jay griff nach der Figur. Ein leises Lächeln huschte über sein verweintes Gesicht.

„Danke“, piepste er kaum hörbar, aber Will grinste ihn nur verständnisvoll an…

Chapter 3: back on track

Chapter Text

„Klassentreffen. Na, das kann heiter werden“, grinste Jay, während er mit seinem Bruder bei einem Glas Scotch im Mollys saß.

„War da nicht auch diese Kleine in deinem Jahrgang? Diese Olivia? Da gibt’s doch noch dieses Foto. Vom Sommer 93. Da sitzen wir alle auf unserer Bank im Garten und grinsen in die Kamera. Das muss Mom damals gemacht haben“, war sich Jay sicher, als er einen weiteren Schluck von seinem Getränk nahm.

„Wie auch sonst? Ich hatte dich ja damals ständig an der Backe“, murrte Will und grinste, als er an seine zurückliegende Kindheit denken musste.

„Ich hab dich manchmal dafür gehasst, dass du mich so mies behandelt hast.“

„Du, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich gar nicht erst mitgenommen. Du kannst dich bei Mom bedanken, die ja regelrecht darauf bestanden hat, weil sie arbeiten musste. Einmal wärst du mir ja fast abgesoffen, als ich dich mitschleppen musste.“

Jay grinste amüsiert, während er gedanklich zu dem Ereignis in seiner Kindheit abschweifte…

 

*Flashback, 12. Juli 1993*

 

„Boah, Mom. Muss Jay wirklich mitkommen? Ich will mich am Strand mit meinen Freunden treffen. Da stört der nur“, jammerte der 12 jährige Will, der mit seinem kleinen Bruder gerade am Frühstückstisch saß und widerwillig seine Cornflakes verdrückte.

Es war ein sonniger Tag in den Sommerferien. Cheryl Halstead bereitete sich gerade auf ihre Arbeit vor und machte den Abwasch. Ihr Mann hatte bereits den Weg zur Arbeit angetreten und war nicht mehr im Haus.

„William, keine Widerrede. Ich möchte davon jetzt nichts mehr hören. Du wirst auf deinen kleinen Bruder aufpassen. Haben wir uns da verstanden? Entweder nimmst du Jay mit zu deiner Verabredung oder ihr bleibt beide hier. Ende der Diskussion. Dein Bruder ist erst 9. Er kann nicht den ganzen Tag alleine zu Hause bleiben.“

Spitzbübisch steckte Jay dem Älteren die Zunge heraus, ehe er ihm hasserfüllte Blicke entgegen warf. Dass der Große ihn nicht dabei haben wollte, konnte der 9 Jährige überhaupt nicht verstehen.
Will, sichtlich genervt über die Entscheidung seiner Mutter, wusste hingegen sehr gut, warum er seinen Bruder nicht dabei haben wollte.
Das Ziel seines Ausflugs hatte haselnussbraune Augen, dunkles Haar samt einem engelhaften Gesicht und hörte auf den Namen Olivia Johnson.
Obgleich Will das niemals zugeben würde, waren da die ersten Gefühle. Zum ersten Mal schien er sich für ein Mädchen zu interessieren. Auch wenn das seinen kleinen Bruder keineswegs tangierte.
Der Drittklässler war weit davon entfernt erstmals verliebt zu sein. Stattdessen liebte er es stundenlang Rad zu fahren, Baseball zu spielen oder Hindernisse für seine Powerrangersfiguren ins Leben zu rufen.
Nur widerwillig nahm Will den Jüngeren an diesem Tag mit auf den gemeinsamen Ausflug.

Nachdem sich Cheryl Halstead auf den Weg ins Büro begeben hatte, brachen auch die Jungs auf.
Genauer gesagt fuhr Will mit seinem Fahrrad voran, während ihm Jay, der kaum hinterher kam, im schnellen Tempo folgte. Innerlich hoffte der Ältere stets, er würde den Kleineren doch noch abhängen, aber Jay war zäh und ziemlich sportlich, schien sich so leicht nicht unterkriegen zu lassen.

Nach einer Weile erreichten sie schließlich den Park, der zum Strand führte.

Will hatte sich dort mit seinen Freunden verabredet. Unter anderem auch mit der Gleichaltrigen Olivia. Er empfand mehr für sie, hätte alles darum gegeben, mit ihr zusammen zu sein. Und natürlich waren diese Ambitionen auch nicht spurlos an dem 9 jährigen Jay vorbei gegangen.

Doch ab der Ankunft am Badesee hatte Will nur noch Augen für Olivia und natürlich für seine Freunde.
Jay fühlte sich eher wie das fünfte Rad am Wagen. Eine Tatsache, die den Kleinen schnell dazu animierte sich immer wieder Gehör zu verschaffen. Jay buhlte um Aufmerksamkeit. Er wollte auch dazu gehören, konnte kaum verstehen was daran spannend war stundenlang im Sand zu liegen und Musik zu hören.

„Mir ist langweilig. Wann kann ich endlich ins Wasser“, murrte Jay, während er genervt seine bisher gebaute Sandburg kaputt machte. Sandspiele waren doof und öde. Aber noch doofer waren Wills Freunde. Die rauchten heimlich, obwohl Jay wusste, dass sie das noch gar nicht durften.
Seitdem sich Will mit Chad und Garry traf, machte er ohnehin ganz fragwürdige Sachen.

„Wenn ich jetzt nicht baden gehen kann, sage ich Mom, dass du heimlich geraucht hast“, beschwerte sich der Kleine, keineswegs begeisterte Blicke von den Sechstklässlern erhaltend. Sofort wurde der Grundschüler vorwurfsvoll taxiert.

„Das wirst du ganz sicher nicht machen“, drohte Will und sah den Kleineren herausfordernd an.

„Wetten doch?“, konterte Jay und wollte Will mit Sand bewerfen, verfehlte aber die Bahn. Die älteren Jungs lachten nur. Auch Olivia, die neben Will auf einem Handtuch lag, grinste nur amüsiert.

„Man, Will. Nun lass doch den kleinen Stinker. Dann geht er uns wenigstens nicht hier auf die Nerven“, ergriff Gary stattdessen für Jay Partei und sah vielsagend in seine Richtung.

„Ich bin kein Stinker“, motzte Jay, aber der blondhaarige Junge grinste nur.
Jay, der aufgrund seiner kindlichen Naivität gar nicht kapierte, warum der ältere Junge unbedingt darauf drängte, dass er baden gehen konnte, schien dagegen sichtlich begeistert zu sein. Er wollte endlich ins Wasser. Er hatte es satt hier draußen zu sitzen, zum hundertsten Mal die Rolling Stones aus dem Kassettenrekorder dudeln zu hören und den ganzen Qualm einzuatmen, den die Jungs gierig inhalierten.

„Ich weiß nicht. Meine Mutter macht dann immer Theater.“

„Die ist doch jetzt aber gar nicht hier. Deine Alte ist weit weg. Komm, lass den Kleinen. Gib dir einen Ruck. Was kann schon passieren. Wir passen von hier oben auf aus.“
Will, der bisher immer noch mit sich gehadert hatte, bewegte schließlich den Kopf nach vorn, weil er sich breit schlagen ließ.

„Schön, also gut. Dann geh eben. Aber sieh zu, dass dir nichts passiert“, waren Wills letzte Worte, ehe sich Jay jauchzend in Bewegung setzte.

Eigentlich konnte der 9 Jährige noch gar nicht richtig schwimmen. Zugegeben, bis zur ersten Schwimmstufe hatte es schon gereicht, aber nach hundert Metern ging Jay meist die Puste aus. Und das lag nicht an seiner mangelnden Kondition. An sich war der Kleine sehr sportlich. Die Ursache lag viel eher darin, dass seine Eltern nie Zeit hatten sich mit ihm zu beschäftigen. Im Schulsport war Schwimmen nicht so häufig Thema du Cheryl und Patrick waren mit ihm kaum zum Badesee gefahren.

Dennoch, an diesem sonnigen Tag im Juli war das egal.
Hauptsache er konnte ins Wasser.

Am Rand war das Gewässer noch flach. Jay suchte nach Muscheln, nach Steinen. Das konnte er stundenlang. Er wurde nicht müde davon, die Schönsten in seine Sammlung aufzunehmen. Er packte sie in den Sand, ehe er sich weiter hinaus traute. Der See war flach. Es ging nur langsam tief in das Gewässer hinein.
Jay lief immer weiter, gewann mehr Selbstvertrauen, je tiefer es hinein ging. Irgendwann konnte er nicht mehr stehen. Aber das war ihm gleichgültig.
Dass der See an einigen Stellen reißende Strömungen hatte, ahnte der kleine Junge noch nicht.
Er hatte sichtlichen Spaß zu schwimmen. Dass das so gut klappte, animierte ihn nur noch mehr, sich noch tiefer in das Gewässer hinaus zu begeben.
Mit verheerenden Folgen. Irgendwann merkte Jay, dass die Strömung zugenommen hatte. Er versuchte dagegen an zu paddeln, doch ohne es zu wollen wurde er weiter auf den See hinaus getrieben. Eigentlich wollte er längst zurück schwimmen, hatte sich bereits wieder dem Ufer genährt.
Doch irgendwie ging das plötzlich nicht mehr. Die Strömung war heftig und statt weiterhin dagegen anzugehen, merkte er allmählich wie ihm die Kräfte ausgingen.

Er bekam Panik, begann hektisch mit den Armen zu rudern. Er starrte in Richtung Ufer, sah aus weiter Entfernung wie Will und seine Freunde immer noch im Sand saßen und die nächste Zigarette rauchten.
Immer wieder ruderte er aufgebracht mit den Armen. Zwar kam er dem Ufer etwas näher, aber die Störmung schien immer noch zu stark, spülte ihn regelrecht in die Mitte des Sees hinaus.
Jay merkte, wie seine Kräfte schwanden. Das Adrenalin jagte ihm heftig durch den Körper, während immer wieder Wasser in seine Lungen kam.
Er musste husten, was die Panik nur zunehmend antrieb.
Hektisch versuchte er mit den Armen und Beinen zu plantschen, doch es war vergeblich. Die Strömung war zu stark. Er hatte kaum eine Chance.
Erst als er spürte, wie er fast das Bewusstsein verlor, merkte er im letzten Moment wie sich zwei starke Arme um ihn legten und ihn an sich rissen.
Dann packten ihn zwei weitere Hände, die ihn zunehmend aus der Strömung entfernten.

Jays Panik endete in einem weiteren Hustenanfall. Wie aus weiter Entfernung bekam er mit, dass man ihn in Richtung Ufer brachte. Nur langsam lichtete sich der Nebel. Für einen kurzen Augenblick war er sich sicher, fast das Bewusstsein verloren zu haben.
Verängstigt und weinend sah er schließlich in das Gesicht seines Bruders und eines anderen jungen Mannes, der Will offenbar bei der Rettung geholfen hatte.

„Bist du okay? Alles in Ordnung?“, fragte der Typ mit einem Haarschnitt, der ein bisschen an Leonardo DiCaprio erinnerte.

Jay ließ sich erschöpft auf den Sand am Ufer fallen, während er prustend das Wasser ausspuckte, das er bisher geschluckt hatte.

Der 9 Jährige nickte, während sich das Flimmern vor seinen Augen allmählich wieder regulierte. Sein Körper war noch immer erfüllt von Adrenalin. Sein Herz hämmerte heftig gegen die Brust.

„Bist du sein Bruder?“
Offenbar schien Will zu nicken, was der junge Mann mit einem tadelnden Blick kommentierte.

„Dann solltest du mal besser auf den kleinen Hosenscheißer hier aufpassen. Junge, Junge. Der wäre fast abgesoffen.“
Mit diesen Worten ließ der Mann die Halstead Brüder zurück, schüttelte dann ungläubig mit dem Kopf.
Will, an den der Ärger nun weiter gegeben worden war, sah den Jüngeren vorwurfsvoll an.

„Man, Jay. Ich hab dir extra gesagt, du solltest auf dich aufpassen. Kannst du dich nicht einmal zusammenreißen?“
Der Jüngere, der sich sichtlich unverstanden fühlte, sah seinen großen Bruder verständnislos an. Schwer atmend rang er um Fassung. Verdammt, er wäre fast ertrunken und Will gab ihm die Schuld, statt zu überlegen, ob das nicht in seiner Verantwortung lag?

Jay sagte nichts, drehte sich stattdessen mit Tränen in den Augen um und lief völlig entkräftet zu den anderen, die immer noch seelenruhig am Strand lagen.

Hastig griff er nach seinem Handtuch, während ihm Will dicht auf den Fersen war.

„Du bleibst jetzt hier“, hatte er genug und griff den Jüngeren unsanft am Arm, der sich sofort losriss und den Älteren unerwartet in den Sand stieß. Eine Geste, mit der der Rothaarige nicht gerechnet hatte.

„Lass mich los.“

„Jay, jetzt lass den Mist. Du kommst sofort hier her!“, brüllte Will, aber Jay, immer noch sichtlich angeschlagen lief stattdessen schnurstracks auf den gegenüberliegenden Teil des Strandes zu.

„Nun lass den Kleinen doch. Wenn er lieber da unten sitzen will, ist das doch sein Ding. Hauptsache wir haben hier unsere Ruhe“, kam es jetzt von Olivia, die Will vielsagend die Hand auf den Arm legte.
Will, erschrocken von der Geste und zeitgleich euphorisch darüber, dass seine heimliche Flamme zu derartigen Liebkosungen übergegangen war, ließ sich das schließlich nicht zwei Mal sagen. Auch wenn ihn innerlich das schlechte Gewissen packte. In diesem Moment war die Zuneigung zu Olivia einfach stärker, als jegliche Verantwortungspflicht…

_______________________

 

In der Zwischenzeit saß Jay im Sand, den Kopf auf die Hände gestützt und heulte bitterlich.
Noch immer steckte ihm der Schock in den Knochen. Um ein Haar wäre er ertrunken.
Sein Körper erholte sich nur langsam von den Strapazen.
Doch es war nicht nur das. Auf eine gewisse Weise fühlte er sich auch verletzt und ungeliebt. Will war sein großer Bruder. Er hätte auf ihn aufpassen müssen. Seine Mom hatte das extra festgelegt. Stattdessen schien Jay dem Älteren völlig gleichgültig zu sein.
In diesem Moment hasste er Will dafür. Seitdem er mit diesen neuen Jungs aus seiner Klasse abhing, hatte er sich so sehr verändert.
Für einen Bruchteil von Sekunden schien der kleine Jay auch ein bisschen eifersüchtig zu sein. Er konnte nicht verstehen, dass Will nur noch Augen für dieses Mädchen hatte.

Nachdem er sich ein bisschen beruhigt hatte und seine Badehose von der Sonne getrocknet worden war, schnappte er nach seinen Sachen und lief zum nebenstehenden Waldstück. Er holte sein Taschenmesser hervor, das ihm seine Eltern zum neunten Geburtstag geschenkt hatten, während er parallel dazu nach Stöcken Ausschau hielt.
Seine Powerrangerfiguren sollten ein neues Haus bekommen und dafür brauchte er Material.

Im Gegensatz zum See schienen hier draußen weniger Gefahren auf Jay zu lauern.
Das wusste zumindest der Grundschüler. Nur Will ahnte davon nichts.
Im Gegensatz zu seinem Bruder, der nichts ahnend etliche Meter weiter entfernt und eng umschlungen mit seiner Freundin Olivia im Sand saß und Händchen hielt. Wie wichtig ihm sein Bruder wirklich war, sollte er nur bald auf sehr schmerzhafte Art und Weise begreifen…

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Die Stunden vergingen. Die 12 Jährigen hatten ihren sichtlichen Spaß.
Nachdem Olivia Will zum ersten Mal geküsst hatte, schwebte dieser auf Wolke sieben.
Alles andere um ihn herum wäre längst vergessen, wäre nicht sein Freund Gary, der ihn schließlich auf ein ziemlich weitreichendes Problem aufmerksam machte.

„Alter, wo ist eigentlich dein Bruder hin? Ich hab den hier schon ewig nicht mehr gesehen.“
Jay! Mit einem Mal löste sich der rothaarige Junge abrupt von seiner neuen Freundin.
Will jagte ein Schauer über den Rücken. Für einen kurzen Moment wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Mit weit aufgerissenen Augen suchte er die nahestehende Umgebung ab. Doch da war niemand!
Panik ergriff ihn, ehe spürbare Hektik in seinen Körper kam. Unsanft löste er sich von Olivia. Verdammt, er musste ihn finden.

Die Wellen auf dem See waren ruhig geworden. Die vereinzelten Badegäste waren offenbar gegangen und hatten sich auf den Weg nach Hause gemacht.

„Leute, ihr müsst mir helfen. Meine Eltern bringen mich um, wenn ich ohne Jay nach Hause komme“, war sich Will sicher, doch statt einer Hilfe sahen ihn seine Freundin nur ungläubig an.

„Tut mir leid, aber ich muss jetzt auch los. Um 17 Uhr soll ich zu Hause sein“, packte Olivia jetzt zu seiner Empörung ebenfalls ihr Handtuch zusammen. Gary, der bisher immer die große Klappe gehabt hatte, tat es ihr gleich.
Fassungslos von so wenig Hilfe schüttelte Will mit dem Kopf. Tolle Freunde, die ihn jetzt im Stich ließen. Doch das sagte er nicht. Er wollte Olivia keinen Korb geben.

Nur Chad erklärte sich dazu bereit, Will bei der Suche zu unterstützen.

„Wo ist er eigentlich zuletzt gewesen?“, fragte der Sechstklässler, was den rothaarigen Jungen schwer schlucken ließ. Erst jetzt schien Will zu begreifen, dass er gar nicht so genau wusste, wohin Jay gegangen war, weil er nur andere Dinge im Kopf gehabt hatte.

Immer wieder sah er innerlich das Bild seiner Eltern vor Augen. Sie würden ihn um einen Kopf kürzer machen, wenn er ohne Jay nach Hause kam.
Und gleichzeitig war da auch noch die eigene innere Angst nicht aufgepasst und als großer Bruder versagt zu haben.

„Jay!!! Jay, wo bist du?“, schallten die Stimmen der Jungs durch die weitläufige Gegend. Aber nichts. Jay war wie vom Erdboden verschluckt.

„Was ist, wenn er ertrunken ist?“, sprach Will panisch an seinen guten Freund gewandt, aber der verneinte entschlossen.

„Nicht nach der Aktion von heute morgen. Der macht doch nicht zwei Mal den gleichen Fehler.“
Aber Will war sich da nicht so sicher.

Was Jay anging hatte er manchmal schon einige Überraschungen erlebt.
Nach einer weiteren Stunde hatten sie es schließlich aufgegeben und die Suche eingestellt. Der 9 jährige Junge war unauffindbar.

Mit einem ziemlich fetten Kloß im Hals schob Will schließlich sein Rad nach Hause und verabschiedete sich von einem seiner besten Freunde.
Immer wieder bildeten sich Tränen in seinen Augenwinkeln. Warum hatte er nicht besser auf den Kleinen aufgepasst? Was, wenn Jay doch im See ertrunken war? Wenn ihn jemand entführt hatte? Die Horrorszenarien in

Wills Kopf wollten nicht abreißen.

Zum Glück war sein Vater an diesem Nachmittag zum Kartenspielen bei einem guten Freund eingeladen. Ansonsten hätte Will mit Sicherheit Bekanntschaft mit seinem Gürtel gemacht.
Stattdessen war nur seine Mutter zu Hause und die begriff sehr schnell was passiert war, als Will plötzlich sein Fahrrad schiebend und mit hängenden Schultern allein und ohne seinen kleineren Bruder vor ihr stand.

„Mom“, flüsterte er mit zitternder Stimme und sah seine Mutter unter Tränen an.

„Ich hab Jay verloren. Ich weiß nicht, wo er ist. Wir saßen am Strand und auf einmal war er nicht mehr da.“

Dass der Jüngere am Morgen fast ertrunken wäre, verschwieg er ihr.
Entsetzt sah Cheryl Halstead ihren ältesten Sohn an.
Nur kurz nachdem Will die entscheidenden Worte über die Lippen gebracht hatte, kam Bewegung in ihren Körper.

Mit strenger Miene bewegte sie sich nach unten, sah ihren Ältesten wütend und voller Entsetzen an.

„Wie? Was heißt hier, du hast Jay verloren? Soll das jetzt ein Scherz sein?“
Aber der 12 Jährige weinte nur.

„Ich weiß nicht wo er ist. Er war auf einmal nicht mehr da“, schluchzte der Sechstklässler.

„William, du solltest auf deinen Bruder aufpassen. Was ist daran so schwer zu verstehen?“, herrschte ihn die Mittvierzigerin an.
Die zweifache Mutter begann sofort zu handeln.

Unsanft packte sie Will an der Schulter, zog ihn zum alten Wagen, den die Familie seit Jahren fuhr, ehe sie die Schlüssel vom Hakenbrett holte.

„Sei froh, dass dein Vater nicht hier ist. Der hätte dir den Hintern grün und blau geschlagen“, war ihr einziger Kommentar, ehe sie den Motor starrte und mit ihrem nun heulenden Sohn zum Stadtrand in Richtung des Sees fuhr.

„Wo ist Jay zuletzt gewesen?“
Eine Frage, die Will nicht beantworten konnte.

„Beim See. Irgendwo in der Nähe.“

„Irgendwo in der Nähe?“, wiederholte sie ungläubig, über so viel Achtlosigkeit.
Cheryl seufzte. Das konnte alles nicht wahr sein. Sie hatte ihrem ältesten Sohn vertraut. Bisher hatte er immer gut auf den Kleinen aufgepasst.

Aber Vorhaltungen brachten niemand weiter und am wenigsten brachten sie Jay wieder zurück.
Nachdem sie hastig den Wagen abgestellt hatte, stolperte Will hinter seiner Mutter her.
Noch einmal suchten sie am See, in den naheliegenden Dünen und am Strand. Doch nichts. Jay war wie vom Erdboden verschluckt.

Cheryl wusste, dass Kinder meist leise ertranken. Sich innerlich die schlimmsten Vorhaltungen machend, wollte sie bereits aufgeben, als sie das kleine Waldstück betreten hatte und ein leises Rascheln vernahm.

„Jay?“, rief sie leise.
Es raschelte wieder. Vielleicht ein wildes Tier?
Sie folgte den Geräuschen, lief über den kleinen Trampelpfad, ehe sie schließlich in ein vertrautes Gesicht blickte. Erleichtert atmete sie auf, als sie in die verschlafenen Augen ihres jüngsten Sohnes blickte, der sich nun rekelte und sie müde ansah.

Allem Anschein nach musste er von der Erschöpfung des Tages beim Spielen eingeschlafen sein, denn vor ihm lag das Taschenmesser und daneben die kleine Schnitzerei für seine Powerrangers.

„Mom?“, wisperte der Kleine mit schläfriger Stimme und gähnte unschuldig.

„Ach, Jay.“
Cheryl lief zu ihm, nahm ihn sofort in den Arm und drückte ihn fest an sich, während sie die Tränen runter schluckte. Jay, der gar nicht wusste wie ihm geschah, sah seine Mutter unschuldig an.

Sie überhäufte den Kleineren mit Küssen. So erleichtert schien sie darüber, dass ihm nichts passiert war.

„Kein Wort zu Dad. Und das passiert nie wieder, Will. Hast du das verstanden? Ab jetzt wirst du gut auf deinen Bruder aufpassen. Genau wie sich das gehört“, mahnte sie den Älteren lautstark, der vor Erleichterung heulte und viel sagende Blicke auf Jay warf.

„Und du kannst nicht einfach wegrennen, Jay. Wir dachten wirklich du wärst ertrunken. Wir haben überall nach dir gesucht. Wir hätten fast die Polizei verständigt“, hielt sie dem Grundschüler lautstark vor.

Der 9 Jährige, der nun verstand, warum sich alle so viel Sorgen gemacht hatten sah mit ernster Miene auf den Älteren.
Schließlich gab sich William doch einen Ruck, bewegte sich zu seiner Mutter, die Jay mittlerweile los gelassen hatte und riss den Jüngeren in eine schnelle Umarmung.

„Mach das nie wieder. Lauf nie wieder weg“, hörte Jay den Älteren sagen, der ihn fest an sich drückte…

Chapter Text

„Und? Was hat sie gesagt?“

Besorgt sah Jay auf seine Frau, die unschlüssig mit den Schultern zuckte, ehe sie ihre Jacke aus seinem Arm entgegen nahm.
Noch am gleichen Morgen waren sie ins Gaffneys gefahren. Hailey hatte die ganze Nacht über unklare Bauchschmerzen geklagt, denen sie noch am gleichen Morgen auf den Grund gehen wollte.
Es war ein Samstag. Zum Glück mussten sie an diesem Tag nicht zur Arbeit erscheinen.

„Es könnte eine Blinddarmreizung sein. Nichts Ernstes“, versuchte die Polizistin das Gesagte zu überspielen, während sie die Notaufnahme des Meds verließen.

Jay, der mit Schrecken an eigene Erfahrungen dieser Erkrankungen dachte, sah seine Frau mit geschockten Blicken an.

„Nichts Ernstes?“, wiederholte er ungläubig.

„Der kann auch platzen.“

„Ich muss morgen noch einmal hier her. Dann macht Natalie einen zweiten Ultraschall und nimmt wieder Blut ab.“
Eher weniger begeistert sah Jay seine Partnerin an.

„Hattest du das schon einmal? Ich frage nur, weil du so heftig reagierst?“, wollte Upton wissen, aber Jay winkte sogleich ab.

„Fang mir bloß nicht damit an“, war sich Jay sicher.

Das Krankheitsbild weckte bei ihm keinesfalls gute Erinnerungen. Und dafür sollte es gute Gründe geben…

 

*Flashback, 20. August , 1990*

Lustlos trottete Jay die Treppenstufen nach unten.
Der 6 Jährige hatte schlecht geschlafen. Sein Bauch tat weh und er fühlte sich alles andere als gut.

„Du bist ja immer noch nicht angezogen. Wir wollen in einer halben Stunde los fahren. Schon vergessen? Ihr wolltet mir heute Vormittag bei der Arbeit helfen“, spielte Pat Halstead auf seinen Job am Hafen an. Es war Freitag. Die Jungs befanden sich mitten in den Ferien und hatten sich dazu verpflichtet ihrem Vater beim sortieren der Schrauben und des Werkzeugs zu helfen. Der Chef war im Urlaub, sodass Jay und Will dem Familienvater bei seinem Job als Hafenarbeiter über die Schulter schauen konnten.

„Keine faulen Ausreden. Zieh dich um, danach wird gefrühstückt und dann brechen wir auf“, verlangte Pat Halstead seinem Sohn ab.

Unglücklich kehrte Jay auf dem Treppenabsatz um, lief dann wieder in sein Zimmr. Der Schmerz erfüllte seinen gesamten Magenbereich, zog bereits gespenstisch in die rechte Seite des Unterbauchs.

Mürrisch zog er sich die kurze Hose und das T Shirt über. Eigentlich wäre er am liebsten zu Hause geblieben, aber er wollte seinen Vater unter keinen Umständen enttäuschen.

Mittlerweile war ihm leicht übel geworden. Eine Tatsache, die er so gut es ging zu verdrängen schien.
Seine Mutter hätte ihn in diesem Zustand niemals mitfahren lassen. Aber die war bereits auf Arbeit und damit längst unterwegs.

Statt den Worten seines Vaters nachzukommen, versenkte Jay sein Sandwich heimlich in der Mülltonne vor dem Haus. Er hatte keinen Hunger. Übelkeit und Schmerzen erfüllten ihn. Die Krämpfe in seinem Bauch schienen immer stärker zu werden.

Gemeinsam fuhren sie schließlich an den Hafen, wo sein Vater als Mitarbeiter tätig war.
Will redete die ganze Fahrt über, tauschte sich mit seinem Dad emsig über die neusten Automarken und Flugzeuge aus, während Jay ganz still geworden war und nur schmerzverzerrt aus dem Autofenster schaute.
Pat Halstead, wie immer sehr auf sich selbst bezogen, fiel der Zustand seines Sohnes zunächst gar nicht auf.

Nicht als Jay sich während dem Sortieren des Werkzeugs mehrfach auf die Toilette zurück zog und sich übergab und auch nicht, als sich der Junge bleich und schmerzverzerrt gegen die Wand lehnte, später regelrecht zusammengekauert hatte.
Es war der Kollege seines Vaters, dem der schlechte Zustand des 6 Jährigen schließlich aufgefallen war.

„Pat, ich glaube dein Junge ist krank. Der hat sich mehrfach übergeben. Vielleicht sollte er besser nach Hause fahren.“

Wenig begeistert schaute Patrick schließlich von seiner Arbeit auf, blickte mürrisch auf seinen Sohn, der nun leichenblass hinter seinem Kollegen zum Vorschein kam und sich den Bauch hielt.

„Was ist denn los? Hast du heute Morgen nicht ausreichend gefrühstückt?“
Aber Jay schüttelte mit dem Kopf.

„Daran liegt es nicht“, schaffte er es gerade noch zu sagen, ehe er schon wieder zur Toilette rennen musste, wo er sich lautstark übergab.

Nach einer Weile tauchte sein Vater hinter ihm auf. Sichtlich genervt, aber auch mit einem Hauch von Sorge trat Pat hinter ihn, reichte Jay ein Taschentuch, mit dem sich der 6 Jährige vorsichtig über den Mund wischte.

„Na, los, komm. Ich fahr dich nach Hause. Vermutlich hast du dir den Magen verdorben“, war sich Pat sicher. Er sammelte Will ein, lief mit Jay zum Wagen, wo er die Brüder zurück fuhr.

Mittlerweile war der frühe Nachmittag angebrochen und auch Cheryl Halstead war von ihrem Teilzeitjob in einem Büro in der Innenstadt zurück nach Hause gekehrt. Die Frau zweier Kinder arbeitete gerade im Garten, als Pat die Jungs vor dem Haus abgesetzt hatte, ehe er zurück zur Arbeit fuhr. Als sie Jay gekrümmt durch den Hauseingang laufen sah, begann sich die zweifache Mutter erstmals Sorgen zu machen.

Sie kannte ihren Sohn. Jay war normalerweise zäh und bis auf einige Verletzungen, die er sich beim Spielen zugezogen hatte, war der Kleine selten krank gewesen. Umso mehr sorgte sie der aktuelle Zustand, den sie nicht von dem Grundschüler kannte.

Als der Junge sich schließlich von ganz allein auf die Couch legte und selbst Will mit verwunderter Miene zu seinem Bruder sah, schien die Mittdreißigerin endgültig davon überzeugt zu sein, dass irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung war.

Kurz entschlossen hatte sie zum Telefon gegriffen und die Nummer des Arztes gewählt.

Glücklicherweise war der Mann noch in der Praxis, um seine Abrechnungen zu erledigen. Cheryl beschrieb ihm die Symptome, woraufhin er eine klare Ansage machte.

Die zweifache Mutter sollte an verschiedenen Stellen Fieber messen. Wenn die Körpertemperatur dann um mehr als einen Grad differierte und die Beschwerden zunahmen, sollte sie sich mit Jay auf den Weg ins Krankenhaus begeben, da dann der Verdacht auf eine Blinddarmentzündung bestand.

Mittlerweile war auch Pat von der Arbeit zurückgekommen. Er zog ein verdutztes Gesicht als er Jay in gekrümmter Haltung auf dem Sofa liegen sah.

Erst als Cheryl mit dem Fieberthermometer zur Couch trat, schien wieder ein Hauch von Leben in Jays Körper zu kommen. Der Junge hasste die Prozedur. Das stille Liegen, das unangenehme Gefühl.

Während er die Methode unter der Achsel noch mit Widerwillen tolerierte, schien es bei der rektalen Messung komplett vorbei zu sein.

Nur unter Tränen und der Tatsache, dass sein Vater keine Ausreden duldete, gestatte er die unangenehme Vorgehensweise. Jay wusste, dass sein Dad keinen Spaß verstand, wenn es die Umsetzung von klaren Anweisungen anbelangte und biss daher tapfer die Zähne zusammen, während das Thermometer die Temperatur maß und sein Dad sehr genau aufpasste, dass er auch sitll lag, damit die Bewegung nicht das Resultat verfälschte.
Zu Cheryls Leidwesen war das Ergebnis dementsprechend. Der Wert differierte um die jeweilige Angabe, die der Arzt als besorgniserregend einschätzte.

Anfangs schienen sie noch abzuwarten. Nachdem sich Jay aber immer öfters übergab, vor Schmerzen zu weinen begonnen hatte und kaum noch richtig laufen konnte, realisierten die Eltern, dass es keinen anderen Ausweg gab.
Der Junge musste ins nächstgelegene Krankenhaus. Zumal sein Zustand immer schlechter wurde.
Pat packte den 6 Jährigen auf den Rücksitz, ehe er auf der Fahrerseite Platz nahm. Da Will aufgrund seines Alters noch nicht allein bleiben konnte, steuerte der Familienvater mit Jay allein die Klinik an.

Mit einer Besorgnis, die er normalerweise nur selten zeigte, nahm er den weinenden Kleinen schließlich auf den Arm und trug ihn die letzten Meter in die Notaufnahme.

Da Jay vor Schmerzen die halbe Abteilung zusammen schrie, schienen sie recht zügig an der Reihe zu sein.
Eine Schwester bat Vater und Sohn in das Untersuchungszimmer, wo Pat den wimmernden Kleinen auf die Liege legte.

Erneut wurde an verschiedenen Stellen die Temperatur gemessen. Erneut lagen die Werte über einen Grad auseinander.

Als der Arzt den Untersuchungsbereich betrat, lag Jay mit angewinkelten Beinen auf der Liege, weil er aufgrund der Schmerzen kaum noch vernünftig liegen konnte und diese Position sichtlich entlastete. Behutsam versuchte der Arzt den kleinen Jungen auf den Rücken zu drehen, doch es funktionierte nicht. Jay weinte so heftig, dass er kaum noch ansprechbar war.

Da nützten auch Pats Worte, dass er sich gefälligst zusammen reißen sollte, äußerst wenig.

Die Beine in sitzender Position anzuwinkeln schien aufgrund der Schmerzen mittlerweile kaum noch möglich und als der Arzt auf seinem Bauch herumdrückte und den allseits bekannten MC Burney Punkt berührte, reagierte der Kleine mit derartiger Abwehrspannung, dass es an der Diagnose keine Zweifel gab. Sein lautes Brüllen war noch mehrere Räume entfernt zu hören.

„Ihr Sohn hat eine Blinddarmentzündung. Ein akutes Abdomen. Wir müssen sofort operieren“, waren die allesentscheidenden Worte, die nun auch Pat Halstead die Schweißperlen auf die Stirn trieben.

Jay, der davon alles andere als begeistert schien, begann nun noch heftiger zu weinen. Er wollte nicht operiert werden. Am wenigsten wollte er nur eine Minute länger in diesem Krankenhaus bleiben. Und dennoch, er hatte keine Chance, denn ab jetzt zählte jede Minute und dann ging alles ganz schnell.

Unter lauten Schreien und heftiger Gegenwehr legte die Krankenschwester dem 6 Jährigen einen Zugang. Erst als ihn zwei weitere Schwestern und Patrick samt dem Arzt festhielten, schien er den Arm ruhig zu halten. Ein deutlich unangenehmes Unterfangen, wenn man bedachte, dass der Kleine heftige Schmerzen und Fieber hatte.

Letztendlich wussten sich die Krankenschwestern nicht anders zu helfen. Erst das Beruhigungsmittel schien den kleinen Jungen schließlich gedämpfter werden zu lassen. Im benommenen Zustand wurde er für die Operation umgezogen und auf einer Liege in den Operationsraum gefahren.

Er konnte nicht einmal bis sechs zählen. Nur wenige Minuten später hatte ihn das Narkosemittel übermannt und sein Bewusstsein ausgeschaltet…
Ab hier fiel er in ein bodenloses Nichts…

____________________________

 

Als Jay erwachte, schien er in einem kalten Raum zu sein. Übelkeit erfüllte ihn. Sofort begann er zu würgen, weshalb ihm jemand eine Schale entgegen hielt, in die er sich lautstark übergab.

„Er bekommt die 50 Milligrammdosis Promethazin“, hörte er eine Stimme etwas Medizinisches sagen, konnte es aber kaum verstehen. Eine Schwester half ihm sich wieder in sein Kissen zu legen.

Hände, die streichelten berührten ganz sacht sein Gesicht, während er wie aus weiter Entfernung merkte, dass ihm jemand ein Medikament gab.

Er weinte ein bisschen, sah mit verschwommener Sicht auf die junge Krankenschwester die jetzt vor ihm saß und leise auf ihn einsprach.

„Schhh… Alles ist gut gegangen. Die Operation ist vorbei. Gleich bist du wieder bei deinem Papa.“

Jay wusste nicht woher es kam, aber auf eine gewisse Weise schien ihn die Stimme der Frau zu beruhigen. Mehr bekam er ohnehin nicht mit, denn er war noch sehr schwach, nickte dank des Beruhigungsmittels schnell wieder ein.

Als er beim nächsten Mal wieder die Augen öffnete, fand er sich in einem sterilen Krankenzimmer wieder. Er sah wie Pat an seinem Bett saß. Dieses Mal hielt er seine Hand. Ein seltener Anblick.

Jay lächelte im Halbschlaf. Ein bisschen schien er das Gefühl zu genießen. Normalerweise konnte er es seinem Vater nur schwer recht machen. Emotionen waren nur ungern gesehen. Gefühle unerwünscht.

Umso mehr schien es ihn zu beruhigen, dass er seinem Dad auf eine gewisse Art und Weise doch wichtig schien und nicht egal war.
Wenn er hier saß und sogar seine Hand festhielt, musste Jay für ihn wirklich von Bedeutung sein.
Ganz langsam öffnete der 6 Jährige die Augen, bemerkte wie ihn sein Vater matt anlächelte.

„Hey, mein Kämpfer“

„Hey“, lächelte Jay zurück. Instinktiv wollte er nach dem Zugang an seiner Hand und den Schläuchen an seinem Bauch greifen, aber Patt hielt ihn zurück, schnappt nach seiner Hand.

„Lass das. Das muss dran bleiben“, mahnte er ihn.
Erst jetzt wurde Jay bewusst, wie unangenehm die ganzen Geräte und Schläuche waren.
Je mehr er zu Bewusstsein kam, umso stärker wurden ihm die Schmerzen und die unangenehmen Empfindungen klar.

Eine Tatsache, die ihn leise weinen ließ.

Doch im Gegensatz zum Vortag musste er sich dieses Mal nicht zusammen reißen. Pat Halstead saß einfach nur da, tätschelte seine Hand, strich ihm dann beruhigend über sein Gesicht.

Zum ersten Mal wurden seine Tränen toleriert. Zum ersten Mal hatte Jay das Gefühl, dass er von seinem Vater geliebt wurde.
Er durfte weinen und er wurde aufgrund seiner Emotionen getröstet.
Jay wusste nicht, wie lange sein Vater an seinem Bett gesessen und ihn beruhigt hatte, aber als er das nächste Mal munter wurde, war Pat nicht mehr da.

Nur seine Mutter lächelte ihn aus liebevollen Augen an.

Und doch wusste Jay, dass das kein Traum gewesen war. Auf dem Schrank lag Pats Brieftasche. So, als ob er gerade erst hier gewesen war…

Chapter 5: violence

Chapter Text

„Ein Schlag auf den Hinterkopf hat noch niemandem geschadet, hätte die Generation unserer Eltern früher gesagt“, murmelte Jay gedankenverloren, während er die Dokumente des aktuellen Falls sichtete.
Erst als er aufsah, bemerkte er wie kritisch ihn Hailey taxierte.

„Im Prinzip ist das auch Kindesmisshandlung. Oder wo verläuft deiner Meinung nach die Grenze zwischen einem Ausrutscher und Gewalt?“, merkte die Polizistin an, als sie auf die Ermittlungserkenntnisse starrte, die eindeutig belegten, dass das Opfer vor seinem Ableben eine einmalige Ohrfeige erhalten hatte.

„Gewalt ist Gewalt. Egal ob wir von einem Klaps oder von schweren Misshandlungen reden.“

„Findest du? Macht das nicht einen Unterschied, in welcher Intensität oder in welchem Abstand geschlagen wird?“
Haileys Gesichtszüge verspannten sich.

„Das ist jetzt wohl nicht dein Ernst, oder? Was ist eigentlich mit deinen Eltern?“
Jay wich ihren Blicken aus.

„Hailey, ich weiß, dass dein Vater brutal war, aber ich finde schon, dass es da auch Unterschiede gibt. Wenn ein Mädchen zwei Tage nicht nach Hause kommt und dafür eine Ohrfeige kassiert, ist das eine andere Schwere als wenn ein Säugling grün und blau geschlagen wird.“

Aber Hailey hielt an ihren Worten fest.

„Jay, bitte antworte auf meine Frage. Haben dich deine Eltern geschlagen?“, forderte Upton stattdessen.

Der Detective druckste herum. Für einen kurzen Moment sah er das Gesicht seines Vaters vor sich, während Haileys Frage in den Hintergrund geriet…

Und mit einem Mal war alles wieder da….

 

*Flashback, 12. November, 1995*

 

Jay weinte, während der Gürtel seines Vaters unaufhörlich auf seinen nackten Rücken und das Gesäß knallte. Immer wieder schlug Pat Halstead dem 11 jährigen Jungen auf das nackte Fleisch, während Will fassungslos dabei zusah, wie sein Bruder grün und blau geschlagen wurde.

„Das hier ist für den Schulverweis. Vielleicht lernst du dann endlich, wie man sich ordentlich benimmt und keinen Unsinn baut“, schrie Patrick aufgebracht, während er ein weiteres Mal ausholte und der Ledergürtel mit Jays Hintern kollidierte. Will zuckte bei jedem der Schläge zusammen. Jay litt Höllenqualen, aber der Ältere wusste, wenn er dazwischen ging, würde sich das Leiden nur verlängern. Dann würde er sicher der Nächste sein.

Wie immer hatte sich Cheryl Halstead in den Garten zurückgezogen. Sie konnte nicht ansehen, wie ihr Jüngster gemaßregelt wurde. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie kaum eine Chance hatte, sich bei den Erziehungsmethoden ihres Mannes einzumischen. Wie so oft davor schien sie den Sachverhalt auszublenden. Pat würde schon wissen, was er da tat. Da war sie sich sicher.

Es war nicht häufig zu Vorfällen wie diesem gekommen. Normalerweise benahmen sich die Jungen kaum daneben. Aber wenn es zu Auffälligkeiten kam, legte Patrick Halstead nicht selten Hand an , machte von seinem Gürtel oder anderen Haushaltsgegenständen Gebrauch. So auch an diesem Tag.

„Nie wieder, hast du das verstanden? Du wirst nie wieder eine Schlägerei anzetteln. Für die nächsten 3 Wochen hast du Hausarrest. Der Schulverweis wird dir für die nächsten Tage helfen, ausführlich über die Sache nachzudenken“, brüllte der Mittdreißiger, ehe der Gürtel erneut mit Jays Rücken kollidierte. Mittlerweile schienen die Stellen fast taub zu sein. Überall hatten sich Striemen und blaue Flecke gebildet. Wie stark er mittlerweile schluchzte merkte der 11 Jährige schon selbst gar nicht mehr. Nur die Tränen brannten wie Feuer auf seinen Wangen, denn noch vor dem Gürtel, hatte ihm der Vater mehrere Schläge ins Gesicht verpasst.

Immer wieder schmeckte der Junge Blut, zuckte vor Schmerzen zusammen.
Und hatte doch gleichzeitig die Gewissheit, dass er die Schläge tapfer aushalten musste. Weil ihn Widerworte nicht weiter brachten und nur zu weiteren Aggressionen führten.

Nachdem Pat über eine halbe Stunde auf ihn eingeschlagen hatte, konnte Jay sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er ging auf die Knie, weinte heftig.

Erst als er um Verzeihung flehte, hörte der Vater auf. Aber vielleicht lag es auch daran, dass die Gürtelschnalle mittlerweile verbogen war. Wer wusste das schon?

Mit leisem Wimmern setzte sich Jay nach oben auf. Er konnte kaum noch laufen, merkte wie sein Gesicht anschwoll und sich auf Rücken und Gesäß die ersten Hämatome bildeten.

„Denk daran“, mahnte Pat noch einmal seinen Ältesten.

„Baust du Mist, läuft mit dir das Gleiche ab.“
Will nickte gespielt anständig. Die Drohung hatte gesessen. Sobald der Vater außer Reichweite war, verließ er das Wohnzimmer in Richtung Treppenaufgang.

Jay humpelte bereits die Treppen nach oben. Noch immer heulte er Rotz und Wasser. Erst nachdem er sein Zimmer erreicht hatte, folgte ihm Will kaum hörbar in den oberen Bereich. Es reichten Blicke um sich verständigen zu können. Ganz leise hinkte Jay ins Badezimmer, in das ihm Will nur kurz darauf folgte.

Der Ältere schloss den Raum von innen ab. Nur zu aller Sicherheit, damit der Vater nicht an sie heran kommen konnte.

Schluchzend ließ sich der Kleine auf dem Boden neben der Waschmaschine nieder, versteckte das Gesicht mit den Händen.

Will sagte nichts, sah den Jüngeren nur völlig überfordert an, während er nach Pflastern und Desinfektionsmitteln griff und das erste Hilfe Set aus dem Medizinschrank hervor holte.

Behutsam kniete er sich vor seinen kleinen Bruder, der wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauerte und noch immer schützend seine Hände über den Kopf gelegt hatte. Auch wenn sein Vater ihm längst nichts mehr anhaben konnte, war er in eine spürbare Abwehrhaltung gegangen.

„Jay, hey. Ich bin’s. Es ist vorbei. Er kann dir hier nicht mehr weh tun.“

Jay wimmerte, sah mit geschwollenem Gesicht nach oben auf. Er sah wirklich scheußlich aus.

Ganz vorsichtig besah sich der 13 Jährige das Gesicht, holte dann das Desinfektionsmittel hervor, dass er dem Jüngeren behutsam auf die blutenden Wunden tupfte. Jay zuckte vor Schmerzen zusammen. Will die ersten Pflaster hervor, die er dem Jüngeren auf zwei der Wunden klebte, reichte ihm anschließend das Kühlpack entgegen

„Was ist mit deinem Rücken? Lass mich das ansehen“, sprach der Rothaarige leise, sichtlich betroffen darüber wie heftig sein Vater den kleineren zugerichtet hatte. Jay wimmerte, als er sich sacht nach vorne beugte. Will, deutlich ergriffen von dem Anblick konnte einen leisen Schrei des Entsetzen nicht unterdrücken. Die Hämatome zogen sich vom unteren Teil der Wirbelsäule bis zu zum Gesäß. Tendenz steigend, denn noch waren die Verletzungen recht frisch. An einigen Stellen war die Haut bereits aufgeplatzt. Es blutete deutlich.

„Lehn dich dort vorn über die Badewanne. Ich muss das desinfizieren, damit sich nichts entzündet“,
Jay wimmerte, während Will die Jodtinktur auf die Stellen auftrug. Das Zeug brannte wie Feuer, auch wenn kurz darauf ein erleichternder Effekt einsetzte.

Erschöpft ließ sich der Jüngere schließlich gegen die Kacheln der Badewanne fallen.

„Ich wollte das doch gar nicht“, begann er leise zu sprechen, sah seinen Bruder ängstlich von der Seite an.
Wortlos ließ sich Will neben Jay auf dem Boden nieder, legte ihm beschützend den Arm um die Schultern.

„Erzähl mir in Ruhe was passiert ist“, wies er den Kleineren an, der nun tief Luft holte und unter leisem Schniefen mit der Wahrheit herausrückte.

„Josh Darlington und Pete Heffner sind auf John Sullivan losgegangen. John hat ihnen aber nichts getan. Er wird einfach nur von allen gemobbt.“

Mitleidig sah der rothaarige Junge seinen kleinen Bruder an. Er begriff sofort, worauf es hinaus laufen sollte. Offenbar hatte Jay den Jungen nur verteidigt.

„Das heißt, du hast die Schlägerei gar nicht angezettelt?“
Verneinend schüttelte Jay mit dem Kopf.

„Ich war das nicht. Ich wollte nur, dass sie aufhören ihn zu verprügeln. Er konnte ja nichts dafür.“

„Ach, Jay“, jammerte Will und raufte dem Kleineren behutsam durch die Haare. Als großer Bruder fühlte er immer
ein gewisses Verantwortungsgefühl für den Kleineren. Egal in welchen Lebenslagen sich dieser auch befand.

„Dad hätte das nie verstanden. Deshalb habe ich nichts gesagt“, schniefte er leise zwischen einzelnen Schluchzern.
Immer wieder strich Will dem Kleineren über die Schultern. So lange bis sich Jay wenigstens einigermaßen beruhigt hatte.

„Darf ich heute in deinem Bett schlafen? Ich hab so Angst, dass Dad wiederkommt.“

„Klar, wenn du das möchtest.“
Trotz der Tränen lächelte Jay seinen Bruder an. Die zwei waren ein unschlagbares Team, das niemand brechen konnte.

 

*Flashback ends*

 

„Jay, hast du mich verstanden?“, wedelte Hailey mit der Hand vor Halsteads Gesicht herum.

„Alles in Ordnung mit dir?“
Erschrocken sah Jay seine Partnerin und Kollegin an. Er brauchte einen Moment, um zurück in die Realität zu finden.

Als er sich dann doch orientieren konnte, kam er zu einer folgenreichn Erkenntnis.

„Vielleicht hast du doch recht. Schläge sind Schläge. Das sollte man nicht unterschätzen“, war er sich plötzlich sicher und ließ Hailey mit verdutzten Blicken zurück…

Chapter 6: needles

Chapter Text

„Mein Gott, hast du deine Spritzenphobie immer noch nicht im Griff?“

Etwas genervt sah Will seinen jüngeren Bruder an, der widerwillig sein T Shirt ausgezogen hatte und nun mit nackter Brust vor ihm auf der Untersuchungsliege im Med saß.
Jay zitterte ein bisschen, presste sichtbar die Zähne zusammen.

„Ich denke nicht, dass es in deinem Wirkungskreis als Arzt liegt so mit Patienten zu diskutieren“, zischte er dem Älteren zu und machte gute Miene zu bösem Spiel.

„Als dein Bruder schon. Außerdem bist du einer der Letzten in halb Chicago, der sich jetzt gegen Corona impfen lässt. Bis auf die Coronagegner, aber so hatte ich dich eigentlich nicht eingeschätzt“, hielt Will dem Jüngeren das Widerspiel und haute ihm kumpelhaft gegen die Schulter.

Als Jay nicht lachte und stattdessen finster vor sich hin schaute, ja beinahe heulte, wurde auch Will ernst.
Er seufzte, schnappte nach dem Betäubungsspray, das er zuvor auf den Arm sprühte.
Jay, der das erst später realisierte, zuckte zusammen.

„Ich bin ganz vorsichtig“, sagte Will etwas leiser.

„Eins, zwei.“
Kurz nach der letzten Zahl setzte er die Spritze am Arm an. Jay zuckte kurz zusammen und schloss die Augen.

„Schon geschafft. Die unter 6 Jährigen dürften sich jetzt noch etwas aus unserer Zaubertruhe aussuchen, aber ich denke das lassen wir lieber weg“, grinste der Arzt und erhielt hasserfüllte Blicke als Antwort. Jay riskierte einen kurzen Blick zur Schachtel mit den Injektionskanülen. Wie so oft bei Krankenhausdingen, sollte er damit keine guten Erinnerungen verbinden…

 

*Flashback, Chicago 9. Juli, 1992*

Sie waren in Nordwisconsin angekommen. Nur wenige Stunden zuvor hatten die Halsteads das Ziel ihres Sommerhauses an einem See, hoch oben in den Bergen, erreicht. Das Gewässer lag umgeben von Wald.
Es war ein lauer Sommertag. Die Mücken flogen in Schwärmen um das Gewässer. Vater Pat saß auf dem Steg und angelte, während Cheryl in der Küche der Sommerresidenz ein neues Rezept ausprobierte.

Will hockte auf der Schaukel im Gartenbereich und war in seinen neusten Band von Steven King versunken.
„Der Nebel.“ Er hatte die Lektüre seit der Autofahrt verschlungen, konnte mittlerweile kaum noch einen Finger davon lassen. Nur Jay trieb wie immer die Langeweile an. Seine Mickey Mouse Hefte waren bereits ausgelesen und das Angeln mit seinem Vater empfand er als öde und langweilig.

„Dad?“, trat der 8 Jährige mittlerweile an den Steg heran, auf dem sein Vater konzentriert auf einem Hocker saß und auf den See blickte.

„Darf ich in den Wald gehen und Feuerholz sammeln?“

Pat wandte den Blick vom See ab, sah den Grundschüler skeptisch an und nickte dann widerwillig mit dem Kopf.

„Aber nimm deine Uhr mit und gegen 6 bist du wieder hier. Pünktlich.“
Jay strahlte über das ganze Gesicht.
Allein war er ohnehin viel lieber unterwegs. Er liebte es, durch das Geäst zu stromern. Der Wald hatte eine nahezu magische Wirkung auf ihn.

Euphorisch rannte er in Richtung der Lichtung. Natürlich war das Sammeln von Feuerholz nur ein Vorwand gewesen. Eigentlich wollte er das Geäst sammeln, um sich Pfeil und Boden zu schnitzen und dann auf Bäume zu zielen. Genau wie Robin Hood. Der Held aus seinem Kinderbuch.
Sein Weg führte ihn zunehmend tiefer in den Wald hinein.
Vergnügt begann der 8 Jährige eine ihm bekannte Melodie vor sich hin zu pfeifen.
Hin und wieder sammelte er ein paar Stöcke und Äste auf. Nur, um nicht völlig untätig zu erscheinen, wenn Pat ihn später darauf ansprechen würde.

Der Weg schien Jay vertraut zu sein. Von klein auf war sein Vater mit ihm hier gewesen. Er kannte die Strecke in und auswendig.

Nachdem der 8 Jährige schließlich doch einen ordentlichen Haufen zusammengesammelt hatte, vernahm er ganz in der Nähe ein leises Fauchen.

Alarmiert von dem Geräusch schaute er auf und wartete, bis es wieder ertönte. Ein wildes Tier?

Kurz entschlossen legte Jay das Geäst zur Seite, bis die Geräusche immer deutlicher wurden und er erschrocken auf das Wesen starrte, das die Laute verursacht hatte.

Verwundert sah er auf einen Fuchs, der sich in einer alten bereits rostigen und selbst gebauten Metallvorrichtung befand. Allem Anschein nach schien es sich um eine Falle zu handeln.
Hilfsbereit wie Jay war, beugte er sich sofort zu dem Tier hinab.

„Hey, Kumpel. Wie bist du denn da rein geraten? Warte, ich helf dir.“
Verdammt, irgendwie musste das Gehäuse doch zu öffnen sein?
Etwas überfordert hantierte Jay an der Falle. Nach etlichen Versuchen, schien sie sich tatsächlich zu öffnen. Zu schnell, denn ehe sich der Junge versah, spürte er ein schmerzhaftes Gefühl an seinem Arm. Geschockt sah er auf den Abdruck des Gebisses, das das Tier hinterlassen haben musste. Offenbar musste der Fuchs zugebissen haben.

Mit weit aufgerissenen Augen besah sich Jay die Stelle. Das Tier hatte schnell von ihm abgelassen, fletschte nun knurrend seine Zähne.

Reflexartig machte Jay einige Schritte nach hinten. Gerade als er weglaufen wollte, spürte er wie sich zwei starke Hände um seinen Bauch legten und ihn fest packten.

Entsetzt begann der 8 Jährige nach dem Angreifer zu treten und zu strampeln, doch es war längst zu spät, denn mittlerweile kam ihm eine weitere Gestalt zu Hilfe.

„So nicht, Junge. Das war unser Fund. Du verdammtes Drecksbalg“, ertönte eine aufgebrachte Männerstimme. Wie erstarrt blickte der Grundschüler in das Gesucht eines Mannes, neben dem eine weitere Gestalt zum Vorschein kam.

Der Fuchs, erschrocken von den Lauten war mittlerweile längst im Dickicht verschwunden.
Jay versuchte sich heftig gegen die Angreifer zu wehren, aber die Männer hatten ihn fest im Griff.
Panik schien ihn zu ergreifen, als er auf die zwei Gestalten starrte, die zu seinem Unmut auch noch bewaffnet waren und ihn finster taxierten.

„Was wollen Sie von mir? Ich hab nichts gemacht“, flehte der kleine Halstead einen der Männer an, doch dieser kannte kein Erbarmen. Unsanft schnappte er den 8 Jährigen, während der zweite nach mehreren Stricken griff. Mit weit aufgerissenen Augen sah Jay auf die Utensilien.

Nichtsahnend, was es damit auf sich hatte, begann er nervös auf seinen Lippen herum zu kauen. Eine Angewohnheit, die sich immer dann zeigte, wenn er innerlich angespannt schien. Der Junge schluckte schwer, hielt nun Inne und hörte auf sich zu wehren. War das die Strafe für das Freilassen des Fuchses? Würden sie ihn ermorden? Ihn damit erdrosseln?

Die Frage beantwortete sich wie von selbst, als ihn einer der Männer fest gegen einen Baumstamm presste, während der andere die Stricke nahm und seinen Körper daran festband.

„Das ist die Strafe, du verfluchter Drecksjunge. Das machst du nicht nochmal, hast du das kapiert?“

Jay kamen die Tränen, während die Männer hämisch lachten. Er konnte sich kaum rühren. Sie hatten seine Arme an der alten Kiefer festgeschnürt. Von hier gab es kein Entkommen.
Kurz darauf griff einer der Männer nach der nun leeren Falle, während der andere nach der abgestellten Schrotflinte schnappte. Für sie zum Spaß fasste der Typ mit der Waschbärenmütze nach dem Abzug und tat als würde er Jay erschießen, lachte dann hämisch, als er in das zu Tode erschrockene Gesicht des Jungen sah. Natürlich war die Waffe nicht geladen.

Mit hämischem Gelächter zogen die Männer schließlich ab, während Jay, fest an den Baumstamm gebunden, allein zurück blieb.

Schluchzend hielt er sich den schmerzenden Arm, auf dem die Andrücke des Bisses gut zu erkennen waren. Erst jetzt fielen ihm die Worte seiner Lehrerin wieder ein. Hatten Füchse nicht Tollwut übertragen? Der 8 Jährige schluchzte kurz auf, während er vor Angst auf das dunkle Waldstück blickte. Nur vereinzelt drangen einige Sonnenstrahlen durch den Spalt der Bäume. Ansonsten schien es hier erschreckend düster zu sein.
Jay musste an Will und seine Eltern denken. Wie sollte ihn seine Familie hier jemals wieder finden?

Schließlich verging eine Stunde, dann zwei Stunden. Irgendwann hatte Jay keine Tränen mehr. Er nickte immer wieder ein, schien sich bereits seinem Schicksal gefügt zu haben.
Als er durch grelles Licht erwachte, schien es bereits Nacht zu sein.

„Jay! Jay????“
Zuerst leise und dann immer lauter traten bekannte Schreie an seine Ohren.
War das? Will? Sein Vater?

„Hier. Hier unten“, begann Jay anfangs nur leise zu piepsen und dann immer lauter zu werden. Letztendlich kniff er die Augen zusammen, weil ihm das Licht einer Taschenlampe grell ins Gesicht leuchtete.
Er vernahm Schritte, die zunehmend lauter wurden, jemand näherte sich. Sein Herz begann zunehmend schneller zu schlagen, als er schließlich in vertraute besorgte Augen sah, die ihn erleichtert anblickten.

„Gott, Junge. Wir haben den halben Wald nach dir abgesucht“, hörte er seinen Vater fluchen.

„Das machst du nicht noch einmal. Hast du das verstanden?“, spürte er schließlich wie jemand die Fesseln löste und ihn dann unsanft an den Schultern packte.

„Wer zur Hölle hat dich hier festgebunden?“

Mit einem Mal wurde Jay wieder bewusst was da passiert war. Völlig aufgelöst begann er seinem aufgebrachten Vater von den Ereignissen der letzten Stunden zu berichten.

„Ein Fuchs? Dich hat ein Fuchs gebissen? Wohin? Zeig mir das her.“

Jay, verwundert darüber, dass der Biss offenbar schlimmer als die Wilderer schein, die ihn festgebunden hatten, deutete auf seinen Arm. Pat Halstead leuchtete mit der Taschenlampe auf die Stelle. Obwohl es dunkel war und Jay die Augen zusammenkneifen musste, hatte er den geschockten Gesichtsausdruck seines Vaters sichtlich mitgenommen.

„Wir müssen sofort ins Krankenhaus. Der kann Tollwut übertragen.“

Jay, innerlich bereits ahnend, was da auf ihn zukommen würde, zog sich vor Angst der Magen zusammen…

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Jay heulte während der gesamten Fahrt ins Krankenhaus.
Will saß neben ihm. Niemand sagte etwas.
Selbst Patrick, der bei den zahlreichen medizinischen Behandlungen, die Jay in der letzten Zeit verursacht hatte regelmäßig ins Fluchen gekommen war, verzog keine Miene und starrte besorgt auf die Straße.
Im Gegensatz zu den Männern in der Familie war es dieses Mal Cheryl, die den Jungen nach einiger Zeit der Stille mit Vorwürfen strafte.

„Jay, wie konntest du das nur machen? Dad und ich haben dir hundert Mal gesagt, dass du im Wald den Kontakt zu wilden Tieren meiden sollst. Wenn der Fuchs jetzt wirklich infiziert war, kannst du daran sterben.“
Keine Worte, die unbedingt zur Beruhigung der Lage beitrugen. Ganz im Gegenteil, denn Jay weinte davon noch stärker.

Und natürlich war es an Will, der ohnehin angespannten Situation noch den Rest zu geben.

„Bei Tollwut bekommst du übrigens Schaum vorm Mund. Wir haben das in der Schule behandelt. Du wirst dann wie ein Zombie.“

„William es reicht“, mahnte Cheryl, die das gar nicht lustig fand. Pat stimmte ihr bei.

„Wenn du solche Kommentare nochmal reißt, lege ich dich morgen höchstpersönlich übers Knie.“
Die Ansage hatte gesessen. Will wusste, dass sein Vater nicht zu Scherzen aufgelegt war.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie um kurz vor Mitternacht den Weg von den Bergen ins nächst gelegene Krankenhaus gefunden hatten.

Die Klinik war nicht sonderlich groß. Es gab zwei Reihen von Parkplätzen. Mit quietschenden Bremsen stellte Pat Hasltead den blauen Sedan schließlich in einer der Nischen ab.

Dann ging alles recht schnell. Aufgrund der überschaubaren Größe dauerte es keine halbe Stunde bis die vier im Behandlungszimmer eines Arztes saßen.

Der Mann, offenbar zur alten Schule von Ärzten gehörend, machte ein ernstes Gesicht, als er sich die Bisswunde besah.

„Wie lange ist das her?“

Erwartungsvoll sahen die Anwesenden auf Jay. Dieser druckste schniefend herum.

„Das war heute Nachmittag.“

„Das sind 6 bis 7 Stunden“, schlussfolgerte Pat auf den Arzt schauend.

„Man kann doch noch was machen, oder?“, fragte der Familienvater mit leichter Panik in der Stimme. Der Arzt nickte ihm zu.

„Sein Sie froh, dass Sie so schnell hier her gekommen sind. Wir haben beide Impfstoffe da.“
Dann fiel sein Blick auf Jay.

„Du hattest extremes Glück, junger Mann, aber du wirst die Zähne zusammen beißen müssen. Die Spritzen sind nicht ohne. Und du wirst sie in Abständen von einigen Tagen mehrfach bekommen müssen“, schnappte der ältere Herr nach zwei Kanülen. Jay, dem sich allein bei dem Anblick der Nadeln zusammenzog, sah geschockt auf die Injektionen, die der Arzt gerade aufzog. Schien die Tollwut bereits erste Symptome zum Vorschwein zu bringen oder war die Nadel viel größer als die altherkömmlichen Injektionen?

Was dann folgte, was die typische Reaktion, die Jay bei Impfungen in der Vergangenheit gezeigt hatte.
Er machte einige Schritte nach hinten, wollte sich zur Tür bewegen, doch das Vorhaben scheiterte bereits wenige Sekunden später, als eine der Schwestern in das Zimmer trat. Sein Fluchtweg war versperrt. Jay sah die Krankenschwester aus verängstigten Augen an, ehe er laut zu schluchzen begann. Er realisierte, dass es kein Entkommen gab.

„Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen, junger Herr. Wenn du die zwei Spritzen nicht bis morgen früh bekommst, wirst du nämlich sterben, solltest du tatsächlich infiziert sein. Wenn zwischen der Infektion und der Impfung mehr als 24 Stunden liegen, schwebt der Patient in Lebensgefahr. Dann bekommst du Krampfanfälle und wirst jämmerlich verenden“, war die harte Ansage des Arztes, was die Stimmung des Jungen nicht besser machte.

Wie so oft brauchte es den Arzt, samt zwei Krankenschwestern und Pat Halstead, die den Jungen auf der Liege festhielten, damit die Injektionen unter die Bauchdecke verabreicht werden konnte. Während es sich bei der ersten Injektion um das reine Antiserum handelte, erhielt er in der zweiten Spritze Immunglobulin.
Jay brüllte wie am Spieß, als er auf die Liege gelegt wurde und ihn Cheryl auszog, damit ihm der Arzt die Injektion injizieren konnte.
Er schrie und weinte, versuchte sich dagegen zu wehren, aber letztendlich hatte er keine Chance. Trotz der Schmerzen der mehreren Zentimeter langen Nadel, verabreichte ihm der Arzt die erste Spritze.
Als er die zweite Spritze in den Bauch erhalten sollte und ihn die Schwestern auf den Rücken drehten, begann er reflexartig zu treten. Letztendlich war es Pat, der seine Füße festhielt, damit der Arzt die Kanüle in die Haut stechen konnte. Was auf Jay eine traumatisierende Wirkung hatte, schien dennoch unabdingbar zu sein.

Und irgendwo siegte auch die Vernunft, denn er wollte nicht sterben. Nie wieder im Wald zu spielen. Der Gedanke schien Jay dann doch zu furchteinflößend.

Weinend hielt er sich die nun schmerzenden Stellen. Wie immer hatte Will Recht behalten, denn die Impfungen waren schlimmer als alles, was er jemals zuvor erlebt hatte. Sie taten unglaublich weh und auch die Kanülen schienen länger als die der sonstigen Spritzen zu sein.

Und die Aussicht des Arztes sollte es nicht besser machen.

„Er wird zwei weitere Spritzen nach 3, 7, 14 und 21 Tagen erhalten müssen.“

Keine schönen Prophezeiungen. Innerlich verfluchte sich der Junge dem Tier jemals geholfen zu haben. Der Urlaub in Nordwisconsin war damit mächtig gelaufen…

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Ein Pech wie Jay hatte, fing er sich im Anschluss eine heftige Impfreaktion ein.
Die nächsten Tage waren erfüllt von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Knochenschmerzen und Fieber.
Statt draußen in der Natur, verbrachte er die kommende Zeit im Bett.

„Junge, Junge. Mit dir haben wir einen Fang gemacht. Du bist schlimmer als dieser Bengel im Film. Wie hieß der doch? Kevin allein zu Haus?“, murmelte Pat sarkastisch, als er einen Tag später in das Schlafzimmer kam, in dem seine Frau den 8 Jährigen ins Bett gepackt hatte.

Müde sah Jay seinen Vater an, der nun die Wadenwickel wechselte und den Jüngeren matt lächelnd betrachtete.

Behutsam legte Pat seine Hand auf die Stirn des Kleinen, machte ein ernstes Gesicht.

„Du hast immer noch Fieber.“
Jay nickte schwer mit dem Kopf. Mittlerweile tat ihm jede Bewegung weh.

Und dennoch genoss er die sachte Handbewegung, mit der ihm sein Vater über die Wange strich.

Es hatte fast etwas heilsames, auch wenn es dem Grundschüler so schlecht ging.

Als Jay nach den Fingern seines Vaters griff, lächelte Pat den Jüngeren traurig an.

„Ich hoffe, dass war dir eine Lehre, warum man keine Wildtiere anfasst“, spielte der Ältere auf die Unachtsamkeit an. Jay nickte verstehend mit dem Kopf.

„Und was diese Wilderer angeht, die zwei Burschen habe ich mir ordentlich vorgeknöpft. Binden einen 8 Jährigen an den Baum. Kann ja wohl nicht wahr sein. Eine Sauerei sondergleichen“, beschwere sich Pat, was Jay trotz des schlechten Zustands milde lächeln ließ.

Er fühlte sich fast ein bisschen stolz. Es war eines der wenigen Male, in denen sein Vater ihn vor Fremden beschützt hatte…

Chapter 7: Dad

Chapter Text

„Schau mal, was ich in den alten Kisten in Dads Keller gefunden habe. Dein alter Mathetest aus der vierten Klasse“, hielt Will seinem jüngeren Bruder vielsagend entgegen, als sie bei einem allabendlichen Umtrunk im Mollys saßen.
Verblüfft über den Fund nahm Jay das bereits vergilbte und mehrfach zerknüllte Blatt entgegen, grinste dann.

„Nicht wirklich oder? Du erinnerst dich an die Geschichte?“
Will konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Mehr als mir lieb ist. Wie könnte ich das vergessen.“

Jay setzte seine Bierflasche ab, starrte ungläubig auf das Blatt Papier.

„Moment, wenn das bei Dad landen konnte, hat er die ganze Zeit über davon gewusst?“
Will nickte amüsiert mit dem Kopf.

So als würde er sich noch gut daran erinnern, wovon er sprach….

 

*Flashback, Chicago 12. September, 1994*

Jay saß lustlos in seinem Zimmer. Er versuchte sich an einem Bild für den Zeichenunterricht, kritzelte aber nur gleichgültig auf dem Blatt Papier herum.

Der Schock saß ihm noch tief in den Gliedern. Stets mit den Gedanken bei der anstehenden Problematik, konnte er sich kaum auf sein Kunstwerk konzentrieren.

Doch das sollte ohnehin nicht länger möglich sein, denn nur wenig später wurde die Tür aufgerissen und ein entsetzt aussehender Will Halstead stand im Raum.

Mit weit aufgerissenen Augen sah der 10 Jährige seinen großen Bruder an und was er da in den Händen hatte und dem Jüngeren entgegen hielt, schien diesem überhaupt nicht zu gefallen.

„Verdammt, wo hast du die her?“

Aufgeregt schnellte Jay zu seiner Mathearbeit, unter der ein fettes F prangte. Jay hatte den Test mit der schlechtesten Note bestanden. Allein diese Tatsache schien schlimm genug. Dass er die Arbeit aber schon am nächsten Tag unterschrieben bei seiner Lehrerin abgeben musste, sollte es nicht besser machen.

Um dieser Tatsache zu entgehen, hatte der Viertklässler kurzerhand den Test in der Garage verschwinden lassen. Frei nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn, war er davon ausgegangen, dass sein Vater so nichts von der Note erfahren würde. Auch wenn er die Rechnung ohne seinen Bruder gemacht hatte, dem es offenbar ein leichtes gewesen war, die Leistungskontrolle im Garagenschrank ausfindig zu machen.

„Verdammt, bist du wahnsinnig? Wenn Dad das erfährt, wird er dich grün und blau hauen.“

„Das ist meine Arbeit. Gib die sofort her. Du solltest die nicht finden.“

„Bei den grottenschlechten Verstecken ist das keine Kunst, oder? Außerdem ist das ziemlich kurz gedacht. Oder wie wolltest du an die Unterschrift kommen? Willst du sie fälschen?“

Jay, dem nun das gesamte Ausmaß des Desasters bewusst geworden war, sah den Älteren mit zitternder Lippe an. Sichtlich überfordert mit der gesamten Situation, traten ihm die Tränen in die Augen.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte er mit heiserer Stimme, spürbares Mitleid bei seinem großen Bruder weckend, der ihn nun mitfühlend betrachtete.

Will stöhnte ratlos. Eine wirkliche Idee schien er auch nicht zu haben.

„Du wirst es Dad sagen müssen.“
Aber Jay schüttelte heftig mit dem Kopf.

„Das geht nicht. Der wird mich umbringen. Am Freitag ist der Wiederholungstest.“

„Dann musst du jetzt richtig ran glotzen. Wir müssen zusammen üben und irgendetwas tun, das Dads Laune hebt.“

„Wir? Heißt das, du hilfst mir?“

Will grinste seinen Bruder mit einer schiefen Grimasse an.

„Was ist mit seinem Wagen? Wenn wir den putzen, hast du so gut wie gewonnen. Und wenn wir dann noch warten, bis er ein paar Bier getrunken hat, ist er so betrunken, dass er deine Note gar nicht bemerkt. Dann hältst du ihm einfach den Test entgegen und der unterschreibt schnell, weil er sich lieber auf sein Baseballspiel konzentriert“, lies Will den Jüngeren an seinem Plan teil haben. Zum ersten Mal des Tages bewegten sich Jays Mundwinkel nach oben. Das klang nach einem verdammt guten Vorhaben.

Vorausgesetzt, dass alles so laufen würde, wie die Jungs sich die Sache ausgemalt hatten…

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Entgegen der Pläne gestaltete sich das Vorhaben alles andere als einfach.
Jay stellte sich wie ein Sack voller Flöhe an. Obwohl er ein Ass im logischen Denken war, hatte er bei Algebra sichtliche Probleme. Will wurde fast wahnsinnig, weil er die Rechenwege einfach nicht kapierte und mehrere Ansätze brauchte, um die Lösung zu finden.

Es dauerte über eine Stunde, bis er mit dem Themengebiet einigermaßen vertraut war.

„Wenn du weiterhin jeden Nachmittag draußen spielst und Rad fährst, anstatt dich auf den Hintern zu setzen und zu üben wird das mit deiner Mathenote nie etwas werden“, war sich Will sicher und hielt dem Jüngeren eine saftige Moralpredigt.

Gegen Abend setzten die Jungs dann ihre Pläne in die Tat um. Sie füllten einen Eimer Wasser, begaben sich zu Pat Halsteads blauem Sadan, den sie gemeinsam schrubbten und ordentlich putzten.

Cheryl Halstead sah erstaunt dabei zu, wie die Jungs dem Wagen ihres Vaters einen neuen Glanz verliehen. Auch das Familienoberhaupt kam berblüfft zu seinem Auto und hatte seit Monaten das erste lobende Wort übrig.

Natürlich ahnte er nicht, dass sie zwei das alles unter einem gewissen Vorwand realisierten.

Spätestens ab 20 Uhr war es dann wie jeden Abend. Pat Halstead saß angetrunken vor dem Fernseher und ließ sich vom anstehenden Baseballspiel berieseln.

Will und Jay hatten sich für ein kurzes Breefing in das Zimmer des Viertklässlers eingeschlossen, ehe dieser den lang befürchteten Weg antreten sollte.

„Okay, du gehst da jetzt ganz locker rein, stellst dich ein bisschen vors Bild, damit er von dir gestört ist und schnell den Test unterschreibt und dann verlässt du ganz normal den Raum. Du musst ein bisschen schauspielern. So als wäre alles in bester Ordnung.“

Jay sah den Älteren unglücklich an. Er hatte sichtliche Angst. Was, wenn er die Sache komplett versaute und ihr Vater ihm auf die Schliche kam? Jay hatte großen Respekt vor seinem Dad. Wenn das schief lief, war er geliefert.

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Letztendlich schien den Geschwistern das Glück in die Hände zu spielen.
Selbstsicher wie möglich, aber mit rasendem Herz lief Jay samt der Arbeit und einem Stift in den Raum. Zu diesem Zeitpunkt war Pat Halstead bereits so zugedröhnt, dass er immer wieder einnickte, derzeit aber munter schien.
Genau wie abgesprochen platzierte sich Jay etwas unpassend vor dem Fernsehbildschirm.

„Geh zur Seite. Ich kann nichts sehen“, brummelte sein Vater, was der Kleinste sofort tat.

„Hey, Dad. Ich brauche noch eine Unterschrift für meine Arbeit“, hampelte er nervös vorm Fernseher hin und her, was den Ältesten so sehr störte, dass er genervt nach dem entgegen gehaltenen Stift griff und blindlings die Arbeit unterschrieb.

„Jay, jetzt geh endlich aus dem Bild. Ich will das Spiel sehen“, brummte Pat Halstead, woraufhin der Kleinere dankbar das Blatt entgegen nahm.

„Soll ich dir noch was bringen? Noch ein Bier?“, murmelte der Kleine, auch wenn er die Abwehr in seiner Stimme nur schwer unterdrücken konnte. Für einen Moment schien der Ältere stutzig zu werden, was Jays Nervosität spürbar verstärkte.

„Sagt mal, was ist los mit euch? Warum seid ihr zwei so verdammt umsichtig?“
Mit einem Mal klang er erstaunlich nüchtern. Jay schoss das Blut in den Kopf.

„Mom hat gesagt, dass wir mehr im Haushalt helfen sollten“, stammelte Jay schnell. Eine Gegebenheit, mit der sich Pat offenbar zufrieden gab.

„Du kannst mir noch ein Bier bringen.“
Ein Kommentar über den Jay zum ersten Mal in seinem Leben dankbar schien.
Draußen angekommen hielt er seinen Daumen nach oben, sodass Will sofort verstand.

Jay lief in die Küche, schnappte nach einem Bier aus dem Kühlschrank.

Gerade als er den Flaschenöffner ansetzen wollte, trat seine Mutter hinter ihn. Sie schloss die Tür zum Wohnzimmer, in dem Pat jubelnd vor dem Fernseher hockte.

Erstaunt wandte sich Jay nach hinten um. Allein ihr Blick sprach Bände, denn sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sah ihn herausfordernd an.

„Na, junger Mann. Hast du mir nicht etwas zu sagen?“

Jays Puls schien sich zu beschleunigen. Verdammt, woher wusste sie das.

In Jay krampfte sich alles zusammen. Würde sie es an Dad weiter melden.

Zu seiner Erleichterung lächelte sie ihren Sohn kurz darauf wehmütig an.

„Warum bist du nicht zu mir gekommen?“
Jay, der dies bewusst vermieden hatte, um seine Mutter nicht in Gewissenskonflikte zu bringen, schwieg bedächtig.

„Ich hatte einfach Angst“, gestand Jay leise.

Seufzend trat Cherly näher, raufte ihm mütterlich durch die braunen Haare und sah ihn mit gespielt strenger Miene an.

„Ich werde eurem Vater nichts davon sagen. Vorausgesetzt du setzt dich jetzt endlich auf den Hosenboden und lernst. Und das nicht nur sporadisch, sondern jeden Tag. Haben wir uns da verstanden?“
Dankbar sah der 10 Jährige seine Mutter an, der er sogleich in die Arme fiel. Emsig nickend sah er sie aus ängstlichen Augen an…

Chapter Text

„Wolltest du dich heute Abend nicht mit Natalie treffen?“, fragte Jay, als er seinen älteren Bruder unerwartet vor seiner Haustür vorfand. Betreten schüttelte Will mit dem Kopf.

„Owen hat eine Mittelohrentzündung. Sie wird zu Hause bleiben müssen.“
Jay verzog das Gesicht zu einer betroffenen Miene.

„Das ist mies. Das kenne ich noch von früher.“

„Wem sagst du das“, sah Will seinen jüngeren Bruder an und schien sich genau wie Jay sichtlich daran zurückzuerinnern…

 

*Flashback, Chicago 20. Februar 1993*

 

„Was hat dein Lehrer dort geschrieben? Du würdest im Unterricht nicht auf ihn reagieren? Nicht hören, wenn du angesprochen wirst?“, schrie Pat Halstead seinen Sohn entsetzt an.

„Muss ich dich erst übers Knie legen, damit das zukünftig besser wird?“, kritisierte der Familienvater lauthals seinen Sohn, der jetzt kleinlaut vor sich hin sah.

„Ich hab ihn wirklich nicht gehört. Ehrlich“, beteuerte Jay mit leiser zitternder Stimme. Noch weit bevor er den Satz beendet hatte, spürte er einen harten Schlag auf seiner Wange. Patrick hatte ihm eine saftige Ohrfeige verpasst.

„Genauso wie du in letzter Zeit zu Hause auch nicht hörst, was? Du kannst von Glück reden, dass ich gleich noch zum Skatspielen fahre. Ansonsten hätte ich dich ordentlich übers Knie gelegt. Das sind alles nur billige Ausreden. Die kannst du dir sparen. Du hast Hausarrest für die nächsten 3 Wochen. Wenn ich nach Hause komme, steht mein Wagen ordentlich geputzt in der Einfahrt und du hilfst deiner Mutter beim Abwasch in der Küche und räumst die Garage auf. Ist das klar?“

Auch jetzt reagierte Jay nur zeitverzögert.

„Ob das klar ist? Ich rede mit dir? Antworte gefälligst!“, packte er den Drittklässler grob am Kinn, womit er Jay zwang ihn ansehen zu müssen.

Der jüngste Halstead, der die Informationen kaum verstanden hatte, nickte erschrocken und eher im Affekt mit dem Kopf, während ihm dicke Tränen über die Wangen liefen.
Murrend bewegte sich Pat in Richtung seiner Garage.

Jay wollte weinend zur Küche trotten, als ihn Will im Flur abfing. Als er seinen Bruder derart aufgelöst erblickte, schien er regelrecht zu erstarren.

„Was ist denn los? Ist was passiert?“

„Dad glaubt mir nicht“, schniefte Jay und deutete auf den Eintrag in seinem Hausaufgabenheft.

„Ich bekomme ständig Ärger in der Schule, dabei habe ich gar nichts gemacht. Ich habe wirklich nicht gehört, dass mich Mr. Tanner im Unterricht angesprochen hat.“

„Na, ja wenn da steht, dass du nie antwortest ist das sicher nicht nichts.“
Aber Jay schüttelte nur abwertend mit dem Schädel, sichtlich enttäuscht darüber, dass ihm Will offenbar ebenfalls keinen Glauben schenkte.
Warum hatten sich alle gegen ihn verschworen? Er verstand es nicht….

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In dieser Nacht hörte Will seinen kleinen Bruder im Schlaf weinen.
Es war gegen Mitternacht, als er sich leise in Jays Zimmer schlich. Der jüngere Halstead schrie und, warf sich unruhig von einer in die andere Richtung.

„Mein Ohr. Es tut so weh“, meinte er zu verstehen. Immer wieder hatte Jay leise die entscheidenden Worte im Schlaf gewimmert. Es schien fast so, als ob er heftige Schmerzen hatte.

Besorgt setzte sich Will an seine Bettkante, versuche ihn aufzuwecken.

„Jay, aufwachen!“

Mehrmals versuchte er den Jüngeren zu rütteln, doch dieser reagierte nicht. Irgendwann gab er es auf. Als Jay wieder ruhiger wurde, strich er ihm besorgt über den Rücken, zog sich anschließend wieder in sein Zimmer zurück.

Leise schlich Will in seinen Bereich zurück. Er knipste seine Nachttischlampe an, holte das dicke Medizinbuch unter dem Bett hervor, das ihm seine Mutter einst geschenkt hatte. Eigentlich war es ein Familienerbstück von ihrer Großmutter, in dem wichtige medizinische Informationen über Jahre hinweg gesammelt worden waren und da sich Will für Medizin interessierte, war er über das Geschenk hellauf begeistert gewesen.

Wahllos blätterte der Fünftklässler in der Lektüre, ehe er beim Aufbau des menschlichen Gehörgangs hängen blieb.

Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, als er die Beschreibung einer Mittelohrenentzündung durchlas. Deshalb hatte Jay nicht im Unterricht reagiert! Weil sein Gehör durch die Entzündung eingeschränkt war. Und was er dann noch las, verschlug ihm die Sprache, denn es passte sehr genau zu Jays Situation…

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Die folgende Nacht sollte nicht besser werden.
Es war gegen 3 Uhr morgens, als Will von Jays schmerzerfülltem Weinen aufgerüttelt wurde und dieses Mal fasste er einen folgenreichen Entschluss. Er weckte seine Eltern.

„Das war mit Sicherheit nur ein Alptraum. Erzähl keinen Unsinn, Will. Und selbst wenn du Recht hättest, muss er da eben durch. Wir haben nicht das Geld schon wieder zum Arzt zu fahren“, erwiderte Pat nachdem er Jay nach mehreren Versuchen aufwecken konnte und ihn William damit konfrontiert hatte, dass es sich bei den Beschwerden seines Bruders mit Sicherheit um eine Mittelohrentzündung handelte. Der Familienvater stritt alles ab. Ein 11 Jähriger hatte ohnehin keine Ahnung und ein Arzt war viel zu teuer, weil die Familie das aus eigener Tasche bezahlen musste. Und ohnehin veranstaltete Jay diesen Zirkus ja auch nur, weil er sich vor der Strafe des Garageaufräumens drücken wollte. Zumindest dachte dies der Familienvater. Alles in allem hatte Patrick Halstead seinem älteren Sohn kein Wort geglaubt.
Cheryl nahm den weinenden Jungen an die Hand und ging mit ihm ins Schlafzimmer, während sich Patrick grummelnd in den Wohnbereich zurückzog.

Es war eines der wenigen Male, in denen Jay im Bett seiner Eltern übernachten durfte.
Doch in diesem Augenblick rechnete noch niemand, der Erwachsenen damit, dass der kommende Tag eine weitere böse Überraschung bereit halten sollte…

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Es war gegen Morgen, als Patrick Halstead durch einen lauten Kinderschrei geweckt wurde. Dicht gefolgt von den panischen Rufen seiner Frau.

„Pat, komm schnell! Der Junge!“, drang die aufgeregte Stimme seiner Frau zu ihm heran.
Der Familienvater, noch halb benommen, weil er so ruckartig aus dem Schlaf gerissen wurde, stand taumelnd nach oben auf und torkelte ins Schlafzimmer.

Und das was er dort sah, verschlug auch ihm regelrecht den Atem.
Das Kopfkissen war voller Blut.

Jay saß kalkweiß auf der Bettkante und presste das das Geschirrtuch gegen sein Ohr, das ihm Cheryl entgegen gereicht hatte. Aus seinem linken Gehörgang drang Blut. Der Junge weinte, sah alles andere als gut aus.

„Großer Gott. Was ist passiert?“, fragte Pat nun ebenfalls panisch, aber Jay schluchzte nur.

„Wir müssen sofort zu einem Arzt. Er blutet aus dem Ohr“, war alles was Cheryl sagte, die nun panisch einige Sachen zusammen suchte.

Mittlerweile war auch Patricks anfänglicher Skepsis erheblicher Sorge gewichen.

Nur wenige Minuten später saßen die Eltern mit dem Drittklässler im Wagen und steuerten das nächstgelegene Krankenhaus an.

Jay, der dort fast schon ein Dauerabo im Krankenhaus hatte, schien alles andere als begeistert, hatte jedoch schnell den Ernst der Lage begriffen.
Trotz der langen Wartezeit, erfolgte die Diagnose recht zügig und sie sollte es in sich haben.

„Das Trommelfell Ihres Sohnes ist in Folge einer Mittelohrentzündung geplatzt. Ist Ihnen gar nicht aufgefallen, dass er Schmerzen hatte?“

Pat Halstead, sichtlich beschämt, zuckte nur ratlos mit den Schultern. Er musste an Will denken und daran, dass er die Sorge seines Sohnes so schändlich missachtet hatte.

„Ich verschreibe Ihnen ein Antibiotikum, aber Jay sollte vorerst nicht fliegen und Sportarten jeglicher Art vermeiden.“

Der Jüngste zog ein unglückliches Gesicht. Das Sportverbot traf ihn fast heftiger als die eigentliche Gewissheit der Diagnose.

Ziemlich erleichtert darüber, dass es zwar ernst, aber nicht lebensbedrohlich schien, begaben sich die Halsteads schließlich nach Hause.

Es war schon abends, als Jay in seinem Zimmer lag, von seiner Mutter gerade die Ohrentropfen verabreicht bekommen hatte und schließlich ein leises Klopfen an seiner Zimmertür vernahm.

„Können wir mal reden?“

Es war Patrick der seinen Kopf in den Raum hinein steckte. Jay setzte sich leicht nach oben auf, lehnte sich im Bett an die Wand.
Kleinlaut betrat der Ältere das Kinderzimmer, setzte sich zu seinem Jüngsten an die Bettkante.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, brummte er leise.

„Ich hätte dir glauben müssen.“
Entschuldigend sah er den Jüngeren an.

Unsicher blickte Jay zurück, während sein Vater ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm zaghaft über den Rücken strich.

„Es tut mir leid“, flüsterte er leise. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit sah er Jay liebevoll an…

Chapter 9: Mom

Chapter Text

Stumm standen die Halsteadbrüder vorm Grab ihrer verstorbenen Eltern.
Es war ein düsterer Wintertag. Der Schnee bedeckte das Familiengrab, während die Dunkelheit bereits durch den aufziehenden Nachthimmel angekündigt wurde. An diesem Mittwoch jährte sich der vierzehnte Todestag ihrer Mutter.

„Was würdest du anders machen, wenn du noch einmal die Zeit zurückdrehen könntest?“, fragte Jay in einem stillen Moment und erhielt lange keine Antwort, ehe Will leise zu sprechen anfing.

„Alles“, war seine erschreckende Antwort, die der Jüngere mit überraschter Mimik kommentierte.

„Ich hätte mehr für meine Familie da sein müssen. Für Mom, für dich, vielleicht auch für Dad. Stattdessen habe ich Party gemacht und war zeitweise im Sudan, was gar nicht meine Aufgabe gewesen wäre.“
Der jüngere Halstead erwiderte nichts.

Wissend, dass sein Bruder recht hatte, legte er die roten Rosen aufs Grab, die er bisher in den zitternden Händen gehalten hatte.

Die Kälte war Jay längst unter die Kleidung gekrochen, aber er biss tapfer die Zähne zusammen.
Tapfer, wie er schon immer gewesen war….

 

*Flashback, Chicago, 23. Januar, 2007

Wütend starrte Jay auf sein Handy, das mittlerweile 30 ausgehende Anrufe vermeldete.
Seit über drei Tagen versuchte der 22 Jährige seinen älteren Bruder zu erreichen. Bisher ohne jegliches Lebenszeichen. Jay wusste, dass Will zurück in den Staaten war. Sein Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen im Sudan war seit über vier Wochen beendet und jetzt hatte der angehende Mediziner nicht einmal den Mut sich bei ihm zu melden.
Und das, obwohl die Zeit drängte und sie immer schwächer wurde. Ihre Mutter lag im sterben. Und es gab nichts, was diese Tatsache aufhalten konnte.

Jay rieb sich die schmerzende Faust.
Noch am Vortag hatte er eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vater gehabt, der volltrunken in der Haustür gestanden hatte und im völlig zugedröhnten Zustand nach seiner sterbenden Frau sehen wollte. Jay hatte ihn aus dem Haus geprügelt, nachdem Pat sich über Monate lang nicht mehr blicken ließ, sich sogar von Cherly getrennt hatte.

Letztendlich war Jay derjenige gewesen, der seinen Auslandseinsatz in Afghanistan abgebrochen hatte und Hals über Kopf zurück nach Chicago geflogen war.
Während Will sich überhaupt nicht mehr meldete, hatte sich Pat Halstead nur kurz nach der tödlichen Krebsdiagnose seiner Frau scheiden lassen und jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen. Dass sein Vater nie ein Freund großer Gefühle gewesen war schien Jay bekannt. Dass er seine Frau in der schlimmsten Zeit seines Lebens hängen ließ, dagegen überhaupt nicht nachvollziehbar.

Jays Blick glitt zum Foto an der Wand, dass die Halsteads als lächelnde Familie zeigte. Die pure Heuchelei, denn letztendlich war der Jüngste derjenige, der als einziger die Verantwortung der Pflege seiner Mutter übernahm. Und diese Gewissheit machte einsam. Verdammt, noch nie hatte er sich derart allein gefühlt.
Bereits in den letzten Tagen hatte er gespürt, dass es mit Cheryl zu Ende ging.
Eigentlich war sie bereits seit Monaten austherapiert. Viele Medikamente wurden nur noch palliativ gegeben.
Die meiste Zeit lag sie im Bett und schlief. Der Brustkrebs hatte ihr jegliche Kräfte geraubt.

Innerhalb von drei Monaten war Jay vom Soldaten zur Vollzeitpflegekraft mutiert. Er hatte den Papierkram und die Behördengänge geregelt, hatte sie gewaschen, sie angezogen, sie teilweise sogar gefüttert. Stundenlang saß er immer wieder an ihrem Krankenbett, erzählte ihr von früher.
Von damals, als noch alles halbwegs in Ordnung war. Als sie eine glückliche Familie gewesen waren. Wobei das Wort glücklich durchaus dehnbar schien.
Streng genommen, war ihr Vater ein unzu friedener Egoist gewesen, dem man es nie recht machen konnte und dessen Erziehungsmethoden teilweise sadistische Züge angenommen hatten.
Liebe und Gefühle hatten meist nur aufgesetzt auf Fotoaufnahmen existiert. Dann, wenn man nach außen hin glänzen wollte. Wenn es darum ging, den Schein zu wahren.
Emotionen durften oft nicht gezeigt werden. Meistens war Cheryl diejenige gewesen, die Jay getröstet hatte, wenn er hingefallen war oder Fieber hatte. Erinnerungen mit seinem Vater waren dagegen selten.

Während Will bei ihrem Vater oft als Vorzeigekind gehandhabt wurde, schien Jay meist das schwarze Schaf zu sein. Will hatte eher Rad fahren gelernt, war intelligenter, schrieb die besseren Noten, hatte studiert und den besseren High School Abschluss gemacht. Die Liste schien endlos lang. Und dennoch war Will doch derjenige, der seine Mutter in der letzten Zeit ihres Lebens so sehr enttäuschen würde.

Jay wandte seinen Blick von dem Familienbild ab, ehe er Essen und Trinken samt der Medikamente auf das Tablett stellte. Eigentlich war alles nur noch eine Farce. Seine Mutter hatte seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Nur hin und wieder nippte sie an einem Strohhalm, der sie mit Wasser versorgte.

Leise trug Jay die Nahrungsmittel in das Schlafzimmer, das sich im alten Haus seiner Eltern befand. Seit 12 Wochen lebte er wieder in seinem alten Kinderzimmer. Selbst die alten Baseballposter prangten noch an den Wänden, doch das tangierte ihn nicht.

Ganz leise schlich er in den Raum, stellte den Untersatz auf dem Nachtschrank ab, ehe er behutsam an ihrer Bettkante Platz nahm.

Sorgenvoll griff er nach ihrer Hand. Sie wirkte abgemagert und bleich. Die Augen lagen in tiefen Höhlen. Der typische Anblick einer sterbenskranken Frau. Mittlerweile waren die Haare wieder gewachsen. Das grau ihrer Haarsträhnen schien einen Ansatz von Normalität zu erahnen. Eine Normalität, die es nicht mehr gab und nie mehr geben würde.

„Mom“, flüsterte Jay ganz leise und strich mit dem Daumen über die hervortretenden Knöchel an ihrer Hand.
Verzweifelt betrachtete er sie, während er wie unzählige Male in den letzten Wochen mit den Tränen kämpfte. Das hier hatte sie nicht verdient. Nicht nach alldem, was sie für ihre Kinder getan hatte. Das ewige Leiden, das kein Ende nahm. Von dem man erstmals begriff, dass der Tod auch eine Erlösung sein konnte.

Cheryls Atem war laut, fast rasselnd. Das typische Zeichen dafür, dass die Metastasen auch in die Lunge gestreut hatten. So wie es die Ärzte durch das letzte Röntgenbild feststellen konnten.

„Mom“, wiederholte Jay leise, während sich Minuten wie Stunden anfühlten. Selbst sein zurückliegender erster Einsatz in Afghanistan schien nicht ansatzweise vergleichbar mit dem psychischen Martyrium, das er in der Endphase ihrer Krebserkrankung durchlebte.

„Jay“, hörte Halstead schließlich eine schwache Stimme sagen. Sein Name war nicht mehr als ein Hauch. Sie hatte kaum noch Kraft klar zu sprechen.

Und dennoch nahm sie in den letzten Stunden ihres Lebens all die Mühe zusammen, um ihn noch einmal anzulächeln.

Liebevoll blickte sie ihrem jüngsten Sohn entgegen, streckte die Finger nach ihm aus, die er liebevoll ergriff. Fest nahm er ihre Hand in seine beiden, küsste ihren Handrücken und sah sie traurig lächelnd an.

„Danke“, meinte er zu hören, während sich alles in ihm schmerzlich zusammenzog. War es der Anerkennung für alles? Der Abschied für ein ganzes Leben?

Das hier konnte nicht das Ende sein.
Er erwiderte nichts, schüttelte nur mit dem Kopf, sah sie unter Tränen an.

„Ich hab dich lieb“, flüsterte er leise, ehe sie zufrieden die Augen schloss und ein Lächeln auf den Lippen hatte.
Geschwächt war sie eingenickt. Die Kräfte schwanden. Selbst kleine Gesten wurden mittlerweile zur Herausforderung.

„Du musst durchhalten. Wir wollen doch noch gemeinsam nach Nordwisconsin fahren. Genau wie früher.“
Aber sie reagierte nicht mehr.

Jay wusste nicht, wie lange er noch wach geblieben war. Irgendwann schien er an ihrer Bettseite eingeschlafen zu sein.

Als er beim nächsten Mal die Augen öffnete, schienen die warmen Sonnenstrahlen hell in das Zimmer, tauchten die Sicht in ein sattes orange.

Erschrocken realisierte Jay die Kälte an seiner Hand, war reflexartig nach oben gefahren.

„Mom? Mom!“, rief er durch das Zimmer, aber Cheryl antwortete nicht mehr.

Friedlich war sie an der Seite ihres Sohnes eingeschlafen…
Es war vorbei….