Chapter 1: Leugne.
Chapter Text
Vincents Gähnen könnte Adam eine ernsthafte Konkurrenz sein, als er den Dienstwagen neben dem Brückenpfeiler parkt. Es ist viel zu früh, selbst für seinen Geschmack. Sogar der Himmel trägt noch das vortägliche Dunkelblau bevor die Sonne dann so langsam aufgehen wird. Um die Zeit sind noch nicht mal Vögel zu hören. Aber naja, das Verbrechen wartet eben nicht bis nach dem Frühstück. Als sie aus dem wohlig warmen Auto steigt, beeilt sie sich, den Mantel von der Rückbank zu holen. Es ist zwar Frühling aber nachts noch knackig kalt. Fröstelnd geht er die Fahrbahn entlang und nickt den uniformierten Kollegen zu, als er sich unter dem Absperrband hindurch duckt. Der Wind krallt sich in den Mantel und spielt mit seinen Locken, als er der Brücke zu ihrer Mitte folgt.
Links von der schmalen Stahlkonstruktion, etwa hundert Meter flussabwärts kann sie in der Morgendämmerung das alte Viadukt mehr erahnen, als dass es im Halbdunkel schon richtig sichtbar wäre. Ein rostiges Skelett über der Oder. Letzten Sommer war er mit Adam dort spazieren, da sah der Koloss nicht so gespenstisch aus. Lächelnd denkt sie an den Tag zurück. Und an Adam. Wo ist der eigentlich? Vincent wirft einen Blick auf ihr Handy aber ihre letzte Nachricht von vorhin ist noch immer ungelesen. Adam war seit gestern Abend nicht mehr online. Bestimmt schläft er noch. Vincent hat ihn ganz genau vor Augen; das wirre Haar, das entspannte Gesicht und die Decke überall, nur nicht mehr so richtig über seinem Körper. Ganz friedlich im warmen Bett. Nicht so wie sie im morgendlichen Frost. Naja, es sei Adam gegönnt.
Das Lächeln vergeht ihm ein wenig, als er sich dem Tatort nähert.
„Dzień dobry.” Aber eigentlich fühlt sich der Morgen so nicht mehr wirklich gut an.
„Dzień dobry, Vincent.” Wiktor kommt ihr entgegen, stirnrunzelnd steckt er sein Handy gerade wieder weg, aber dann lächelt er. „Wo hast du Adam gelassen?” „Also bisher weißt die Indizienlage darauf hin, dass er noch schläft.” Wiktor reicht ihm ein Paar blaue Einweghandschuhe. Vincent nutzt die Chance und greift behutsam nach seinen Fingern, hält sie einen kurzen Augenblick fest. „Hey?“ Nach kaum merklichen Zögern begegnet Wiktor ihrem fragenden Blick; irgendwas ist seltsam an ihm heute. „Nic ci nie jest?“ Sie weiß, dass es noch holprig klingt aber es fühlt sich vertrauter an, seine Muttersprache zu nutzen. Wiktor seufzt, dann schüttelt er in einer wegwerfenden Geste den Kopf, drückt leicht Vincents Hand. „Ja, es ist nichts. Alles in Ordnung.“ Einen Augenblick sehen sie sich an. „Okay…“ Vincent ist nicht wirklich überzeugt, aber er will sich nicht aufdrängen.
„Du warst gestern bei Adam oder?“ Die Frage klingt seltsam eindringlich. Vincent nickt. „War spät bei euch?” „Eigentlich nich…” Sie hatte leider keine frischen Klamotten mehr bei Adam. „Gegen neun hat er mich heim gebracht.” Auch, wenn sie damit beide nicht so zufrieden gewesen waren, hatte die Vernunft doch gesiegt. „Aber er war generell n bisschen durch gestern.“ Wiktor atmet tief ein und grinst dann entschlossen. „Naja, soll er mal schlafen. Er wird schon auftauchen.“ Vincent nickt. Ein Frösteln durchfährt ihn; fies ist dieser Wind hier.
Gemeinsam nähern sie sich dem schräg stehenden Geländewagen auf der Fahrbahn.
Auf den ersten Blick ist es eine fast klassische Unfallsituation. Der schwarze PKW kam von polnischer Seite auf die Brücke; das Motorrad aus der entgegengesetzten Richtung. Die Motorhaube vorn links ist tief eingedellt, lang und schmal ist der Abdruck des Motorradlenkers. Der Scheinwerfer ist in hellen Splittern auf der Fahrbahn verteilt. Die Maschine hat sich mit dem Hinterrad unter der Vorderachse des Autos verkeilt. Hinterm Lenkrad sitzt ein Mann mittleren Alters. Marian steht im dünnen blauen Overall in der offenen Fahrertür und versperrt die Sicht auf Details. Nur das Einschussloch in der Frontscheibe passt nicht zu einem Unfall. „Morgen“, grüßt Vincent. Marian zieht den Kopf aus der Fahrerkabine. „Morgen Vincent.“ Er lächelt in seiner üblichen lockeren Art.
„Wissen wir schon was über den Toten?“
Wiktor geht um die Motorhaube herum. „Er hat keine Papiere bei sich.“
„Und ansonsten ist die Todesursache mit größter Wahrscheinlichkeit der Kopfschuss“, ergänzt Marian. „Wobei auch der Aufprall nicht unerheblich war, was die Verletzungen angeht. Also hätte vielleicht auch ohne geklappt.“ „Hm.“ Vincent nickt erstmal. Aktuell gilt es ohnehin nur, die Tatsachen zu sammeln und hinzunehmen. Wie alles zusammenpasst und welche Gründe hinter allem stecken, finden sie später heraus.
Ihr Blick wandert zu dem Motorrad. Es sieht Adams Maschine recht ähnlich. Beklemmende Kälte kriecht Vincent den Rücken hinauf. Er lächelt kurz und schüttelt über sich selbst den Kopf. Natürlich sieht es so aus. In seinen Augen sieht so ziemlich jedes Motorrad ein bisschen aus wie Adams. Er hat einfach nicht genug Ahnung von den Dingern und sie erinnern ihn nun mal zuerst an Adam. Maschinen wie diese gibt es ja auch wie Sand am Meer. Sie sollte aufhören, die ganze Zeit an Adam zu denken und sich lieber konzentrieren. Wäre natürlich gut, wenn er langsam auftauchen würde. Er hätte allein aus dem Motorrad jetzt bestimmt schon mindestens fünf Anhaltspunkte geschlossen. Aber gut, dann finden sie das eben später heraus. Adam taucht jeden Moment hier auf.
„Abgesehen von ihm“, Marian kriecht aus dem Auto heraus und geht am Motorrad und an Vincent vorbei um die Motorhaube herum. Er führt sie und Wiktor zu einer Stelle etwa zehn Meter weiter zur polnischen Seite. „Gibt es das zweite Unfallopfer. Durch den Aufprall über den Lenker abgestiegen. Wahrscheinlich mit Kopf und Schulterbereich hier aufgekommen – vielleicht eher seitlich und den Rest gerollt oder gerutscht.“ Mairan deutet die Bewegungen an. Vincent wird flau im Magen. Sehr unschöne Vorstellung. Auf dem Asphalt sammeln sich Blutspuren; mal punktuell, mal lang gezogen. Auch ein paar Kunststoffsplitter liegen an einer Stelle verstreut. Alle Bereiche sind fein säuberlich mit den kleinen, gelben Schildchen versehen. Marian zuckt die Schultern. „Aber das kann ich alles nur vermuten, denn es gibt keinen Körper.“
Vincent wird stutzig. „Überlebt man denn so einen Sturz?“
„Also… es kann schon sein. Ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.“
„Kann die Person einfach aufgestanden und gegangen sein?“ Das wird ja immer verworrener hier.
Marian hebt unschlüssig die Augenbrauen. „Nicht ohne Hilfe, das glaube ich einfach nicht. Selbst in passender Schutzkleidung kommt es mindestens zu Knochenbrüchen und starken Prellungen. Und innere Verletzungen sind eigentlich auch quasi garantiert. Also hier ist niemand einfach weg spaziert.“ „Also muss jemand geholfen haben.“ Vincent betrachtet die Splitter. Weiß und in getönter Klarheit heben sie sich vom Straßenbelag ab. Wiktors Blick wandert über die Blutspuren. „Die Anfrage an die Krankenhäuser in der Umgebung läuft. Vielleicht gab es einen Rettungseinsatz.“ „Aber warum sollte man dann nur einem Unfallopfer helfen? Außer man kennt sich…“ Wiktor hebt die Schultern. „Ansonsten ist der oder diejenige wirklich von selbst gegangen. Oder jemand hat den Körper weggeschafft.“ Vincent hockt sich neben die Blutlache. Wer entfernt eine Leiche von einem Unfall? Und lässt eine zweite dann auch noch da? Welchen Sinn hat das?
Sein Blick wandert von den angefrorenen Tropfen über den Asphalt zurück zum Geländewagen. Unter dem Auto schimmert das Nummernschild des Motorrads. „Haben die Kennzeichen schon was ergeben?“ „Halterabfrage vom PKW läuft noch; an das Motorrad sind wir noch nicht ran gekommen. Es hat sich zu stark verkeilt.“
„Vielleicht kann man es von der Seite erkennen.“ Seiner Vermutung folgend, geht Vincent zurück und kniet sich neben das Auto, sodass er unten durch sehen kann. Mit der Taschenlampe seines Handys kann er das Nummernschild tatsächlich entziffern.
Eine eiskalte Klaue packt sein Herz. Übelkeit steigt in ihm auf und er zuckt zurück.
Nein, Vincent irrt sich. Er ist einfach noch müde.
„Was ist los?“
„Ich… hab was komisches gesehen, glaub ich.“ Ihre Stimme klingt weit weg.
Nein, er hat sich bestimmt verguckt. Wahrscheinlich sind sich nur zwei Ziffern sehr ähnlich oder so. Sie amtet tief durch. Und zwingt sich dazu, ein zweites Mal unter den Wagen zu schauen.
„Kannst du es erkennen?“
Vincent nickt automatisch. Mit zitternder Stimme diktiert sie das Kennzeichen.
Bei den letzten Ziffern zögern Wiktors Finger über seinem Handydisplay. „Jesteś pewny?“
Vincent nickt, er ist sich viel zu sicher.
Kälte strahlt in jeden Winkel seines Körpers. Wiktors Zögern befeuert die Panik. Die hellen Augenbrauen ziehen sich tief zusammen, dann sendet er die Nachricht und atmet durch. „Wir warten jetzt erst ein mal in Ruhe, was die Abfrage sagt!“ Vincent ist sich nicht sicher, ob das energische Nicken ihrer Beruhigung dienen soll oder doch Wiktors eigener. Ihre Blicke treffen sich und ihnen ist beiden klar, was die Antwort sein wird.
Noch kriecht das lähmende Gefühl nur durch Vincents Beine und den Oberkörper hinauf. Aus Instinkt greift sie nach ihrem Handy und tippt auf Adams Eintrag in der Kontaktliste.
Es klingelt. Einmal. Zweimal. Fünf Mal. Zehn.
Vincents Herz schlägt schmerzhaft gegen seine Rippen. Mit jedem dumpfen Ton kann er im Geiste Adams Klingelton hören.
Moment mal. Nein, das ist nicht in ihrem Kopf. Denn Wiktor guckt, als würde er es auch gerade hören.
Ganz leise nur. Irgendwo da vorn!
Mit dem Handy am Ohr stolpert Vincent an der Stelle des Aufpralls vorbei. Dreht sich am Ende der Brücke im Kreis. Von irgendwo hier kommt das Geräusch. Vincent schließt die Augen und hält sein eigenes Handy ein Stück weg.
Da! Rechts von ihr.
Sie folgt dem Klang, den Blick fieberhaft auf den Boden geheftet.
Adams Handy liegt am Straßenrand.
Die Ecken sind abgeschürft und teilweise abgeplatzt; der Bildschirm ist gesprungen. Und doch leuchtet er noch in aller Dringlichkeit auf. Vince ruft an. Der rote und der grüne Button unter seinem Namen bieten sich geduldig zur Wahl an. Eine Wahl, die jetzt niemand treffen wird. Ein langer Riss durchtrennt Vincents Profilbild.
Er starrt das kleine Gerät an.
Nein. Das passt nicht. Das ist alles nicht richtig. Das stimmt nicht. Es darf nicht stimmen. Er wacht bestimmt gleich auf. Er muss einfach.
Aber es klingelt unermüdlich weiter.
Er wacht nicht auf.
„ Wiktor?“ Seine Stimme bebt und ist viel zu leise. Eigentlich. Denn Wiktor hat ihn beobachtet. Auch er ist bleich vor Sorge und ringt sichtlich um Fassung, als er das Handy betrachtet.
Mechanisch legt Vincent auf. Die vertraute Melodie verstummt. Ein letztes Mal blinkt das Display auf. Eine kurze Vibration und Vincents Profilbild verschwindet, stattdessen klappt eine weitere Statusleiste auf. Anruf in Abwesenheit.
Nein.
Ein eiskalter, widerlicher Knoten bildet sich in Vincents Magen. Lähmend kriecht eine tiefe, urtümliche Angst in jeden Winkel ihres Körpers. Nur sein Herz rast als könnte es dieser Situation entkommen; hämmert schmerzhaft gegen seine Rippen.
Er starrt auf das zerstörte Handy. Wiktors Finger heben es behutsam auf und legen es in einen kleinen Beweismittelbeutel. Sie zittern dabei.
Stille dröhnt in Vincents Kopf. Immer wieder blinzelnd, schaut er zum Unfallwagen zurück. Und zu der Aufprallstelle. Und zur anderen Seite der Brücke; als würde Adam dort gleich auftauchen, wenn Vincent nur oft genug hinschaut. Als könnte der verzweifelte Wunsch ihn dort heraufbeschwören. Mit seinem Motorrad; neben dem Dienstwagen. Ein bisschen launisch am Morgen aber unversehrt.
Aber er taucht nicht auf.
Wie durch dichten Nebel hört Vincent Wiktors Handy. Es klingelt drei mal, bevor Wiktor mechanisch abnimmt. Auch sein Blick geht ins Leere, auf der Suche nach einer Antwort. Vincent hört Wolles Stimme am anderen Ende. Belegt. „Der Halter des Motorrads … heißt Adam Raczek.“
Schmerz bohrt sich in Vincents Brust wie eine Pfeilspitze. Er muss die Augen schließen, um das Gefühl zu ertragen. Unwillkürlich keucht er auf. Giftig jagt die Erkenntnis durch ihren Körper.
„Krol? Ross?“ Es ist Pawlak. „Sie kommen beide ins Präsidium zurück. Sofort!“
Das bedeutet, sie sind vom Fall abgezogen.
Und das bedeutet…
Vincents Welt springt aus den Angeln. Seine Beine geben nach. Hart treffen seine Knie auf den Asphalt doch den Schmerz nimmt sie gar nicht wahr. Nichts kann die Qual in seiner Seele überschatten. Gar nichts. Sie spürt, dass sie sich mit den Händen abfängt. Sie spürt, wie Wiktor sich neben sie kniet. Spürt Wiktors Hände an den Schultern. Sein Herz erstarrt zu einem tonnenschweren Klumpen in seiner Brust. Sein Körper zittert unentwegt. In seinem Kopf dröhnt Stille. Die Straße verblasst vor ihren Augen.
Sie hätte bei Adam bleiben müssen. Gestern Abend. Dann wäre das hier nicht passiert.
Schwarz sieht er.
Nur noch schwarz.
Ein einziger Gedanke erfüllt Vincents Geist.
Adam.
Er will zu ihm! Er will ihn zurück! Es fühlt sich an, als hätte man ihr ein Stück ihrer Selbst kaltblütig entrissen. Warum?
Wiktors Stirn sinkt gegen Vincents Körper; seine Finger zittern, während sie Vincent halten. Oder sich an ihr festhalten.
Ein brennendes Nichts schlägt über Vincents Geist zusammen und gräbt die eisigen Klauen in jeden Zentimeter ihrer Haut.
Adam.
Verdammt, wo bist du?
Chapter 2: Verbrannt
Summary:
Die Stunden quälen Vincent und Wiktor. Adam bleibt verschwunden. Und als er auftaucht, wird nichts besser.
Chapter Text
Vincent weiß nicht, wie sie Schlaf gefunden hat. Wahrscheinlich hat er sie gefunden und einfach überwältigt. Es muss so sein, denn was er gerade fühlt, ist eindeutig das langsame Entschwinden dieses gnädigen Schleiers. Warm fühlt sie sich. Weich umgeben von Adams Duft. Und für einen einzigen, wunderschönen Augenblick erglüht die Hoffnung, dass der schwarze Sumpf aus Angst nur eine Erinnerung aus einem furchtbaren Traum ist. Doch Vincent spürt die Leere neben sich. Die Verzweiflung, mit der Adams Bett seinen Duft nur noch festhält. Als sie die Augen öffnet, ist da niemand. Kein einziger Laut in der Wohnung. Er weiß genau, dass er allein ist. Die Wärme ist flüchtig; auf dem zweiten Kopfkissen fehlt sie gänzlich . Sein Herz schmerzt von der tief geschlagenen Wunde. Sein Körper sehnt sich nach Berührung, denn sie fehlt schon viel zu lang.
Adams Abwesenheit nimmt der Stille jeden Frieden. Sie bedroht Vincent mit Ungewissheit. Mit tausenden Fragen, die keine Antwort kennen. Damit, dass sie jetzt seine Realität ist.
Und er weiß nicht, wie er mit ihr umgehen soll. Er weiß es einfach nicht. Wieder weiß sie nicht, wie sie mit dem Leben umgehen soll. Und diesmal ist er nicht sicher, ob er es je herausfinden wird. Diesmal ist da keine sture Gewissheit, dass es einen Weg geben muss. Zu stark ist diese allmächtige Kälte.
Schüchtern, wie jeden Tag, schleicht sich die Frühlingssonne durchs Schlafzimmerfenster. Sanft, wie jeden Tag, huscht sie nun über ein helles Bettlacken. Nicht über Adams Brust. Nicht über sein Gesicht, was er heute nicht abwendet, sobald sie seine Augen streichelt. Ihre Strahlen sind nicht warm genug, um die Kälte unter Vincents Haut zu lösen. Den Schmerz in jedem Winkel seines Körpers kann sie nicht vertreiben. Und so beobachtet sie Vincent, wie sie sich unter Adams Decke zusammenrollt, das Gesicht in seinem Kopfkissen vergräbt und sich in stillen Tränen verliert.
Seine Nase will ihm weiß machen, alles sei in Ordnung. Doch es ist eine Farce. Aber sie kann sich auch nicht lösen. Das tut genauso weh.
Er will ihn zurück. Er will Adam einfach nur wieder in die Arme schließen. Will Adams Herz ganz nah an seinem schlagen spüren. Er will das Leuchten in den grünen Augen wieder sehen. Er will das Lachen wieder hören.
Źrebię
Sie will es wieder hören, wenn sie Adam sanft an sich zieht und er den Kopf gegen Vincent lehnt. Wenn er sich traut, sie so zu nennen und seine Stimme so unendlich zärtlich wird. Wenn seine Lippen fast über ihre Haut streichen. Wenn er sich gänzlich entspannt und es wagt, sich ihr zu zeigen mit allem, was er ist. Im Geiste klingt seine Stimme so klar, als sei Adam hier und der Schmerz verzieht Vincents Gesicht in ein qualvolles Lächeln. Seine Finger krallen sich in weichen Stoff, um nicht zu vergehen. Ein Wort das so viel mehr ist als ein liebevoller Name.
Versprechen. Dankbarkeit. Hoffnung. Glück.
Er will das alles nicht verlieren. Nicht so. Er will nicht, dass aus dieser tiefen Wunde in seinem Leben eine neue Narbe wird. Er will, dass sie heilt. Dass keine Narbe bleibt, die zwar irgendwann heil aussieht aber es niemals sein wird. Unbarmherzig brennt diese Sehnsucht unter Vincents Haut.
Ein Kratzen durchbricht die Stille. Das Schloss an der Wohnungstür klickt und reißt Vincent aus seiner Starre. Ein Blitz aus Hoffnung durchzuckt ihn und er springt aus dem Bett. Kalt ist es ohne Adams Decke. Im Vorbeigehen schnappt er sich einen von Adams Pullis, der über der Sofalehne im Wohnzimmer liegt. Leise sind ihre nackten Schritte auf dem kühlen Boden. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, als die Tür langsam aufschwingt.
„Vincent?“
Sie erstarrt in der Tür zur Küche. Enttäuschung schlägt ihn fast nieder, aus Reflex klammert er sich an den Türrahmen.
Wiktor schließt die Wohnungstür hinter sich und legt den Schlüssel auf der Kommode im Flur ab. Während er sich umsieht, knöpft er den Mantel auf.
„Was machst du hier?“ Sofort tut es Vincent leid, dass er so aggressiv klingt. Wiktor hat jedes Recht, hier zu sein. Es ist ja Absicht, dass Adam ihnen vor einer ganzen Weile je einen der Ersatzschlüssel gegeben hat. Und eigentlich ist es gut, ihn zu sehen. Aber Vincent kann sich nicht helfen, es fühlt sich gerade an, als hätte sie ein zweites Mal erfahren, dass Adam… verschwunden ist.
Wiktor zieht kurz die Augenbrauen zusammen. Nicht wütend. Eher besorgt. Vincent seufzt. „Tut mir leid, ich wollte nicht…“
„Ich weiß.“ Die hellblauen Augen mustern ihn traurig, beginnen bei den aufgeschürften Blutergüssen an ihren Knien und enden in ihrem gequälten Blick. Wobei Wiktor selbst auch nicht aussieht, als hätte er viel geschlafen. Unter seinen Augen liegen leichte Schatten und er hat die Haare heute nicht extra gestylt.
Vincent vergräbt die Hände in den dunkelgrünen Ärmeln und legt fröstelnd die Arme um sich, obwohl sie weiß, dass es gegen die Kälte in ihrem Inneren nicht hilft.
„Ich dachte mir, dass ich dich hier finde und nicht bei dir.“
Vincent nickt langsam. Vielleicht hat er gestern gehofft, Adam würde über Nacht wieder hier auftauchen. Oder er erträgt es nicht, alleine in seiner leeren Wohnung. Vielleicht hatte er auch gehofft, zwischen Adams Sachen irgendeine Erklärung zu finden. Irgendwie alles davon.
„Warum rufst du nich an?“ Während sie fragt, bleibt Wiktor direkt vor ihr stehen und öffnet die Arme. Ohne darüber nachzudenken, schlüpft Vincent wieder richtig in die Ärmel und tritt ihm entgegen; legt die Arme um seine Mitte und zieht ihn leicht an sich. „Du bist nicht ran gegangen.“ Wiktor legt das Kinn auf Vincents Schulter. „Sorry…“ Seufzend drückt er sich noch ein bisschen enger an ihn. Wiktor streichelt behutsam über seinen Rücken. Für einen Moment halten sie sich gegenseitig. Auch, wenn er es nicht so deutlich zeigt, weiß Vincent ganz genau, dass Wiktor ebenso krank vor Sorge um Adam ist wie sie selbst. Ein ganz kleines Bisschen hilft es, jemanden zu haben, der sehr genau nachfühlt, wie es ihm gerade geht. Sie gehören nun mal zusammen. Auch, wenn ihnen das erst vor ein paar Wochen richtig klargeworden war und es tut so sehr weh, dass einer nun fehlt. Dass Adam nun einfach fehlt. Adam, der so lange gebraucht hatte, um an das hier zu glauben. Um zu verstehen, dass es gut tut; dass es richtig und schön ist; dass er es verdient. Dass es das ist, was sie alle drei wirklich wollen.
Die Nase an ihrer Schulter verborgen, atmet Wiktor tief ein und Vincent spürt, wie er dann das Gesicht an ihrem Hals vergräbt. Sein Körper verkrampft sich ganz leicht in ihren Armen und sein Griff um sie wird schwächer. Vincent zieht ihn noch näher und lehnt die Wange gegen seinen Kopf, beruhigend streichen ihre Finger über den dünnen Stoff seines Hemdes. Er würde gern versprechen, dass alles wieder gut wird. Wiktor und auch sich selbst. Aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Aus einer tiefen Gewohnheit heraus zählt Vincent ihre Atemzüge. Zwanzig müssen es sein, bevor sie Wiktor überhaupt loslassen würde. Es sind fast hundert, bis er sich wieder fängt und sich vorsichtig ein wenig von ihr löst. Seine Augen sind gerötet und in seinem Blick wechseln sich trotzige Hoffnung und pure Verzweiflung. „Willst du den Pulli mitnehmen?“ Vincents Stimme ist ganz leise. Es tut weh, Wiktor so zu sehen. Er verdient diesen Schmerz nicht. Wut flackert durch Vincents Körper. Es ist eine Sache, dass es ihm selbst so schlecht geht. Es ist nicht das erste Mal, dass das Leben ihn quält. Aber sie will nicht einsehen, dass Wiktor so leiden muss.
Er schüttelt leicht den Kopf, lächelt schwach und atmet tief durch. Da ist er wieder sein trotziger Tatendrang. Sein Optimismus, den er sogar noch irgendwie findet, wenn selbst Vincent schon keinen mehr übrig hat. Sein Daumen streicht über Vincents Hand. „Kommst du mit ins Büro?“ Vincent zuckt die Schultern. Eigentlich hat sie nicht genug Energie für irgendetwas, denn erholsam war die letzte Nacht auch keine Sekunde lang. Und im Büro muss sie die Fassung bewahren, obwohl auch dort alles an Adam erinnern wird. „Wir dürfen doch eh nichts machen…“, murmelt er erschöpft.
„Aber unsere Ermittlungen zum Lede Fall laufen noch.“
Vincent zuckt wieder nur die Schultern.
Wiktor grinst ein bisschen. „Und vielleicht hören meine Kontakte sich gerade nach zwei Sachen gleichzeitig für mich um.“ Ermutigend hebt er die Augenbrauen.
Da muss Vincent ganz kurz traurig lächeln.
Behutsam streicht Wiktor eine widerspenstige Locke hinter Vincents Ohr. „Ich möchte dich hier nicht alleine lassen.“
Ganz leicht lehnt sie sich der Berührung entgegen. „Mir passiert schon nichts.“
„Darum geht es nicht.“ Er legt die Stirn an Vincents und schließt die Augen. „Du hilfst mir, wenn du da bist. Ich werde wahnsinnig, wenn ich nichts tue.“ Er verwebt ihre Finger miteinander. „Und ich fühle mich ruhiger, wenn wir beisammen sind.“ Vincent streicht mit dem Daumen über seine Wange. Ja, doch. Wenigstens in seiner Nähe zu sein, ist wahrscheinlich besser, als hier allein in Angst und Wut zu ertrinken. „Okay. Ich mach mich fertig.“ „Danke.“
Sanft streicht sie mit der Nasenspitze über seine bevor sie sich von ihm löst.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer zieht er Adams Pullover wieder aus und lässt ihn auf der Sofalehne zurück. Seine Klamotten von gestern liegen noch immer neben dem Bett, wo er sie fallen gelassen hat. Während Vincent sich anzieht, fällt sein Blick auf einen kurzen, schwarzen Ärmel, der unter der zweiten Bettdecke hervorlugt. Er zieht das T-Shirt hervor und muss schwer schlucken. Bruce Springsteen, Worldtour 1992-93 steht auf dem Rücken und auf der Vorderseite ziert die nach unten zeigende Gitarre leicht verdeckt vom Unterarm des Rockstars den weichen Stoff. Es ist eines von Adams Lieblingsshirts. Wiktor hat es ihm mal geschenkt, noch bevor Vincent sie kannte. Und Adam hütet es sorgfältig. Vorgestern noch hat Vincent es ihm selbst extra vorsichtig ausgezogen, obwohl sie sich schon in sehr… ungeduldige Berührungen vertieft hatten. Wieder bohrt sich der Schmerz durch seine Brust; er klammert sich an das Vintageshirt und atmet tief ein.
Als er ins Bad tappst, hat er es noch immer in der Hand.
Ein paar Minuten später tritt er lautlos zurück in die Küche und sieht durch die Tür, wie Wiktor auf dem Sofa sitzt. Sanft gleitet der dunkelgrüne Stoff durch seine Finger, Sorge überschattet sein Gesicht bevor er es in Adams Pullover verbirgt. Vincent kann es ihm nicht verdenken. Das Springsteen Shirt liegt angenehm weich auf ihrer Haut unter dem lockeren Hemd. Sie lässt ihm einen Augenblick Ruhe bevor sie sanft murmelt: „Zieh ihn doch über. “ Langsam schüttelt Wiktor den Kopf und legt den Pulli vorsichtig neben sich. „Ich kann nicht in euren Klamotten im Büro auftauchen.“ „Ich glaube, sie würden es heute nicht mal hinterfragen.“ Behutsam legt sie ihm die Hand auf die Schulter. Wiktor seufzt und streicht mit dem Daumen über ihre Finger. „Können wir das nicht jetzt wieder aufmachen?“ Vincent nickt beruhigend. „Das ist alles deine Sache. Ich dachte nur, vielleicht würdest du dich heute damit besser fühlen.“ Müde lächelnd steht er auf und greift nach ihrer Hand. „Ich fühle mich besser, wenn wenigstens du da bist.“ „Ich bin ja jetzt da.“
Die meiste Zeit sitzt Vincent allerdings einfach am Schreibtisch und starrt ins Leere. Eigentlich bräuchte sie Akteneinsicht und langsam wird der Gedanke, die ermittelnden Kolleg*innen irgendwie zu bestechen, immer mehr zu einer ernsthaften Idee. Er hasst solche Methoden. Aber es geht um Adam. Es gibt in seinem Leben nur eine Hand voll Menschen, für die er Himmel und Hölle in Bewegung setzten würde. Adam ist einer von ihnen. Aber im Augenblick weiß sie einfach nicht wie. Ihre zitternden Finger streicheln über Speedys Fell. Immer wieder. Es beruhigt, auch wenn ihm Wiktors Haar lieber wäre. Oder vor allem Adams. Auch dieser Gedanke bohrt eine glühende Nadel in sein Herz.
Speedys Kopf liegt auf seinem Fuß, sie drückt sich ganz nah an sein Bein. Sie spürt wie Angst und Wut in Vincent toben. Diese lähmende Unruhe, weil er nichts tun kann. Sie dürfen ja nichts tun. Die Ermittlungen zu dem Unfall und die Suche nach Adam, alles mussten sie abgeben. Sie können und sollten nur an dem Milieufall weiter ermitteln, mit dem sie eigentlich seit letzter Woche beschäftigt waren. Seit man einen ehemaligen Kollegen der Direktion Ost aufgefunden hatte. Erschossen. In seinem Auto. Seitdem versinken sie immer weiter in dieser Unterwelt aus Drogen, Geldwäsche und Menschenhandel. Sie sollten dort weitermachen. Auch das ist wichtig.
Aber Vincent kann nicht.
Gedanken entgleiten ihr unentwegt. Die Angst lässt nicht mal zu, dass sie an andere Dinge denkt.
Immer wieder stellt er sich den Unfall vor. Und immer wieder versucht sie, den Nebel der Ungewissheit zu durchbrechen. Warum war Adam dort? Und warum hat er nicht gebremst? Konnte er vielleicht nicht? Und wo ist er jetzt? Hat er den Sturz überhaupt überlebt? Wer versteckt ihn und warum? Oder muss er sich verstecken? Aber vor wem? Wa.rum. Was haben sie getan, dass das Leben sie so auseinander reißen muss? Hätten sie sich niemals wirklich finden dürfen, war das schon wieder zu viel Glück in ihrem Leben?
Wenigstens wird durch den Unfall wirklich sofort nach ihm gesucht. Wenigstens scheinen die Kolleg*innen ihren Job ernst zu nehmen. Gestern waren sie hier, haben Fragen gestellt; das ganze Team musste stundenlang Rede und Antwort stehen. Die blöden Bemerkungen, woher er denn so viel über Adams Privatleben wüsste, sind in all der Wut und Verzweiflung einfach an ihm abgeprallt. Die können sie alle mal. Adam, Wiktor und er wissen, was sie aneinander haben und niemand sonst hat eine Rechtfertigung verdient. Es ist einfach so furchtbar irrelevant für die Arbeit oder das Leben der anderen. Aber klar, viel zu viele Menschen werden sich nicht ändern. Kein Wunder, dass besonders Wiktor noch immer oft verunsichert ist.
Unwillkürlich zuckt Vincent zusammen.
Was, wenn man Adam deshalb etwas angetan hat? Aber wer zur Hölle sollte das tun? Hier? Aber vor allem… auf diese Weise? Es ist nicht so, dass sie irgendetwas besonders verstecken würden. Sie verhalten sich eben ganz normal. Aber selbst wenn… dann würde man sie doch eher auf offener Straße angreifen? Oder während der Arbeit. So läuft das doch sonst immer. Warum sollte jemand deshalb so einen Aufstand anzetteln? So ein mutwillig herbeigeführter Unfall ist doch viel zu umständlich; zumal der Kopfschuss viel zu eindeutig auf ein Verbrechen hinweist.
Ein Bild blitzt in Vincents Geist auf. Eine Kugel, die von hinten durch Adams weißen Helm schlägt.
Er zuckt zusammen, muss würgen und seine Finger verkrampfen sich über Speedys Rücken.
Sie winselt leise, setzt sich auf und stupst die Nase an sein Knie. Vincent atmet tief, konzentriert sich auf die braunen Flecken auf ihrem Rücken. Er zählt bis fünf und schafft es, das Bild energisch fort zu schieben. „Tut mir leid, Kleines“, flüstert er und krault beruhigend hinter den weichen Ohren. Speedy legt den Kopf auf seinen Oberschenkel und blickt ihn aus sanften, traurigen Augen an.
Vielleicht wurde Adam verfolgt und ist dann in diesen Unfall geraten? Vielleicht wurde er getrieben. Aber… wenn er allein unterwegs ist, war er bisher eigentlich… sicher. Er fällt nicht so auf, wie sie selbst. Arschlöcher würden nicht bemerken, dass er Eigenschaften hat, die sie so sehr hassen. Nicht, solange Vincent nicht dabei ist. Es tut immer noch weh, zu wissen, dass Adam diesen Hass erst dadurch selbst erleben musste, weil er sie kennt. Es kommt hier nicht so oft vor, wie in Berlin. Aber klar, es hört nie so richtig auf. Aber soll das wirklich mit dieser Geschichte zusammenhängen? Und warum dann Adam? Hätten die nicht eher sie ausgesucht? Vincent weiß, dass er selbst normalerweise das Problem für solche Leute ist.
Viel zu viele Fragen und auf keine gibt es eine Antwort. Ein verdammter Wirbelsturm in Vincents Geist, der nur ihre Wut und Panik in die Höhe treibt.
Speedy brummelt leise und hebt den Kopf von Vincents Beinen, als sich Wiktors Schritte nähern.
„Vincent?“ Seine Stimme ist behutsam und dünn.
Sie schaut zu ihm auf und obwohl er direkt neben dem Schreibtisch steht, ist sein Gesicht verschwommen. Klar, die Tränen. Immer wieder sind sie da. Vincent merkt es schon gar nicht mehr und blinzelt sie jetzt einfach fort.
„Hast du schon was gegessen heute?“ Noch bevor Vincent mechanisch den Kopf schüttelt, stellt er einen Teller auf den Tisch. „Probier mal.“ Vincent ist ihm dankbar und trotzdem ist ihr wirklich nicht nach Essen. „Hat Wolle selbst gemacht.“
Der lehnt sich an das kleine Geländer neben Vincents und Adams Platz. „Naja, ohne meine Frau wär ich n bisschen aufgeschmissen gewesen. Sie möchte, dass wir wenigstens versorgt sind und hat extra ne vegane Variante rausgesucht, damit du auch was davon hast.“ Auch Wolles Stimme ist einfach unendlich traurig.
Wie ein Schatten hat sich Adams Abwesenheit über das ganze Team gelegt. Die Angst. Die Ungewissheit. Keiner von ihnen hat wirklich geschlafen. In drückender Stille erledigen sie ihre Arbeiten mehr oder weniger. Sogar die Tür zu Pawlaks Büro ist nur einen Spalt breit geöffnet; auch von dort ist kaum etwas zu hören. Zäh kriecht das Unwohlsein um sie alle herum und vernichtet den heiteren Trubel, der hier sonst zuhause ist. Gesten wie diese sind ein trotziger Versuch, einer vollständigen Schockstarre zu entgehen.
Vincent kann sich ein leises „Danke“ abringen. Es sieht wirklich liebevoll zubereitet aus. Aber er kann nicht. Sein Körper will nicht. Es geht nicht.
Wolle nickt verständnisvoll und wendet sich wieder ab; Speedy tappt ihm hinterher. Sie wird wieder ihre Runde drehen, überall mal mit der Nase stupsen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber heute gibt es nichts zu wedeln. Speedys Rute bleibt ruhig.
Wiktor hockt sich neben den Tisch und bettet das Kinn auf seine verschränkten Arme auf der Tischplatte. „Vincent, bitte“, murmelt er erschöpft. Langsam schüttelt sie den Kopf. Aus Gewohnheit streckt sie die Hand nach ihm aus, um ihm besänftigend durchs Haar zu streichen. Warnend gleitet Wiktors Blick zu den anderen. Vincent hält inne. Niemand achtet auf sie beide. Und trotzdem… ja, sie hatten sich geeinigt, im Büro Zärtlichkeiten einzuschränken. Normalerweise war das ja auch kein Problem. Nur jetzt würde sie Wiktor wirklich gern damit helfen. Stattdessen löst der eine Hand unterm Kinn und greift im Schutz des Tisches nach Vincents Fingern. Das geht für den Moment auch.
„Du hast doch selbst noch nichts gegessen, stimmt’s?“ Ertappt weichen die blauen Augen ihrem sanften Blick aus. Wusste Vincent es doch. „Ja. Aber wir sollten was essen. Um bei Kräften zu bleiben. Sie könnten Adam jeden Moment finden–“ „Ich will nicht, dass sie ihn finden!“ Obwohl ihre Stimme kaum mehr als ein ersticktes Flüstern ist, unterbricht sie Wiktor damit schneidend. Er drückt Vincents Hand; scheint fast zu verstehen, doch Vincent spricht weiter: „Ich will, dass er zurückkommt.“ Finden macht Adam passiv. Und das würde bedeuten, dass er tot ist. Oder nah dran, nach achtundvierzig Stunden. Und diesen Gedanken erträgt Vincent nicht. Dahinter steht ein solch allmächtiger Schmerz, dass er sich sicher ist, daran zu zerbrechen.
Wiktor schluckt schwer. Er versteht ganz genau. Natürlich; seine Gefühle für Adam sind sehr ähnlicher Natur wie Vincents. Und er versteht auch, dass ihre erzwungene Tatenlosigkeit alles nur noch schlimmer macht.
Vielleicht sollten sie Edytas Angebot doch annehmen. Gestern schon hatte sie in verschwörerischem Ton erwähnt, dass Wiktor und er ihr durchaus eine Hilfe wären, würden sie Speedy mal zu einer ausladenden Gassirunde am Nachmittag abholen. Sie brauche wohl dringend mal wieder Auslauf, der ihrem Berufsstand als… naja Spürhund gerecht würde. Keine Ahnung, ob das ermittelnde Kollegium sich an der Nase herumführen ließe aber mittlerweile ist Vincent nah dran, dass ihm auch das egal wäre. Seufzend fährt er sich mit den Fingern durchs Haar. Er sehnt sich nach Klarheit. Irgendwo muss es doch einen Weg aus dieser Hölle geben!
Wiktor nickt abwesend und nach einem kurzen, prüfenden Blick zu den anderen zieht er Vincents Finger behutsam ein wenig zu sich und legt sie an seine Stirn; schließt für einen Moment die Augen. Vincents Herz blutet. Sie respektiert, dass er vorsichtig sein will aber gerade jetzt will sie ihn einfach nur fest in den Arm nehmen. Aber alles, was ihr bleibt, ist ein Streicheln mit dem Daumen über seinen Handrücken.
In Pawlaks Büro klingelt das Telefon. Das Geräusch zerstört den Augenblick.
Wiktor steht auf, als sei nichts gewesen und geht zu seinem Schreibtisch zurück. Im Vorbeigehen stibitzt er sich eine der Brotscheiben mit Pilzen und Käse vom Teller. Vincent begegnet seinem vielsagenden Blick mit einem ergebenen Nicken; sie hat ja schon verstanden.
Sie seufzt und starrt auf den Teller. Während er noch versucht, sich zum Essen durchzuringen, denn Wiktor hat ja eigentlich Recht, öffnet sich die Tür zu Pawlaks Büro.
„Vincent, ich muss Sie sprechen, bitte.“ Er wirft einen kurzen Blick in die Runde und verschwindet ohne weitere Erklärung. Irgendwas in seiner Stimme alarmiert Vincent. Wie gestern auf der Brücke kriecht die Angst als kalte Schlange seinen Rücken hinauf. Er spürt, wie Wiktors Blick ihm verunsichert folgt, bis er die Tür hinter sich schließt.
Pawlak steht am offenen Fenster und blickt in den unpassend sonnigen Tag hinaus. Sein Gesicht wirkt heute so viel älter als sonst, auch er trägt tiefe Schatten unter den Augen. Es riecht nach frischem Zigarettenrauch. Als Vincent eintritt, wendet Pawlak sich ihm zu und deutet auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. „Ich glaube, Sie setzen sich besser.“ Vincent folgt der Geste eher aus Instinkt. „Was ist passiert?“ Eine Ahnung legt ihre schattenhaften Eisklauen auf seine Schultern. Karol setzt sich ebenfalls, stützt die Ellenbogen auf die Tischplatte und ringt erschöpft die Hände. „Ich habe gerade einen Anruf erhalten.“ Sein Blick bleibt auf den Tisch gesenkt und seine Stimme wird leiser, als könne er die Tatsachen dadurch entschärfen. „Die Kollegen haben eine Leiche gefunden.“ Er ringt nach Worten. Eis bohrt sich in Vincents Schultern; jagt die Kälte über ihren Rücken. „Adams Beschreibung passt leider sehr gut."
Nein.
„Deshalb wurde ich gebeten, die Identifizierung durchzuführen.“
Vincents Herz setzt wieder ein. Blitzschnell sortiert sein Hirn, was er gerade gehört hat.
Das bedeutet aber auch, sie wissen nicht sicher, dass der Tote wirklich Adam ist! Es steht noch nichts fest. Gar nichts!
Karol beobachtet ihn in einer Mischung aus Vorsicht und eigenem Schmerz. Ruhe überkommt Vincent. Der Eisklumpen in ihrer Brust schwebt in völliger Leere. Langsam spricht Pawlak weiter; schließt eine Faust um die andere und sieht Vincent über seine Hände hinweg an. „Ich weiß, dass… du und Adam… Ihr steht euch sehr nahe?! “ Vincent weiß nicht, ob sie nickt. Sie schaut Pawlak an, sieht ihn aber nicht so richtig. Karol räuspert sich: „Wenn Sie… Wenn du es dir also zutraust, wäre es gut, dass du mich begleitest.“ „Jetzt gleich?“
Er zögert mit seiner Antwort. „Nun, so schnell wie möglich. Aber überlege es dir wirklich gut. Ich weiß nicht, in welchem Zustand er ist.“ „Der Tote!“
Vincents Stimme klingt weit weg. Kalt. Hart.
Karol betrachtet die Tischplatte. „Ja, natürlich.“ Da ist keine Kraft hinter den Worten.
Vincents Kopf weigert sich vehement, diese Möglichkeit anzunehmen.
Und Pawlak wagt anscheinend schon nicht mehr, auf etwas anderes zu hoffen.
Er steht auf und geht zur Tür. Über der Klinke hält seine Hand kurz inne; er atmet noch einmal tief durch und Vincent ist sich nicht sicher, ob sie diesen Moment überhaupt sehen sollte.
Als Karol die Tür öffnet und um allgemeine Aufmerksamkeit bitten will, ist das schon nicht mehr nötig. Also erklärt er in knappen Sätzen: „Ich habe einen Anruf erhalten. Es wurde vielleicht Adams Leiche gefunden und die Kollegen haben mich um die Identifizierung gebeten. Ich werde jetzt gleich hinfahren und Kollege Ross wird mich begleiten.“ Ungläubige Stille folgt diesen Worten.
Er schaut zu Vincent zurück, der in der Tür steht. Sie nickt in die fassungslose Runde und ihr Blick flackert unweigerlich zu Wiktor. Kreidebleich sitzt er in seinem Stuhl, die Hände zu Fäusten geballt in seinem Schoß. Vincent will ihn in den Arm nehmen. Aber es geht nicht. Nicht hier mitten im Büro. Edyta hat die Hand auf Wiktors Schulter gelegt, auch wenn sie selbst den Tränen nahe zu sein scheint. Wolle schließt die Augen und verzieht das Gesicht in Bitterkeit. Speedy winselt leise.
Vincent friert. Und es liegt nicht an den kühlen Gängen der fremden Rechtsmedizin.
Sie zwingt sich zu jedem Schritt. Zwei Geister toben in ihr, bekämpfen sich unerbittlich. Einer ist die Angst, die da gar nicht rein will. Die glaubt, dass die Zeit einfach nicht weitergehen wird, wenn sie sich weigert zu folgen. Wenn sie Adams Leiche niemals sieht, dann ist er auch nicht tot. Nicht endgültig und unwiederbringlich fort. Dann kann die Hoffnung weiter glühen. Dann muss er nicht zerbrechen. Dann ist sein Leben nicht vorbei. Solange er Adams Leiche nicht gesehen hat, bleibt die Möglichkeit, dass Adam ihn einfach nur nicht mehr in seinem Leben wollte. Dass Adam irgendwo anders glücklich werden kann. Dass er einfach lebt.
Der Andere ist der Trotz, der den Toten sofort sehen will. Wenn Vincent die Leiche sieht, weiß sie, dass es nicht Adam ist. Dann lebt er noch. Dann ist er nicht endgültig fort. Dann ist er noch da draußen irgendwo, fängt ein neues Leben ohne ihn an; wird woanders glücklich. Lebt einfach.
Und irgendwo ganz tief in Vincent ist da noch ein kleiner Teil, der genau weiß, dass das hier das Ende ist. Adams Beschreibung ist sehr genau. Wenn also eine Leiche gefunden wurde, die auf diese Beschreibung passt, dann…
Vincent weiß, dass dieser Abgrund auf ihn wartet. Und sie muss auf ihn zugehen. Wenn sie es nicht tut, wird er trotzdem bleiben.
Schmerz. Unendlicher Schmerz.
Vincent erinnert sich an ihre letzte Berührung. Der letzte Augenblick von Nähe. Der letzte Kuss. Das letzte Streicheln durch sein Haar. Das letzte Lächeln. Der letzte liebevolle, müde Blick der grünen Augen. Vor zwei Tagen. Alles kommt ihm jetzt viel zu kurz vor. Viel zu flüchtig. Und doch weiß sie, dass keine Berührung eine letzte gute sein kann, wenn sie nicht genau das sein soll. Źrebię. Nicht oft genug hat er das spüren dürfen. Es war einfach nicht genug. Drei Jahre waren verdammt nochmal nicht genug Zeit mit Adam. Nicht, nachdem sie erst vor ein paar Monaten endlich die letzten Schritte zueinander gewagt hatten. Aber sie waren wohl alles, was Vincent verdient.
Pawlaks von einem dunklen Sakko bedeckter Rücken hält vor Vincent inne. Sie bleibt stehen.
Der Rechtsmediziner öffnet die Schiebetür aus blankem Edelstahl und führt sie in den großen, gefliesten Raum.
Auf dem Seziertisch ganz hinten liegt jemand, verborgen von einem weißen Tuch.
Pawlak stellt Fragen. Kurz, knapp, mit scharfem Ton.
Er bekommt Antworten. Ruhig, sanft, auf polnisch.
Vincent versteht genug. Er will es nicht hören. Und doch muss er es wissen. Es geht um eine Kette, die der Tote trug. Dünn, aus Gold, mit einem kleinen Kreuz als Anhänger.
Ein Brenneisen drückt sich unbarmherzig in Vincents eiskaltes Herz.
Auch ein stark zerstörter, weißer Motorradhelm wurde beim Toten gefunden.
Vincents Blick hängt an dem noch verhüllten Körper, als sie behutsam näher kommt.
Er versucht sich vorzustellen, ob das unter den Tüchern wirklich jener Körper ist, der ihm mittlerweile fast so vertraut ist, wie sein eigener.
Sie versucht, eine klare Antwort zu finden, ohne das Gesicht sehen zu müssen. Vergeblich. Natürlich.
Massive Verletzungen soll der Körper aufweisen. Vom Unfall. Aber wohl auch von absichtlich zugefügter Gewalt danach. „Es grenzt an Folter.“
Vincent hält inne. Er steht jetzt ganz nah neben dem Toten. Die Nasenspitze hebt das Tuch beinahe frech in die Höhe. „Tattoos?“ Ihre Stimme kratzt viel zu sehr. Ein freundlicher aber fragender Blick trifft sie. Vincent räuspert sich und wiederholt deutlicher: „Adam ist tätowiert. Zum Beispiel rechts, auf der Innenseite des Unterarms…“ Wieder bricht seine Stimme.
Tränen, sie sind seit ein paar Minuten Vincents ständige Begleitung.
Das zunächst recht sichere Kopfschütteln des Kollegen hätte ihr Hoffnung geben können. Wenn er nicht jetzt stutzig wird. „Das kann ich leider nicht mehr sagen. Der Unterarm ist stark verletzt.“ Pawlak atmet tief durch und auch Vincent sammelt seine Fassung zusammen. Behutsam verschafft der fremde Kollege sich Platz neben Vincent und hebt das Tuch vom rechten Unterarm des Toten.
Da, wo Adam seine Rose trägt, breitet sich hier eine bösartig frische Brandwunde aus. Fast der gesamte Unterarm ist von einer großen Fläche blanken Fleisches überzogen, die Wundränder treten schwarz hervor; weiße Blasen durchziehen rotes Gewebe.
Wenn sie da war, ist von der Rose nichts mehr übrig.
Einfach verbrannt.
Vincents liebste Rose...
Wut kocht in ihm; der glühende Durst nach Rache. Warum tun sie Adam sowas an? Und wer, gottverdammt!
„Kurwa mac“, flüstert Pawlak neben ihm. Vincent kann nur nicken. Die Wut macht ihn ein wenig gefasster. Der Gerichtsmediziner legt das Tuch wieder über den Arm, dann geht er zum Kopf des Toten und greift den Stoff dort mit beiden Händen. „Bereit?“ Ist ja nett, dass er fragt aber an diesem Punkt wirkt diese Rücksicht so… überflüssig. Innerlich zuckt Vincent die Schultern. Das ist der Moment. Wenn sie jetzt gehen würde, müsste sie sich nochmal bis hierher kämpfen. Vincent muss sein Gesicht sehen. Vorher ist hier nichts klar genug. Er kann nicht gehen ohne diesen Anblick. Äußerlich nickt Vincent nur. Das Tuch verschwindet.
Schmerz.
Heiß.
Eiskalt.
Stechend.
Brennend.
Vincents Blick zuckt zurück. Doch dann zwingt er sich, hinzusehen.
Das Haar in der Farbe seinem so ähnlich. Ein kaltes Braun hier im sterilen Licht. Die Stirn durchziehen dünne Fältchen vom vielen Hochziehen. Dichte Augenbrauen. Feine Linien an den Augenwinkeln, vom Lachen. Rechts eine frische Platzwunde zur Schläfe hin. Tiefe Schatten unter den Augen. Scharf ziehen sich die Kieferknochen nach vorn, ein dunkler Bartschatten gibt ihnen Form.
Vincents Hirn verarbeitet langsam, was er sieht. Und wird stutzig.
Das vereinzelte Silber im Haar fehlt.
Vincents Herz schlägt schmerzhaft schneller.
Außerdem hatte Adam sich zu lange vorher nicht rasiert. Der Bart ist zu kurz!
Und an der Oberlippe fehlt die feine Narbe! Von dem Moment, als er als Kind mit dem Fahrrad gestürzt war und sich mit dem abgeplatzten Zahn selbst in die Lippe geschnitten hatte. Normalerweise wird sie vom Bart versteckt. Vincent weiß ganz genau, wie sie sich an seinen Lippen anfühlt.
Außerdem sind die Augenbrauen viel zu breit!
Zitternd atmet Vincent ein: „Welche Farbe haben die Augen?“
Der fremde Kollege zieht vorsichtig mit zwei Fingern die Augenlider auseinander. „Blau.“
Oh Gott.
Vincent dreht sich weg; sieht dabei, wie Pawlak erleichtert die Augen schließt.
„Das ist nicht Adam.“ Wieder ist ihre Stimme belegt; instinktiv fährt sie sich mit bebenden Fingern durchs Haar; weiß nicht wohin mit dieser seltsamen Energie. Muss ein paar Schritte durch den Raum gehen. Einerseits fällt eine unglaubliche Last von ihr, andererseits erblüht die Erkenntnis, dass sie jetzt wieder nichts Neues mehr wissen. „Er ist es nicht.“ Wiederholt Vincent wie ein Mantra.
Dort, auf diesem kalten Tisch aus schimmerndem Edelstahl liegt nicht Adam Raczek. Dieser Tote ist nicht Adam! Auch, wenn er ihm gespenstisch ähnlich sieht. Und wenn er noch so sehr Adams Kette trug.
Er ist es nicht!
„Sind Sie sicher?”
„Ja. Der Tote ist nicht Kollege Raczek!” Pawlaks Stimme lässt keine Zweifel mehr zu. Das Tuch verbirgt das unbekannte Gesicht wieder. Vincent atmet geräuschvoll aus. Mit zitternden Fingern fischt er nach seinem Handy. Er muss es Wiktor sagen.
Dieser seltsame, verwirbelte Zustand aus Erleichterung, Verwirrung, Wut und neuer alter Angst legt sich wie ein dämpfender Nebel um Vincents Geist. Während er eine kurze Nachricht an Wiktor tippt, hört er, wie zwischen Pawlak und dem Kollegen der Wust an neuen Fragen aufkommt.
Ob das dann wirklich Adams Kette sei. Und sein Helm. Und wenn ja, warum der Tote dann beides bei sich hatte. Warum er Adams Jacke trug.
Vincent kann die Dinge gerade nicht erfassen. Er ahnt, dass Adams Verschwinden doch Absicht sein muss. Und dass hier irgendjemand ein bösartiges Spiel mit… wahrscheinlich dem ganzen Team Swiecko spielen will. Aber dafür ist gerade kein Raum in seinem Kopf.
Er eilt nach draußen zurück, plötzlich erträgt er die Pathologie nicht mehr. Außerdem hat er hier drin kein Netz. Heiß trifft die Frühlingssonne seine Haut, als er die Tür zur Seite drückt und das Handy schon am Ohr hat.
„Vincent, serce–“
Sie unterbricht ihn, bevor sie vor Tränen wieder nicht mehr sprechen kann: „Wiktor, nim nie jest!“
„że nie jest? “ Wiktors Stimme zittert.
Heiß rinnen die Tränen über Vincents Wangen, als sie den Kopf schüttelt, als könne er sie sehen. „Er ist es wirklich nicht!“
Notes:
Ich weiß, Adam hat eigentlich keine Narbe an der Lippe. Naja jetzt schon ^^'
Danke fürs Lesen, lasst gern eure Gedanken hier.
Chapter 3: Kämpfe!
Notes:
CNs animals used as weapons; homophobic german s-slur
(See the end of the chapter for more notes.)
Chapter Text
Frech ist sie, die Zeit. Seit Adam weg ist, scheint sie es nicht für nötig zu halten, Vincent anständig mitzunehmen. Immer wieder lässt sie ihn zurück; verschwindet einfach, ohne sich zu verabschieden. Und dann zieht sie ihn rabiat wieder an sich und tut so, als sei er ihr ganz normal gefolgt und nicht plötzlich viel zu weit gestolpert. Er weiß, dass er eine reichliche Stunde mit Pawlak im Auto gesessen haben muss. Aber… hat sie nicht eben erst aufgelegt? Und nun steigt sie schon wieder die Treppen zum Büro hinauf.
„Vincent?“
Er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen.
Pawlak holt zu ihm auf. Aus der Tasche zieht er einen kleinen, durchsichtigen Beweismittelbeutel. „Die gehört erstmal dir, denke ich.“ Seine Stimme klingt belegt. Das kleine Kreuz blinkt kurz im kalten Licht der milchigen Deckenleuchten, bevor Pawlak es in Vincents Hand legt und ihre Faust darum schließt.
Vincent blinzelt.
Nein, sie gehört Adam! Heute und Gestern und Jetzt und überhaupt Immer gehört die Kette doch… Adam.
Pawlak geht an ihm vorbei und verschwindet durch die Tür zum Büro.
Vincent betrachtet das Schmuckstück. Die feinen Glieder sehen so fehl am Platz aus – in seiner Hand, nicht an Adams Hals. Das Kreuz liegt auf ihrer Handfläche, nicht über Adams Brustbein. Da gehört es doch hin.
Langsam schließt sie die Faust wieder, die dünne Folie eine Barriere zwischen seiner Haut und dem zarten Gold. Als dürfe er sie nicht greifen können. Wie Adam.
In ihren Gedanken ist er ganz nah und doch kann sie ihn nicht greifen.
Müsste sie nicht spüren, wenn er tot wär?
Ein gequältes Grinsen spannt in ihren Wangen. Natürlich nicht. Sowas passiert nur im Nachhinein. Dass Menschen sich rekonstruieren, sie hätten in diesem Moment etwas geahnt; einen Traum gehabt oder anderweitig eine Art Vision erlebt, sobald sie vom Tod einer geliebten Person erfahren. Die Forschung ist sich nicht sicher, warum. Wahrscheinlich ein Aspekt der Trauer. Aber rational gesehen – das weiß Vincent genau – kann er einfach nicht wissen, ob Adam vielleicht gerade jetzt in diesem Moment… stirbt.
Übelkeit steigt in ihm auf. Sein Herz hämmert gegen seine Rippen. Ihr Geist hat trotzdem nicht die Gnade, auf Bildfetzen zu verzichten, in denen Adam auf verschiedene Arten stirbt: Messer. Schläge. Feuer. Zerstören den ihr so vertrauten Körper. Seine eigene Dienstwaffe. Eine Schlinge um seinen Hals.
Die Folie knistert zwischen ihren krampfenden Fingern.
Wieder kriecht dieses eigentümliche Gefühl so lähmend in jeden Winkel ihres Körpers. Seine Haut fühlt sich zu eng an über den Muskeln, juckt so widerlich im Rhythmus ihres dröhnenden Herzschlags. Ihre Lungen ringen nach Luft und haben keinen Platz in ihrer Brust. Als sie die Panikattacke erkennt, ist es zu spät. Er kann sich nicht mehr auf seine Atmung konzentrieren. Alles wirbelt, sein Körper sperrt ihn aus. Schwindel. Sie will den Arm nach der stützenden Wand ausstrecken, doch es geht nicht. Das flache Keuchen dröhnt in seinem Kopf. Ihr Blick verschwimmt so seltsam; ob es Tränen sind, weiß er nicht.
Auf dem Treppenabsatz über ihm schwingt die Tür auf. Als Wiktor Vincent entdeckt, wandelt sich die Verwunderung auf seinem Gesicht in Sorge. Vincent versucht es mit Worten, aber sie bringt nur ein unklares Husten heraus. Wiktor erkennt das Problem trotzdem. Normalerweise sieht eher Adam so aus. In Vincents Kopf brennen die wirren Gedanken. Seine Beine zittern und durch all das Chaos bricht die Erinnerung von hartem Asphalt an ihren Knien. Bitte nich… Sein Körper ignoriert den Wunsch. Doch bevor die Kante der Stufe den Schmerz in seinen Knien explodieren lassen kann, wird sein Fall gestoppt.
Wiktor legt den Arm um ihn. Dreht Vincent sanft herum und stützt ihn, bis er auf den kühlen Stufen sitzt. Hockt sich neben sie, seine Hand auf ihrer Brust, sein Blick sanft aber fest in Vincents. Endlich. Daran kann sie sich orientieren. Fokussiert sich auf Wiktors faszinierend helle Augen und seine Finger durch den Stoff auf ihrer Haut. Und schließlich auf seine ruhigen Atemzüge. Er behält unbeirrt diesen tiefen Rhythmus bei und Vincent gelingt es irgendwann, sich daran anzupassen. Dankbar legt er die Hand auf Wiktors und lässt sich vom beständigen Streicheln an der Schulter erden. Als sie ruhiger wird, weicht die Anspannung langsam auch aus Wiktor. Er dreht sich auf den Sohlen, bis er sich langsam neben Vincent setzen kann und eine Weile atmen sie einfach weiter.
Wiktors Blick wandert wachsam über Vincents Körper und sein Gesicht: „Okay?“
Vincent nickt.
Langsam kann er die Faust um Adams Kette wieder lösen.
Wiktors Hand gleitet von seiner Schulter zu seinem Unterarm. Aus tiefer Sorge werden Fragen in den klaren, blauen Augen. Die Gedanken wirbeln noch immer, dröhnen aber nicht mehr.
„Ich… hab nur dran gedacht…“, sie schluckt. Und dann sind die Worte doch plötzlich einfacher: „ob er vielleicht grade stirbt. Jetzt gerade.“ Auch Wiktor schluckt. Doch die Worte tröpfeln weiter, „Und wie“, Vincent kann sie nicht aufhalten, „oder ob ichs schon verpasst hab…“ Hilflos hebt er die Schultern. Es ist alles so schwer zu begreifen. Diese ganze absurde, bösartige Situation. Vielleicht sollten sie einfach eine Weile hier auf der Treppe bleiben. Vielleicht lässt sich das alles gemeinsam leichter begreifen. Oder wenigstens ertragen. Ein bisschen Ruhe, die keine Stille ist, hilft bestimmt.
Aber Wiktor schüttelt langsam den Kopf. „Er ist nicht tot. Noch nicht.“
Seufzend verwebt Vincent ihre Finger auf seiner Brust miteinander. „Es hilft uns beiden nicht weiter, wenn du das aus einem Bauchgefühl heraus einfach abstreiten willst…“
Noch während sie spricht, wird Wiktors Kopfschütteln eindringlicher. „Das ist kein Bauchgefühl, das ist Berufserfahrung.“ Skeptisch hebt Vincent die Augenbraue, lässt sich aber sanft auf die Beine ziehen. Spürt diesen neuen Anflug von Anspannung in Wiktor; seine Worte eilen: „Deswegen habe ich dich gesucht. Wir haben eine Drohung bekommen. Es ergäbe gar keinen Sinn, wenn Adam schon umgebracht wurde.“ Keine Ruhe also. Instinktiv verbirgt Vincent Adams Kette in der Hosentasche; zum Schutz. Ihre Sohlen schweben über die Stufen, während er versucht, die Gedanken zu sortieren. „Lösegeld?“ Für die letzten Schritte zur Tür hinauf bleiben ihre Hände noch beieinander. „Nein, aber trotzdem Erpressung.“
Wiktors Finger verschwinden und drücken die Tür auf.
Das Stimmengewirr kriecht Vincent entgegen; völliger Kontrast zu der drückenden Stille, in der sie das Büro vorhin verlassen hatte. Frust. Empörung. Wut.
Alles scheint sich um den großen Tisch hinter den offenen Schiebetüren zu sammeln. Pawlak stützt die Fäuste auf die hellen Platten; vor ihm ein einzelnes Blatt Papier. Wie von allein tragen Vincents Schritte sie an seine Seite, sodass er nun auch schwarze Buchstaben erkennen kann. Charakteristische Blockschrift einer Schreibmaschine. „Ein Fax“, brummt Pawlak. Die Wut in seiner Stimme trägt einen Mantel aus Fassungslosigkeit. Er schiebt das Blatt zu Vincent. „Ein Fax?“, wiederholt sie ungläubig, dann fliegt ihr Blick über die Zeilen:
Faszinierend, diese Ähnlichkeit, nicht wahr? Letzte Chance die Ermittlungen einzustellen. Eine zweite Verwechslung wird es nicht geben, versprochen.
Wut tobt in seiner Brust. Das ist wirklich ein verdammtes Spiel. Es war geplant, dass sie den fremden Doppelgänger finden sollten. „Kann… man das zurückverfolgen?“ Vincent muss sich zur Ruhe zwingen. Mit Rage kommen sie jetzt nicht weiter.
Wolle stützt sich gegen die Türkante: „Die KT ist dran aber die haben ganz schön geschluckt.“ Müde klingt er. Und sieht auf einmal mindestens zehn Jahre älter aus.
Wiktor nickt widerwillig. „Diese Schreibmaschinen gibt es immer noch wie Sand am Meer.“ Nein. Nein, sie müssen irgendwas haben! Irgendwas muss es geben, dass ihnen hier weiter helfen kann.
„Okay aber irgendwer muss den Wisch doch… gefaxt haben.“ Das Wort kommt nur schwer über die Lippen, es ist alles so absurd. Sie muss sich zusammenreißen, das Papier nicht zu zerknüllen „Wer macht sowas denn heute noch?“
Ratlosigkeit flimmert durch den Raum wie Luft über heißem Asphalt. Wiktors Blick bohrt sich abwesend in die Tischplatte: „Deutsche Behörden.“
Vincents Wut stolpert über seine Stimme. Trocken. Bitter. Eine befremdliche Mischung aus Verzweiflung und Amüsement verziehen sein Gesicht. Das Kichern, das sich dann langsam in ihrer Kehle Bahn bricht, schmeckt bitter und hysterisch. Nach Schmerz. Ihrem eigenen und Wiktors Schmerz.
Pawlak greift nach dem Blatt in ihren Fingern und legt ihm die Hand auf die Schulter. Kurzer, sanfter Druck, fast als wolle er ihn Richtung Tür schieben, während er an Vincent vorbei geht: „Ich muss die Kollegen in Cottbus informieren…“ Es klingt nach lauten Gedanken. Dann hält er nochmal inne: „Und ihr beide: geht kurz an die frische Luft! Und danach sagt ihr mir, ob ihr eure Arbeit noch machen könnt.“
Vincent schüttelt sich, um ihre Gedanken zu sortieren: „Wieso Cottbus? Die Forderung geht doch klar an uns?“ Pawlak seufzt tief und schüttelt den Kopf. „Adam ist nicht unsere Aufgabe. Die Kollegen müssen das hier erfahren.“
Vincent presst die Zähne aufeinander, ein hohes Dröhnen legt sich über Pawlaks Worte.
„Wir können nicht riskieren, dass wir oder die Kollegen noch weiter gefährdet werden.“ Schwer, daraus nicht zu hören, dass es nicht mehr um Adam ginge. Vincent weiß, dass er Karol nicht egal sein kann. Doch die Angst flüstert etwas anderes, mit ihrer gespaltenen Zunge und kriecht mit ihrem kalten, schweren Leib über seinen Rücken. Pawlaks Gesten wirken ziellos: „Diesen… Leuten wird nicht klar sein, dass wir überhaupt nicht ermitteln dürfen. Und wahrscheinlich ist es ihnen auch egal. Aber wir müssen jetzt aufpassen, was wir tun. Und Cottbus auch. Sie müssen davon wissen. Um verantwortungsvoll mit der Situation umzugehen!“
Die Schlange windet sich um Vincents Schultern und drückt ihr die Kehle zu.
„Und wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren und müssen unsere Arbeit weiter machen.“ Pawlaks Finger drücken Knitter in das Papier. „Auch auf unserem Tisch liegt gerade ein Kollege. Und er hat es ebenso verdient, Gerechtigkeit zu erfahren. Genau wie Adam. Wir machen unsere Arbeit, Cottbus machen ihre. Etwas anderes können wir nicht tun!“ Er wartet nicht auf eine Antwort, bevor er in seinem Büro verschwindet. Die Tür fällt nachdrücklich in ihren Rahmen.
Kaltes Zischen in Vincents Ohren. Sie braucht wirklich frische Luft.
Ihre Finger pressen sich um das dünne Röhrchen zusammen. Zynisch streicht der Rauch in ihre Lunge und lässt sich Zeit, in ihrem Geist für Ruhe zu sorgen, was er eigentlich tun soll. Leichter Wind will ihm was von den Fahrzeugen irgendwo unter ihm erzählen. Wie sie monoton vorbeirauschen; bunt schimmern und blitzen in der Mittagssonne. Sonne, die nur langsam durch den kalten Schlangenleib bis auf ihre Schultern sickert. Sein Blick flackert von dem Gewusel der Autobahn über die Felder und Wäldchen in der Ferne. In die Weite, die Adam vor ihnen versteckt.
Das Klappen der Tür schneidet in die schreiende Stille in Vincents Kopf. Schritte, zögernd zuerst, weil Wiktor sich suchend umsieht. Dann zielstrebig auf ihn zu. Endlich ist er ihr gefolgt, nach dem Umweg über seinen Schreibtisch. Hier her, in die hinterste Ecke der Dachterrasse. Für ein bisschen mehr Ruhe. Weil sie Wiktors Nähe jetzt wirklich braucht.
Sie reckt den Kopf ein wenig und atmet den nichtsnutzigen Rauch aus, da liegt seine Hand schon warm und sanft auf ihrem Rücken, streicht langsam herunter zu seiner Flanke und schlüpft in den Raum zwischen seinem Bauch und dem Geländer. Vincent drückt sich an ihn und legt die Hand über seine; spürt die Schlange unter Wiktors Körperwärme schmelzen. Wiktors Kinn sinkt auf seine Schulter, ihre Wangen berühren sich während sie gemeinsam in die Weite starren. Ascheflöckchen rieseln neben ihren Schuhen zu Boden. Vincent vergisst, an der Zigarette zu ziehen. Worte streichen um die beiden herum, lauern aus der Nähe aber wagen sich noch nicht heran. Wiktors erschöpftes Seufzen drückt gegen Vincents Schultern. Eigentlich will sie etwas sagen. Will ihre Gedanken mit ihm teilen, in der Hoffnung, sie gemeinsam sortieren zu können. Aber es geht nicht.
Hinter seinen geschlossenen Augen sind die Bilder plötzlich zurück: Die Edelstahlliege, der verbrannte Unterarm. Der ja nun anscheinend nie ihre Rose war. Aber allein die Vorstellung… da sind auch die Tränen wieder. Es könnte bald dazu kommen. Einen einzigen Fehler braucht es und dann töten die Adam wirklich. Wenn er nicht vorher schon seinen Verletzungen erliegt. Und bis dahin… scheiße. Sie blinzelt, um die Bilder loszuwerden. Blinzelt in die Ferne. Irgendwo da draußen ist Adam gerade allein mit seinen Schmerzen; wahrscheinlich ohne jede Hilfe für seinen Körper, damit umzugehen. Klar, er ist zäh. Aber er soll es nicht sein müssen. Diese ganze Scheiße soll er nicht erleben müssen. Dieser verzweifelte, unmögliche Wunsch, ihm all das zu ersparen, zerrt an Vincents Herz; an seinem Geist.
Wiktor hebt das Kinn und drückt das Gesicht gegen Vincents Schulter. Sein Körper zuckt in einem stummen Schluchzen. Eine kleine Ewigkeit Stille, bis er flüstert: „Tut mir leid, dass ich nicht bei dir war.“ Vincent dreht den Kopf und drückt sanft die Nasenspitze in sein Haar.
Ganz weich, kein Gel drin wie sonst immer, wenn Wiktor aus dem Haus geht. Das Gefühl weckt eine Erinnerung: An sanftes Zwielicht, an weiche Lacken, an zarte Wärme Haut an Haut. Bis zu diesem Augenblick war die Erinnerung schön. Denn das letzte Mal, als Vincent die Nase in Wiktors Haar vergraben hat, war die Welt noch in Ordnung. Denn da lag Adam noch zwischen ihnen. Jetzt tut die Erinnerung weh. Ein Vielleicht-letztes-Mal, das nie eines sein sollte.
Vincent schluckt. „Es war ja nich Adam…“ Wiktor atmet tief durch, dann hebt er den Kopf. Fängt sich allmählich, ganz wie es seine Art ist. „War er ihm sehr ähnlich?“ Im Nachhinein will Vincent sofort widersprechen, aber sie weiß, warum sie darauf käme. „Ja, schon.“ Vorsichtig zieht er die kleine Tüte aus seiner Tasche. „Hatte ja auch seine Kette dabei.“
Wiktor löst sich sanft von ihr, dreht sich zur Seite und lehnt sich neben ihm gegen das Geländer.
„Das war schon alles Absicht.“
Zögert, zuzugreifen, als Vincent die Kette in seine Hand legt.
Schweigen.
Zynischer Rauch in Vincents Lunge.
Folie knistert zwischen Wiktors Fingern. Er schluckt schwer. „Fremde DNA?“
Vincent schüttelt den Kopf und schickt den Rauch über seine andere Schulter fort. Das war eine von Karols vielen Fragen an den Cottbuser Kollegen. Vor ein paar Stunden, die sich schon wieder nach Jahren anfühlen.
Wieder senkt Wiktor den Kopf auf ihre Schulter. Vincent legt den Arm um seine Mitte. Ihre Gedanken wabern in verschiedene Fernen. „Wenn er sie selbst abgenommen hat, hat er noch gelebt. Aber das sagt uns nichts, weil wir nicht wissen, wie lange das her ist.“
Wiktor nickt abwesend. „Oder jemand hat Handschuhe getragen.“
„Es ist alles ein verdammtes Spiel!“ Vincent erinnert sich an das brennende Kribbeln im Nacken; vorhin neben dem Auto, als sie telefoniert haben. In Cottbus. Frustriert schnippt er die Kippe gegen das Geländer. Wenn seine Instinkte ihn schon nicht im Stich lassen, sollte er auch auf sie hören. Jemand muss sie beobachtet haben. Und er hat Pawlak vorhin nichts gesagt. Deswegen kam dieses gottverdammte Fax auch erst rechtzeitig nach ihrer Rückkehr hier an.
„Und wir können die Regeln nur erraten…“ Noch nie war Wiktors Stimme so dunkel von Bitterkeit. Vincent drückt die Zigarette aus, dann nimmt sie vorsichtig die Kette aus Wiktors Hand und öffnet den kleinen Beutel. Wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie Wiktor all diesen Schmerz nehmen können. So unrealistisch. So… kindisch. „Glaubst du, die lassen ihn gehen?“ Die Frage ist emotional, führt sie zu gar nichts und doch… wollte sie gestellt werden. Wenn auch scheu übers Geländer in die Ferne. Wiktor seufzt leise. „Ich weiß nicht, was ich sonst glauben soll…“ Sein Schmerz trifft tief in Vincents Brust. Die hellen Augen beobachten Vincent traurig und verwundert, als sie die Kette aus dem Tütchen in ihre Hand gleiten lässt und den filigranen Verschluss vorsichtig öffnet. Vincent wartet. Und schließlich nickt Wiktor langsam.
Behutsam legt sie die feinen Goldglieder um seinen Hals. Das kleine Kreuz sinkt auf Wiktors Brust und im Nacken schließen Vincents Finger die zarten Ösen wieder ineinander. „So geht sie nich verloren…“ Lächeln. Traurig. Voller Widerstand. Hoffnung. Wiktors Finger zittern, als er sie um den zarten Anhänger schließt. Er legt die Stirn an Vincents.
Ihre Gedanken wogen in Ungewissheit umher. Wellen am Strand. Immer wieder die selben zwei Richtungen: Die Überzeugung, dass Adam lebt und gerettet werden kann. Die Erkenntnis, dass alles zu spät ist und sie ihn, wenn, dann ohnehin nur noch bergen werden.
Wenn sie überhaupt je erfahren, wo Adam jetzt ist. Er sollte hier sein. Das allein wäre richtig. Aber es ist nicht wahr, egal, wie sehr sie es sich wünschen.
Wiktor streicht sanft mit der Nasenspitze zischen Vincents Augenbrauen hinauf, bis die Locken ihn kitzeln. „Wenn wir auf die Forderungen eingehen, bekommt er die Chance bestimmt.“
Dass es trotz aller Forderungen ebenso gut schon lange zu spät sein könnte, sprechen sie nicht aus. Es ist nicht möglich. „Vielleicht kommt auch noch mehr. Es ergibt wenig Sinn, dass wir einfach nur aufhören sollen, nach Adam zu suchen und dann würde man ihn freilassen.“
Vincent nickt, zieht die Stirn in tiefe Falten und löst sich sanft von Wiktor. Ihre Finger spielen abwesend mit dem Ring: „Wenn wir wüssten, wer die sind, ergäbe sich vielleicht auch, worum es ihnen noch geht.“
„Die wissen auf jeden Fall, wer wir sind. Es geht um eine Bande, mit mehr oder weniger Struktur. Soviel konnten… meine Kontakte bisher in Erfahrung bringen.“
Nun funkelt Sorge in blaugrünen Augen. Wiktor lächelt beruhigend und schüttelt leicht den Kopf. Vincent blinzelt lange, dann drückt sie den Ring gegen ihr Kinn und streicht mit der Schuhspitze durch den feinen Schotter zwischen Wiktors Füßen. „Vielleicht wissen sie in Cottbus schon, um wen genau es geht.“
„Seit gestern?“ Wiktor blinzelt ins Sonnenlicht und sieht dennoch Vincents Nicken. „Möglich.“
„Kennst du die Leute?“
Wiktor zieht die Schultern hoch, nickt aber langsam.
„Wie reagieren die auf so ne Nachricht?“ Der Ring wandert stetig zwischen Vincents Fingern.
„Ich glaube kaum, dass Alex zum Beispiel sich davon beeindrucken lässt…“
Wenn sie es nicht tun, gefährden sie Adam. Und wenn doch… auch.
Kälte über Vincents Rücken.
„Alex?“ Er hat das Gefühl, der Name müsse ihm etwas sagen.
Wiktor lächelt warm. „KHK Alexandra Luschke. Adam und sie waren früher ein Team in Cottbus.“
Stimmt. Irgendwann hat Adam davon erzählt. Als er Wiktor ärgern wollte, wie anhänglich der wohl gewesen sei, vor ein paar Jahren, als Adam nochmal zur Amtshilfe in Cottbus war. Das Gespräch war dann abgedriftet; sie hatten sich darüber amüsiert, wie viel Adam damals schon hätte merken müssen. Um Alex ging es nur flüchtig, wenn auch positiv. Vincent erinnert sich an Adams gute Laune dabei und freute sich auch, dass er dieses gute Verhältnis zur ehemaligen Kollegin hatte. Allerdings: „Was sagt denn die Befangenheit dann dazu?“
Wiktor hebt wieder die Schultern. „Nicht viel, schätze ich. Ich nehme an, es ist lange genug her. Die Amtshilfe zählt wahrscheinlich nicht mehr und in sofern…“ Er gestikuliert vage. „Auf jeden Fall dürfte sie mehr Distanz haben als… naja wir zum Beispiel.“
Die Bewegung seiner Hand scheint ihn selbst nicht einzuschließen und wieder fragt Vincent sich, wie er Wiktor aus dieser Unsicherheit helfen könnte. Doch bevor er weiter darüber nachdenken kann, holen Wiktors weitere Worte ihren Fokus zurück: „Aber sie wird Adam nicht aufgeben, so viel ist sicher.“
Genau. Adam nicht aufgeben. Darum geht es.
Energie durchzuckt Vincent. Trauern können sie, wenn er wirklich tot ist. Aber das wird Vincent erst glauben, wenn sie seinen leblosen Körper mit eigenen Händen berührt hat!
Bis dahin… ein altes Mantra kehrt in seinen Geist zurück. Aus den ersten Jahren in Berlin. Als er zum ersten Mal angekommen war. Bei den anderen, die anders waren. Ein alter Freund. Spannend, dass sie ausgerechnet diese Stimme jetzt wieder im Geiste hört. Nach so vielen Jahren. Mourn the dead and fight like hell for the living.
Der Wind spielt mit seinen Locken, als er sich schwungvoll an Wiktor wendet und den Ring wieder im Ausschnitt versteckt: „Würde Alex mit uns reden?“
Wiktor spürt das blaugrüne Funkeln bis auf die Haut. „Was hast du vor?“
Vincent nimmt seine Hand, will ihn Richtung Tür ziehen. „Dienst nach Vorschrift bringt uns hier nich mehr weiter. Und wenn Cottbus was weiß, brauchen wir das.“ Er beugt sich zu Wiktor, sieht ihn eindringlich an und unter ihrem Flüstern wabert ein Knurren: „Ich will, dass er da lebend rauskommt, egal, was es mich kostet!“
Wiktor festigt seinen Griff und hält sie zurück, als Vincent ihn vom Geländer wegziehen will. „Hey“, flüstert er kurz und sucht den funkelnden Blick, „ich weiß, was du meinst aber: es ist nicht ganz egal, ja?“ Eindringlich sieht er sie an, will seine Sorge nicht verbergen.
Vincent blinzelt kurz, schüttelt dann beruhigend den Kopf: „Nein. Nicht ganz.“ Wiktor zieht sie sanft an sich, kann noch nicht nachgeben: „Adam würde sich das nicht verzeihen, das weißt du.“Sie streichelt zärtlich über seine Wange. „Ja. Nein, das mein ich auch nicht. Versprochen.“ Verschränkt ihre Finger miteinander. „Aber solange Adam lebt, müssen wir kämpfen. Mit allem, was wir haben“, er lehnt sich noch einmal an Wiktor und flüstert gegen seine Lippen: „Ich kann nich anders.“ Wiktor legt die Stirn an ihre. „Ich auch nicht…“ Sie atmen gemeinsam durch.
„Dann lass uns nach Cottbus fahren.“
Vincent nickt entschlossen.
Speedy weicht trippelnd vorm Schwung der Glastür zurück und heftet sich an Vincents Versen auf dem Weg zwischen den Schreibtischen hindurch. Edyta läuft beinahe in Wiktor hinein und fängt sie beide kurzerhand ab. „Da seid ihr ja!“ Sie zieht ihn zu Wolles Schreibtisch. Vincent presst die Zähne aufeinander und zögert zu folgen, aber sie bleibt freundlich: „Ist es dringend? Weil wir eigentlich gerade ne Idee haben…“ Edyta hebt streng die Augenbrauen: „Es geht um Lede!“
Wolle nickt: „Es ist alles n bisschen schwammig aber mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass ein gewisser Jurek Misiewicz involviert ist.“
Unwille. Alles, was nicht mit Adam zu tun hat, wirkt so belanglos. Das sollte so nicht sein, das weiß Vincent ganz genau. Aber er kann auch nicht leugnen, dass er gerade eben noch voller Energie war, bei der Aussicht, Adam näher kommen zu können. Nur jetzt, da etwas völlig anderes ihre Aufmerksamkeit verlangt, spürt sie Erschöpfung an sich nagen. Er muss sich ein wenig zwingen, Wolle über die Schulter zu schauen; sich die Person auf dem Bildschirm genauer anzuschauen.
„Bis vor vier Tagen wurde er öfter in Gorzow Wielkopolski gesehen, immer in der Nähe des selben Clubs.“ „Dort war doch Lede auch ständig unterwegs in letzter Zeit“, murmelt Wiktor. Edyta nickt und geht zu ihrem eigenen Schreibtisch herum, hält ihnen eine dünne Mappe mit drei Seiten Protokoll entgegen: „Die Unfallanalyse hat ergeben, dass sein Fahrzeug auf der DK22 eindeutig Richtung Gorzow Wielkopolski fuhr, bevor er gefunden wurde.“
Vincent konzentriert sich auf die Informationen und findet sich damit ab, dass sie jetzt nicht direkt nach Cottbus fahren werden. Pawlak hat ja Recht, der Kollege Lede verdient es genau wie alle anderen, dass sie sich sorgfältig und motiviert um den Fall kümmern.
Wut wabert wieder in ihr auf, als sie sich kurz vorstellt, die Kollegen fühlten sich in Adams Fall so wie er jetzt. Und das hilft tatsächlich. Er atmet tief durch, sammelt sich: „Okay, wissen wir schon irgendwas über diesen Club?“
Das Rädchen an Edytas Maus ratscht zwei mal: „Der Laden nennt sich Cud Nieznane“, sie blickt auf und an Wiktors zusammengezogenen Augenbrauen erkennt Vincent, dass sie hier etwas nicht versteht, doch bevor er fragen kann, offenbart Edyta noch etwas: „Und er gehört:Tanja Doroshenko… “ Vincent wiederholt den Namen lautlos; irgendwas regt sich da.
Die Lede-Akte liegt auf Adams Schreibtisch. Sie greift übers Geländer und zieht den dünnen Papphefter zu sich heran. Der leere Platz verursacht wieder dieses Stechen im Herzen, also dreht sie ihm den Rücken zu. „Hier“, ein paar Mal Blättern und er findet ein Vernehmungsprotokoll, „Tanja Doroshenko hat vorgestern noch ihre Zeugenaussage hier gemacht; bei Adam.“ Stimmt, während sie und Wiktor versucht hatten, Ledes Ex-Frau zu erwischen.
Tiefe Falten ziehen über Wiktors Stirn. „Hat sie Misiewicz erwähnt?“
Speedy tappt Vincent vor die Füße, während er das Protokoll überfliegt und sich schließlich von Wiktor den Rest des Hefters aus der Hand nehmen lässt. Wolles Tischkante drückt gegen seine Hüfte. „Nix; zumindest ist hier nichts dazu.“
Mit verschränkten Armen lehnt Wolle sich zurück. „Sie müsste doch aber wissen, wer in ihrem Club ein und aus geht…“
Vincent legt das Protokoll zurück in den Hefter. Ihre Finger streifen Adams Unterschrift. Ein Gefühl, wie ein kleiner Stromschlag.
„Das sollten wir sie fragen!“ Entschlossen klappt Wiktor die Akte zu.
„Dann solltet ihr da hinfahren.“ Pawlak steht in der Tür seines Büros. Ihr kleiner Aufruhr hat ihn aufmerksam gemacht. Irgendwie sieht auch er seit gestern auf einmal sehr alt und müde aus. Sein Blick wandert von Wiktor zu Vincent, dann nickt er nachdrücklich und verschwindet wieder in seinem Büro.
„Na dann los!“, bricht Wiktor ihr kurzes Schweigen und geht zu seinem Schreibtisch rüber. Vincent nickt: „Wolle, schickst du mir die Adresse?“ „Klar.“ Das gutmütige Brummen klingt fast wie immer. Vincent lächelt in sich hinein und noch während er den Mantel überwirft, spürt er schon die kurze Vibration in der Hosentasche.
Wiktor wirft ihr den Autoschlüssel zu. „Ich schick euch noch ein paar Infos unterwegs, ja?!“
„Danke Edyta!“
Speedy bellt ihnen nach, bis die Tür zum Treppenhaus zu schwingt.
„Wie lange fahren wir eigentlich?“ Vincent rutscht hinters Lenkrad; sie braucht jetzt was, worauf sie sich konzentrieren muss. Wiktor scheint sich auszukennen, also lässt sie das Navi unberührt.
„Ein bisschen mehr als eine Stunde.“ Genug Zeit, sich mit den Details vertraut zu machen.
Vincent startet den Motor.
Wiktor scrollt durch die Dokumente. „Jurek Misiewicz. Mitte vierzig, stammt aus der Nähe von Lublin…“ Die üblichen Fotos gleiten unter seinem Finger über den kleinen Handybildschirm. Stechende Augen unter schwarzen Brauen starren ihn teilnahmslos an. Dann ein scharfes, kantiges Profil; erst die rechte Seite und links zieht eine lange Narbe über die breite Wange. Ein Set Fingerabdrücke, darunter mehr Stichpunkte zur Person und die Vorstrafen. Wiktor murmelt über das leise Brummen des Motors: „Verstöße gegen das Waffengesetz, leichte und schwere KV, KV mit Todesfolge, Betrugsdelikte, Menschenhandel…“ Das geräuschvolle Ausatmen neben ihm fasst seine Stimmung sehr gut zusammen. „Aktuelle Tätigkeit: Unbekannt“, schließt Wiktor.
Vincent zieht die Augenbrauen tief zusammen, während er sich umsieht, um abzubiegen. „Kling schon sehr nach Klischee aber mit der Vita ist er doch auch prädestiniert, für solche Sachen engagiert zu werden…“ „Mhm…“ Es deutet immer mehr darauf hin, dass ihr Problem wirklich größer ist, als sie gehofft haben. Jemand wie Misiewicz ist daran gewöhnt, die Drecksarbeit für andere zu machen, im Zweifelsfall auch Haftstrafen abzusitzen, ohne je seine Kontakte preiszugeben – wenn die Bezahlung stimmt. Und wenn seine Informanten zuverlässig bleiben, dann ist Doroshenkos Laden genau so ein Milieu. Sein Magen zieht sich zusammen. Es ist leider sehr wahrscheinlich, dass sie in ein Wespennest stechen werden. Um wirklich etwas zu bewirken und Gerechtigkeit für den ehemaligen Kollegen zu erreichen, bräuchten sie viel Zeit. Zeit, die von Adam geliehen ist.
Eiseskälte von dem schweren Klumpen in seinem Bauch wabert durch seinen Körper und kriecht ihm über den Rücken. Verzweifelt scrollt er weiter, doch zu Misiewicz gibt es keine Infos mehr.
„Cud Nieznane“, murmelt Vincent nachdenklich, „Himmelreich? Oder so?“ Ein Fünkchen Wärme in seine Brust lässt Wiktor lächeln. Er nickt. Sie grinst schüchtern. Wiktors Wangen werden heiß und er beeilt sich, das andere Dokument zu öffnen. „Klingt ein bisschen hochtrabend für einen Nightclub, oder?“
Vincent zuckt die Schultern: „Wer weiß, in was für ein Establishment wir dort geraten…“
Schlechtes Gewissen sticht wieder in Wiktors Bauch. Er weiß ziemlich genau, was das für ein Establishment sein wird. Aber es gibt auch kein gutes Argument, warum sie dort nicht hingehen sollten. Er könnte sein Bauchgefühl nicht rechtfertigen. Vor Vince vielleicht aber bestimmt nicht vor Pawlak. Und wenn sie das hier nicht erledigen, kann er ihren Plan mit Cottbus erst recht nicht mehr rechtfertigen.
Die Schatten der Bäume streifen in breiten Säulen lautlos über das Auto. Licht und Dunkel, gut und schlecht, richtig und falsch. Es wird immer schwerer, die Angst in Schach zu halten. Er kann sich nicht erinnern, je so sehr Angst um Adam gehabt zu haben. Und er hat nie damit gerechnet, sich jemals so zu fühlen. In den letzten Stunden wandelte sie seine klaren Gedanken immer mehr zu grotesken Eiswirbeln, die in seinem Kopf, seinem Herzen und vor seinen Augen stürmen; sich gnadenlose kleine Splitter immer wieder in ihn hinein bohren. Das Bedürfnis, all dem nachzugeben, wächst immer mehr. Vorhin, als er Vincent alleine gehen lassen musste, hätte er vor Schmerz fast geschrien. Wenn das nur helfen würde. Wenn das was ändern könnte.
Aber er kann Vincent nicht alleine lassen. Er sieht ihr an, dass sie alles gibt, um an seiner Seite zu bleiben. Es ist das mindeste, das selbe zu tun. Damit sie weiter machen können. Denn das müssen sie, eine andere Option haben sie nicht.
„Wissen wir sonst schon was über den Laden?“ Die sanfte Stimme klingt heiser, rau. Angst. Auch da ist sie. Er würde gern irgendwas sagen, aber ihm fällt kein Trost ein. Er kann Vincent nur ansehen und ihr hoffentlich vermitteln, was er fühlt. Vincent blinzelt langsam.
Wiktor zwingt sich dazu, die Finger zum Tippen zu bewegen. „Nicht viel…“ Wolles Notizen sind kurz und auch die offizielle Website ist zwar geschmackvoll gestaltet aber inhaltlich nichts Besonderes. Ebenso gewöhnlich ist der Auftritt in den sozialen Medien. Wiktor beschreibt Vincent seine Beobachtungen. „Nur die Inhaberin taucht im öffentlichen Auftritt im Prinzip nicht auf…“
„Muss sie ja nicht…“ Vincent klingt diesmal nicht so überzeugt, wie in früheren Diskussionen über solche Themen wie Transparenz. Wiktors Gedächtnis schenkt ihm das Echo solcher Gespräche. Gerade jetzt gäbe er viel dafür, Adams Einwände à la Wer nichts zu verbergen habe und so weiter von der Rückbank zu hören. Zumal diese Diskussionen unter ihnen nicht mehr anstrengend sind, sondern mehr Rumgealber, wenn ihnen nichts anderes einfällt. Erinnerungen hüllen ihn ein. In der Wärme der Frühjahrssonne durch die Frontscheibe streckt Erschöpfung ihre sanften Fänge nach ihm aus.
„Was spricht eigentlich gegen die Route über Kiełpin?“
Die geliebte Stimme schubst ihn aus dem Schlaf, reist ihm die Augen auf.
Adam stützt die Ellenbogen auf die Lehnen ihrer Sitze; der Sicherheitsgurt der Rückbank spannt über seiner Brust. Vincent verdreht grinsend die Augen: „Dass sie im Navi nicht mal existiert, zum Beispiel.“ Ihre Blicke treffen sich kurz über den Rückspiegel. Frisches Moos auf einem stillen Bergsee.
„Du brauchst kein Navi, wenn du uns dabei hast.“ Die vage Geste mit dem Kopf schließt Wiktor selbst mit ein. Die Grübchen sind vom Bart verborgen aber Wiktor weiß, dass sie da sind. Das breite Grinsen so entspannt, so selbstgefällig.
„Als ob wir abseits der Schnellstraße besser vorankommen.“
„Wir wären unterm Strich eher da! Es is der schnellste Weg zum Ziel.“
Vincent nickt mit wundervoll sarkastischer Miene und zeigt deutlich, dass er Adam nicht ernst nimmt.
Die aufgesetzte Empörung spricht von so viel Heiterkeit: „Wikusz, jetzt sag doch auch mal was!“
Aber Wiktor kann nicht. Der Eissturm in seinem Kopf ebbt ab aber seine Gedanken bleiben zäh. Erleichterung glüht sehnsüchtig aber die Angst ist noch nicht fort. Kein Wort bringt er heraus, kann nur beide betrachten. Sorge legt sich in die sanften, grünen Augen. „Kochani, du siehst aus, als hättest du nen Geist gesehen.“ Auch Vincents Seitenblicke werden besorgt. Wiktor blinzelt konzentriert. Adam betrachtet ihn aufmerksam.
„Wie kommst du hier her?“ Die Worte fühlen sich schwer an auf der Zunge. Adam will seine Verwirrung mit einem Grinsen tarnen: „Durch die Tür!?“
Dick und zäh sind Wiktors Gedanken. Schwerfällig schüttelt er den Kopf: „Nein. Ich mein, was machst du hier?“ Das ergibt doch gar keinen Sinn. Adams Heiterkeit verblasst endgültig. Mit gerunzelter Stirn spricht er behutsam weiter: „Im Moment versuch ich nur, Zeit zu gewinnen…“ Sein Blick wird ernst, bohrt sich in Wiktors Geist, als er langsam die Hand nach ihm ausstreckt. „Du kennst den Abzweig kurz vor Bolemin Richtung Kiełpin doch. Zur Burgruine. Den brauchen wir, sonst ist es zu spät!“ Aber… Adams Hand sinkt sanft und schwer auf seine Schulter. So vermisst, so vertraut durch die Klamotten… Wiktor streckt die Finger nach seinen aus und versucht zu begreifen, als er kühle Haut berührt.
Schmerz explodiert auf seiner Haut.
Rast durch seinen Körper in einer Stichflamme, krampft seine Muskeln zusammen und treibt einen Schrei durch seinen Geist; zwingt seine Augen auf.
Die Bäume flackern über den Wagen. Schatten – Sonne – Schatten – Sonne. Flimmern. Adams Stimme flimmert in seinen Gedanken: Za pozno…
Das Auto wird langsamer. „Hey?“ Vincent spricht leise mit ihm. Sanft aber eindringlich. Ihre Finger streifen vorsichtig sein Bein. Instinktiv legt er die Hand darauf. Wärme.
Sein Herz donnert gegen seine Rippen. Keuchen spannt seine Lungen.
Die Rückbank ist leer.
Natürlich.
Wiktor schluckt. „Wo… wo sind wir?“ „Gleich in Gorzow Wielkopolski. Da vorn ist die Brücke.“
Er blinzelt konzentriert. Die Gegend erkennt er vage wieder. Vincents stumme Frage beantwortet er mit einem unsicheren Nicken. Sie streichelt mit dem Daumen über sein Knie, bevor sie die Hand sanft wieder wegzieht um zu schalten. Wiktor atmet tief durch und kreist die Schultern. Versucht, dieses beklemmende Gefühl loszuwerden. Und erwischt sich bei einem erneuten Blick auf die leere Rückbank, als seine Finger das kleine Kreuz unter seinem Hemd streifen.
Der weite Parkplatz neben der großen Backsteinhalle liegt ziemlich verwaist in der Mittagssonne und dennoch ist sofort klar, dass sie unter Beobachtung stehen, sobald der Wagen über die Schwelle rollt. Industrial chique, wie Wiktor ihr vorhin von der Website zitiert hatte. Eine alte Fabrik, roter Klinker und ein sehr breiter, hoher Schornstein an einer Seite. Große Glasflächen, dunkel getönt, sodass sie von außen jetzt schwarz glänzen. Der Eingang an der breiten Seite mit rotem Teppich wie ein Hotel, flankiert und blockiert von vier breit gebauten und hoch gewachsenen Menschen mit Gesichtern, in denen sich lediglich die Augen bewegen.
Nach kurzem Widerstand verschaffen ihre Dienstausweise ihnen dann doch Zutritt. Sie folgen einem breiten Rücken in weißem T-Shirt in den hinteren Teil der doch erstaunlich hellen Halle, aus dem lautstark die Geräusche mehrerer Werkzeuge zu hören sind. Wieder das Kribbeln in Vincents Nacken. Sie werden beobachtet. Hinterm Tresen werden Gläser geputzt, Treppen zu mehreren leicht erhöhten Sitzinseln werden gewischt und an der Bühne hier hinten wird der Boden ausgetauscht. Neben der Bühne beugen sich zwei Personen über einige Papiere auf einem kleinen, runden Tisch. Vincent sammelt sich, bevor er das sichtlich angespannte Gespräch unterbricht: „Sind Sie Tanja Doroshenko?“ Die beiden blicken auf; die junge Frau mustert sie scharf: „Wer fragt?“
„Mein Name ist Ross, Kripo Swiecko“, er nickt leicht zu Wiktor, „mein Kollege Krol.“
Akkurat gezogene Augenbrauen ziehen sich skeptisch nach oben, nachdem sie die Ausweise gelesen hat. „Sprechen Sie in Ihrer Abteilung nicht miteinander?“
„Wir haben noch ein paar Fragen.“ Die Art, wie sie Wiktor zur Antwort anlächelt, passt irgendwie nicht zu ihrem buissines-casual look mit den lockeren Stoffhosen, hellem Shirt und nur leicht tailliert geschnittenem Jackett. Zu… süß? Bildet Vincent sich die List in ihrem Blick nur ein?
„Na wenn das so ist… Fragen Sie ruhig; meine Mitarbeiter sind durchaus redselig.“ Das knappe Dutzend an Menschen in den weißen Shirts mit dem goldenen Aufdruck hat sich zusammen gerottet; bildet einen losen Kreis um sie drei und niemand sieht sonderlich gewillt aus, mit ihnen zu sprechen. Kribbeln im Nacken. Doch so schnell lassen sie sich nicht verunsichern. Vincent erwidert das Lächeln geradeheraus, unterdrückt den Hauch von Schärfe allerdings nicht: „Vor allem Sie können uns bestimmt weiterhelfen, Frau Doroshenko.“
Sie atmet tief durch, als habe sie es hier mit einem sehr bockigen Kind zu tun und gäbe nun nach, einfach nur um ihre Nerven zu schonen. Dann setzt sie wieder ihr Lächeln auf, süffisant und fast schon verschwörerisch: „Aber nicht hier, Herr Ross.“ Ihr Blick fixiert Vincent, als sie zwischen ihr und Wiktor hindurch geht. Wiktor betrachtet aufmerksam sein Gesicht. Das schwere Gefühl in seinem Bauch zieht immer bitterer. Aber Vincent blinzelt beruhigend, bevor er Doroshenko entschlossen folgt. Das bittere Gefühl lässt sich nicht mildern, es missfällt ihm zutiefst, Vincent allein zu lassen aber es spart ihnen Zeit, wenn er sich gleich mit den Mitarbeitenden beschäftigt. Und vielleicht lässt sich ja auch ein gewisser Jemand endlich mal blicken. Bis dahin hört er sich bei den anderen nach Jurek um.
Tanjas glänzende Halbschuhe klingen leise die Gitterstufen einer weiten Wendeltreppe am anderen Ende der Halle hinauf und verstummen dann schon nach ein paar Schritten hinter einer eleganten Holztür auf edlem Teppich. Instinktiv wandert Vincents Blick über dunkle, wuchtige Möbel; über Hohe Regale, die sich passgenau in die Rundung der Wände schmiegen und schwere Vorhänge, die den Sonnenflecken auf dem Teppich geschwungene Rautenformen geben. Der Raum sieht aus, als gehöre er in ein altes Gutshaus aber nicht in eine zum Club sanierte Fabrikhalle. Das einzige Zeichen von technischem Fortschritt ist der flache, leicht gebogene Bildschirm auf dem Massivholzschreibtisch nebst kabelloser Tastatur und Maus.
Links unter dem Fenster gruppieren sich ein elegantes Sofa auf Pfotenfüßen und zwei barocke Sessel um einen kleinen Glastisch.
Tiefes Knurren grollt aus der Ecke hinter diesen Sesseln, als Vincent das Büro betritt. Tanja schnippt mit den Fingern und der Dobermann verstummt mit zitternden Lefzen, doch die kopierten Ohren bleiben starr auf ihn gerichtet, als sich das Tier demonstrativ neben den ledernen Bürosessel setzt. Die Inhaberin lässt sich betont gelassen hinterm Schreibtisch nieder und streicht mit den Fingerspitzen kurz über den Kopf des Hundes. Dann deutet sie auf den kleinen, offensichtlich unbequemen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. „Setzen Sie sich.“
Sein Bauchgefühl will ihn zögern lassen, doch er würde ihr in die Karten spielen, wenn er seine Anspannung offenbart. Die Tür hinter ihm klickt nicht ins Schloss, bevor er der Aufforderung folgt. Der Raum gibt kein Gefühl von Weite und doch ist es unangenehm, aus dem Schutz der zwei schmalen Schränke an den Flanken der Tür zu treten.
„Also, welche Fragen haben Sie, die Ihnen der Kollege mit dem schmucken Bart offensichtlich nicht beantworten kann?“ Wut sticht mit einem glühenden Schürhaken im Bauch und nur mit einem Biss in die Innenseite der Wange kann Vincent sich im Zaum halten. Sie wird sich nicht provozieren lassen! „Frau Doroshenko, als Inhaberin haben Sie ein scharfes Auge über alle Belange, die den Club betreffen.“ „Das ist keine Frage, Herr Ross.“ Sie lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander.
„Die Grundlage meiner Fragen sind Tatsachen.“
Ihr Mundwinkel zuckt.
„Tatsachen, die Sie selbst uns vorgestern vorgelegt haben und das ziemlich umfangreich sogar.“ Abwartend neigt sie den Kopf; die akkurat gestylten blonden Locken streifen ihre linke Schulter. „Wie kommt es also, dass Sie Herrn Lede nicht bemerkt haben, wenn er doch nachweislich regelmäßig Gast Ihres Clubs war?“
„Die Aufgabe, sich um die Belange der Gäste zu kümmern, habe ich an meine Mitarbeiter übergeben. Ich kenne selbstverständlich nicht jeden Gast; auch die Stammkundschaft nicht. Was ich Ihrem freundlichen Kollegen bereits erklärt habe.“
Er nickt langsam. „Übergeben…“ und dreht ihr dann sein Handy zu, „zum Beispiel an Jurek Misiewicz?“ Ihr Blick streift das Bild nur vage. „Zum Beispiel.“ Sie steht auf und geht zur Sitzecke herüber. Während sie aus einem Regalfach eine Flasche Whisky und Gläser hervorbringt, drückt der Hund die Schulter an ihre Knie, weicht ihr bei keinem Schritt von der Seite und fixiert Vincent nach wie vor.
„Warum haben Sie Herrn Misiewicz bei Ihrer Aussage nicht erwähnt?“
Das Glucksen des Whiskeys in zwei Gläsern klingt viel zu laut in ihrem Schweigen. Und das Lächeln, mit dem Tanja das zweite Glas vor ihr abstellt, dreht Vincent den Magen um. Irgendwas hat er ihr damit gerade verraten. Anfängerfehler. Scheiße.
„Ich an Ihrer Stelle würde die Kommunikation in Ihrer Abteilung bei nächster Gelegenheit stark bemängeln, Kommissar Ross.“ Beinahe vergnügt prostet sie ihm zu. Normalerweise vermeidet er sowas aber als er jetzt die Augenbraue hochzieht, kann er den abfälligen Ausdruck nicht ganz verbergen. Es scheint sie zu amüsieren. Mit fester Stimme verhindert er, dass ihm die Situation entgleitet: „Frau Doroshenko, ich kann mir gut vorstellen, dass mein Kollege und ich gerade den Ablauf Ihres Betriebs stören. Je klarer Sie jetzt mit mir sprechen, umso schneller sind wir auch wieder weg.“ Demonstrativ zieht Vincent das kleine Notizbuch aus der Manteltasche.
„Oh wie rücksichtsvoll.“ Tanja lehnt sich gegen ein Regal und nippt am Glas. „Was genau wollen Sie denn noch wissen?“
„Ist Herr Misiewicz Mitarbeiter Ihres Clubs?“
„Nein.“
„War er das in der Vergangenheit?“
„Nein.“
Sie lächelt in ihren Whiskey.
Der Kugelschreiber drückt tiefe Linien ins Papier. „Woher kennen Sie ihn?“
„Er ist ein alter Freund der Familie und war regelmäßig hier, wie Sie es wahrscheinlich ausdrücken würden. Manchmal unterstützt er meine Mitarbeiter am Einlass. Und nein, er ist trotzdem nicht mein Mitarbeiter.“
Langsam wird es schwer, seinen Ärger zu verbergen. „Wann war das zum letzten Mal der Fall?“
„Vor etwa einer Woche.“
Also noch vor dem Mord am Kollegen Lede.
„Wissen Sie, wo er sich zur Zeit aufhält oder womit er sein Geld verdient?“
„Ich habe ihn seit dem nicht mehr gesehen.“ Sie löst eine Hand vom Glas und legt sie unter den Ellenbogen der anderen Seite, als wolle sie ihren Körper mit beiden Armen abschirmen.
„Gibt es dafür Gründe?“
„Sicher. Aber keine, die er mir verraten hätte.“
Manchmal würde er Menschen gern ganz direkt damit konfrontieren, dass sie ihm gerade ins Gesicht lügen. Aber das ist leider nur selten eine gute Strategie. Und gerade jetzt rät ihr ihr Bauchgefühl davon ab. „Wundert Sie das?“
Diesmal hält Tanja das abfällige Lachen gar nicht erst zurück: „Jurek ist ein erwachsener Mann, wenn ich mich jedes Mal über ihn wundern würde, bekäme ich graue Haare und dafür bin ich wirklich noch zu jung, wissen Sie.“
Dann ist Blond ja die perfekte Wahl, da fällt das nicht so auf. Vincent beißt sich auf die Zunge und wählt dann stattdessen die strategisch klügere Antwort: „Gut, dann frage ich anders: Ist es ungewöhnlich, dass er Ihnen sowas nicht sagt?“
„Es gibt bei Jurek kein gewöhnliches Verhalten.“
„Jeder Mensch zeigt Verhaltensmuster, die für denjenigen individuell normal sind, oder eben nicht.“ Der Schürhaken glüht noch immer, schickt die Wut flimmernd durch ihren Körper.
Der Hund erhebt sich und schleicht durch den Raum.
Tanja hebt leicht die Schultern. „Wenn Sie das sagen…“
„Sorgen Sie sich um diesen alten Freund Ihrer Familie, Frau Doroshenko?“
„Sollte ich?“
Vincent spiegelt ihr gleichgültiges Schulterzucken und lässt den Blick auf seine Notizen gerichtet. „Wenn es Sie nicht beunruhigt, dass er in einen Mordfall involviert sein könnte, dann vermutlich nicht, nein.“
„Dürfen Sie solche Andeutungen überhaupt machen?“ Sie löst sich vom Regal und legt wieder den Kopf schief; wie ein Kind, das die richtige Antwort bereits kennt und die Frage dennoch stellt, um etwas anderes herauszufinden.
„Insofern, dass Sie das als Warnung verstehen können, da die Person entsprechend eine Gefahr darstellen kann.“ Das Gefühl von Triumph ist eigentlich kein gutes Zeichen aber Vincent kann es nunmal nicht leugnen, als ihr für eine Sekunde die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht gleitet. Ein flüchtiger Moment, bevor sie diese Maske von überheblicher Erheiterung wieder aufsetzt. „Wenn das so ist, werde ich mich vorsehen.“ Ihr Blick wandert aus dem Fenster und der Griff ums Glas wird fester, bevor sie Vincent wieder ins Gesicht sieht: „So, möchten Sie jetzt noch länger den Ablauf meines Betriebs stören oder ist das alles?“
Offenbar kann diese Person doch auch deutlich kommunizieren.
„Was ist Ihre Einschätzung, ist es möglich, dass Herr Misiewicz im Kollegium Andeutungen gemacht hat?“
„Wenn Sie dazu eine inhaltliche Antwort möchten, fragen Sie die Leute gern direkt.“
Ein Raus hier! hätte es auch getan aber das passt nicht zum Bild, was sie hier offensichtlich zeichnen möchte. Vincents Lächeln bleibt mit Absicht kühl, als er das Büchlein schließt. „Dann ist das alles.“ Ihr süffisantes Lächeln kann von der Kälte in ihrem Blick nicht ablenken, mit dem sie ihn beobachtet, während er das Buch in die Innentasche steckt. Zweifelhaft, ob selbst ein kräftiger Schnitt die Stimmung im Raum lösen könnte.
Als Vincent aufsteht, grollt wieder tiefes Knurren. Diesmal von der Tür her. Dunkle Augen fixieren ihn. Vincent zwingt sich zur Ruhe. „Herr Ross, Sie sollten wirklich nicht weiter nach Jurek suchen.“ Lange Zähne blitzen unter gekräuselten Lefzen.
Mehr Wut. Wut darüber, dass sie das Tier als Waffe einsetzt und ihn zwingen wird, auf ein unschuldiges Lebewesen zu schießen, wenn sie dieses Spiel hier noch weiter ausreizt. Warum sie ihn jetzt nicht gehen lässt, erschließt sich noch nicht so recht. Dafür drängt sich noch eine andere Frage auf. Gegen jeden Instinkt wendet Vincent sich von dem Hund ab und schaut wieder in das kühle Lächeln. „Kommt das eigentlich öfter vor, dass Ihre Mitarbeiter_innen einfach so verschwinden?“
Der letzte Schluck Whiskey wabert in ihrem Glas. „Normalerweise habe ich dafür Gründe.“
Auf die hoch gezogenen Augenbrauen reagiert sie nun mit scharfem Blick. Ihr Glas landet nachdrücklicher auf der Tischplatte, als notwendig gewesen wäre und mit zwei großen Schritten steht sie plötzlich so nah vor Vincent, dass sie die Finger über den weichen Kunstpelz am Kragen streichen kann. Er zwingt sich, nicht zurückzuweichen. „Frau Doroshenko–“ „Kommissar Ross, in Ihrem Verein ist es doch üblich, sich an Anweisungen zu halten, ober irre ich mich?“ Sie schließt die Fäuste um den Pelzkragen; offensichtlich völlig unbeeindruckt vom Größenunterschied zwischen ihnen. „Lassen Sie mich los, sonst muss ich sie gewaltsam von mir entfernen.“ Das Knurren hinter ihm wird lauter. „Irre ich mich, Herr Ross?“ „Lassen Sie mich los.“ Er packt ihr Handgelenk. Knurren fliest in durchdringendes Bellen. Sie lächelt unbeeindruckt und zieht ihn näher. „Entweder Sie spielen sehr gern mit dem Risiko oder Sie sind sich der Konsequenzen wirklich nicht bewusst.“ Mit aufrichtiger Faszination springt ihr Blick zwischen seinen Augen hin und her. „Übrigens wird er Sie angreifen, sobald Sie sich wehren", murmelt sie über das Bellen hinweg.
„Dann werde ich meine Waffe einsetzen müssen.“ Langsam zieht er den Mantel zur Seite und offenbart das Holster am Gürtel.
„Setz lieber endlich deinen Kopf ein!“ Sie dreht ihr Handgelenk aus seinem Griff und schubst ihn von sich; der Hund verstummt sofort, versperrt aber weiterhin die Tür.
Vincent fängt sich mit einem Ausfallschritt. „Wie bitte?“
„Ich hätte dich für klüger gehalten.“ Sie geht zum Schreibtisch zurück und nimmt den Brieföffner aus seiner dekorativen Aufbahrung. „Warum stellt ihr euch eigentlich alle so blöd an? Bekäme ich jedes Mal Geld dafür, wenn Polizeibeamte sich mir gegenüber dann doch plötzlich so begriffsstutzig zeigen, wär ich zwar immer noch nicht reich, aber es ist doch bemerkenswert, dass es in den letzten sechs Tagen drei Mal passiert ist!“ Entrüstet wiegt sie den schmalen, scharfen Stab aus Edelstahl in der Hand; führt ihn wie ein Messer.
Widerstrebend legt Vincent die Hand auf das Halfter und löst den kleinen Druckknopf am Gurt. „Frau Doroshenko, worum gehts hier?“ Sein rasendes Herz dringt nicht bis zu seiner Stimme durch.
„Es geht darum, dass ihr trotz des euch vom Staat verliehenen Amtes eure Nasen nicht zu tief in anderer Leute Angelegenheiten stecken solltet, wenn ihr die Konsequenzen nicht vertragt! Das hat Lede auch nie verstanden, nicht mal Jurek konnte es ihm erklären.“ „Sie wissen also sicher, dass Misiewicz etwas mit dem Mord an Lede zu tun hat?!“ Mit drei Schritten überwindet sie die Distanz zwischen ihnen, den Brieföffner im Anschlag. Instinktiv greift Vincent nach seiner Waffe. Heißer Atem am Handgelenk. Zähne streifen seine Haut. Stoff spannt, der Mantel rutscht ihm halb von der Schulter als er mit purer Kraft zu Boden gerissen wird. Tanja steht über ihm, drückt die schimmernde Edelstahlspitze in den dünnen Hemdstoff auf seinem Brustbein. „Vielleicht überlegst du dir nochmal genau, ob du diese Frage gestellt haben willst.“ Unnachgiebiger Zug zwingt seinen Arm nach hinten, die Kante eines Regals drückt gegens Schultergelenk und seine andere Hand klemmt zwischen seinem Rücken und dem Regal fest.
Wieder legt Tanja den Kopf schief, die Haarspitzen streichen über das Sakko. „War sie nicht deutlich genug oder hast du die Nachricht gar nicht erhalten?“
In all der Wut bleiben seine Gedanken dennoch scharf. Zur Zeit kann sie nur eine Nachricht meinen, auch wenn der Zusammenhang immer noch nicht ganz klar ist.
„Das Fax?!“
Wie beiläufig wandert die Spitze des Brieföffners in seinen Ausschnitt. Vincent zwingt sich, nicht zu zucken, als der Druck deutlich in ihre Haut beißt.
„Na also. Hm, dann waren wir wohl doch nicht deutlich genug. Ich hab wirklich gedacht, in eurem Verein gibts auch ein paar Leute mit mehr Grips.“
Sie richtet die Spitze ihrer Waffe nach oben. „Es bringt Ihnen nichts, mich umzubringen, Frau Doroshenko.“ Mit jedem Wort spürt er den Druck unter der Zunge, das Beißen in der Haut. „Das wäre zu einfach. Aber was war denn nicht einfach genug daran, dass ihr nicht weiter ermitteln sollt, hm?“ „Sie können sowas nicht einfach fordern, Sie stehen nicht über den Gesetzen.“ Viel stärker als die Wut glüht plötzlich Schmerz auf; neben dem Kehlkopf herunter bis zum Brustbein. Heißer Draht. Vincent presst die Kiefer aufeinander, ihr Gesicht verschwimmt kurz vor seinen Augen.
„Das hier hat doch gar nichts mit den Gesetzen zu tun.“ Neugierig hält Tanja inne, als Edelstahl auf Gold trifft. Sie dreht die Spitze im Bogen seines Rings, während sie erklärt: „Lede hätte das lernen können, wenn er sich Mühe gegeben hätte aber letztendlich musste Jurek das dann doch mit ihm klären. Mit Raczek übrigens auch. Noch so einer, der ein bisschen lernresistent ist, was Konsequenzen angeht… im Beruf… Und im Motorsport erst, das Unfallrisiko ist doch so hoch…“
Wieder Schmerz. Genau zwischen den Schlüsselbeinen. An den Zähnen, so sehr presst er sie zusammen. Tanjas Lächeln ist aufrichtig freudig. Vincent weigert sich, nachzugeben. „Wozu der Unfall?“ Die dünne Spitze zieht den Blutstropfen zu einer feinen Spur schräg über seine Brust.
„Wärs dir lieber gewesen, wir hätten ihn gleich erschossen?“ Eine völlig andere Art von Schmerz, viel mächtiger, viel quälender, krampft ihr Herz zusammen. Doch die Wut stärkt Vincents Stimme.
„Wozu die ganze Inszenierung? Was soll das alles?“
Tanja setzt den Brieföffner ab und seufzt tief. „Tut mir ja wirklich leid Herzchen, dass du jetzt die alten Fehler deiner Kollegen ausbaden musst. Aber auf deinen hübschen Kopf kann ich einfach keine Rücksicht nehmen.“ Sein nächster Gedanke legt die Angst in einer Klaue um sein Herz aber er muss jetzt etwas genau wissen: „Wenn es Ihnen offensichtlich um Rache geht–“ „Na sieh an, da is ja doch was unter den Locken.“ Er ignoriert ihren Einwurf. „Warum bringen Sie ihn dann nicht einfach um?“ Er fixiert sie. Muss jede noch so winzige Reaktion sehen. Nur sie hat die Antwort und von ihr hängt alles ab. Wenn sie sich in ihrer Arroganz hoffentlich dazu verleiten lässt, jetzt die Wahrheit zu sagen. Wieder dieses süffisante Grinsen: „Ach, das wär doch viel zu schnell vorbei und so bleibt es spannender.“
Sie weiß ganz genau, wo Adam ist!
Wut, Hoffnung, Verzweiflung lodern durch seinen Körper. Vincent presst die Schultern gegen das Regal und reißt mit aller Kraft seinen Arm nach vorn. In einem widerlichen Geräusch teilt sich der Ärmel; mit einem dumpfen Laut kracht der Hund gegen eine Wand und Tanjas Rücken, von Vincent getrieben, gegen eine andere. Mit festem Griff um ihr Handgelenk drückt er den Brieföffner gegen ihren Hals. Der Sturm in seinem Inneren übertönt alles, was hinter ihm passiert und lässt seine Stimme in ein Knurren sinken: „Wenn er tot ist, werde ich dich dein Leben lang jagen. Ich werde dafür sorgen, dass du vom Leben nichts mehr hast. Du wirst dich nie wieder irgendwo sicher fühlen, das versprech ich dir.“ Ihre freie Hand streichelt seine Brust hinauf.
„Herzchen, du lässt mich jetzt sofort wieder los“, die Tür springt auf, Schritte poltern in den Raum und eine Waffe klickt deutlich über all den Lärm, „sonst wirst du nie rausfinden, ob er noch lebt.“
„Vincent!“ Aus Wiktors Stimme klingt Panik.
Vincent weiß, dass die Waffe auf seinen Kopf gerichtet ist. Und auf die Entfernung hat er keine Wahl. Tanja schließt die Finger um seinen Ring, dreht die Kette um ihre Hand.
Die feinen Glieder schneiden ihm in den Nacken. Ein besonders ekliger Schmerz, als der zarte Verschluss des Goldkettchens nachgeben muss. Sein Protest geht in völligem Lärm unter. Zwei Paar breite Arme packen ihn, reißen ihn fort und drücken seinen Oberkörper nach unten. Als er durch die Tür geschubst wird, kann sie vage wahrnehmen, dass Wiktor die selbe grobe Behandlung erhält und nach wenigen, verschwommenen Minuten stolpern sie Seite an Seite über den Parkplatz, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
„Verpisst euch!“, brüllt es über nun mehrstimmiges Bellen. Wiktors Hand stützend an Vincents Schulter, doch die Wut schüttelt sie ab. Für Gedanken ist gerade keine Zeit, sie müssen wirklich zum Auto rennen. Krallen kratzen lautstark über den Asphalt und gegen zehn Hunde können sie mit ihren Waffen auch nichts ausrichten. Vincent reißt die Fahrertür auf, Wiktor springt neben ihm rein und noch bevor die Tür wieder in den Rahmen knallt, springt der Motor an. Die Meute jagt ihnen bis zur Straße hinterher und erst nach dem Abbiegen in die nächste Seitenstraße verschwinden sie aus dem Rückspiegel.
Den Weg nimmt Vincent zwar wahr, er steuert das Auto, als sei nichts gewesen aber sein Hirn nimmt nichts davon wirklich auf. Industriegebiet, irrelevant, austauschbar. Landstraße, der man stur folgen kann. Er zittert. Am ganzen Körper. Ihr Hals tut weh, der Nacken auch. Durch den langen Riss blitzt heller Hemdstoff unter dem dichten Blau hervor. Wiktor krampft immer noch die Hand um den Türgriff auf seiner Seite. Ihre Blicke treffen einander nicht, weichen sich aus.
„Was ist da gerade passiert?“ Seine Stimme so leise, dass sie sich nicht sicher ist, ob er überhaupt eine Antwort will. „Ich weiß es nich…“
Die Schatten der Bäume flimmern über ihre Gesichter.
Wiktor schluckt. „Wie du sie bedroht hast… Was war das gerade, Vince?“
Heißer Stich im Herzen. Kalte Ruhe in ihrem Geist. „Ich? Das is jetzt nich dein Ernst.“ Doch bei Wiktor hilft diese Rüstung kaum, bleibt dünn. Dünn, wie seine vor Ärger gedrückte Stimme: „Hast du ne Ahnung, wie das vorher eskaliert ist?“
Seine Faust überm Knie spannt sich auf in seine Klaue der Verzweiflung. „Ja, ich habs ja gesehen!“
Vor ihnen flammen die Bremsleuchten eines LKW auf. Vincents Körper reagiert von alleine. „Wie, gesehen?“
„Kameras.“ In ihrer Erinnerung blitzt das vage Bild kleiner, schwarz glänzender Blasen an der Decke des Büros auf. Der LKW kriecht um die Kurve vor ihnen, offenbart Vincents Blick die Weite, an die er sich klammern kann. Die Weite, die nicht Wiktors angespanntes Gesicht ist. „Und warum warst du nich da?“
Langsam umschließt er die linke Hand mit der Rechten, gegen das Zittern. „Die haben mich festgehalten. Das machen die immer so.“ Die Worte wollen sich verstecken, doch stattdessen treiben sie wieder glühende Panik in Vincents Geist, zerfetzen seine Fassung, jedes einzeln. „Warte mal, wie bitte? Wusstest du, dass das passieren könnte?!“
„Ja… nein… ich…“ Er vergräbt das Gesicht in den Händen, reibt darüber, als ließen sich diese ganzen widerlichen Gefühle dahinter so wegwischen.
„Warum sagst du mir sowas nicht vorher?“ „Ich hab nicht erwartet, dass sie so ausrastet!“ Verzweifelt greift er ins Leere vor sich, als könne er dann fassen, was passiert ist.
Das Denken verursacht Schmerzen. Schmerzen, die ihr jede Antwort unmöglich machen. Er kann sich nur an dem festhalten, was sein Körper tut. Gas. Bremse. Schalten. Das Lenkrad gerade halten. Weiter vorn in im grauen Band klafft ein schwarzes Loch. Wie das Loch in ihrem Kopf.
Es kommt näher, unaufhaltsam. Zügig. Die Straße ist verwaist. Ein Schlagloch. Kommt näher, wird an Ort und Stelle bleiben. Ignoriert ihr Näherkommen völlig. Schwillt zu bedrohlicher Größe an.
„Vorsicht!“ „Ja ich WEIß!“ Kupplung, Bremse. Ihre Hände wandern nach links. Ein sanfter Bogen, dann nach rechts zurück. Das Schlagloch schrumpft im Rückspiegel.
Wiktors Gesicht verschwindet in seinen Handflächen. Der Motor brummt leise. Schatten flimmern.
Vincents Gedanken formen die Zahlen eins bis fünf. Das schwarze Loch schrumpft, lässt wieder Platz für Worte: „Wusstest du, dass dort mafiöse Strukturen herrschen?“
Als er zögernd den Kopf hebt, ist sein Blick glasig. Wangen, Stirn und Hals rot vor Scham, während er nickt. „Ich hätts dir sagen müssen.“ „Ach ne.“ „Hör auf damit, bitte.“ Ihre Stimme so scharf, wie seine weich ist. Mildert ihre Wut endlich. Er will Wiktor nicht verletzen, auch wenn ihn selbst gerade nichts so sehr schmerzt, wie dieses zähe Gefühl verraten worden zu sein. Die verfliegende Panik nimmt auch viel Kraft mit sich. „Warum hast du nichts gesagt?“
Er spielt mit seinen Fingern. Auf diese ganz bestimmte Weise, wenn er etwas richtig bereut. „Weil ich wirklich dachte, du bist sicherer vor ihr, wenn du es nicht weißt. Tanja ist nahezu unberechenbar, aber normalerweise ist ihr nur wichtig, wer was weiß. Und wer die wichtigen Sachen nicht weiß, ist sicher vor ihr. Ich wollte dir hinterher alles erklären.“
Noch kommt die Wut in kleinen Wellen zurück aber Vincent kann zwischen zwei Wogen ruhig bleiben: „Offensichtlich wusste ich doch zu viel. Aber ihr Spiel hab ich trotzdem zu lange nicht erkannt.“ „Ich habs auch erst zu spät bemerkt…“
Das zähe Unbehagen verflüchtigt sich langsam und die Wut, die noch bleibt, hat klarere Gedanken zu bieten. „Was will die eigentlich von Adam? Warum diese scheiß Rache, wofür?“ Wiktor bewegt den Kopf vage. „Und warum der Mord an Lede, um Adam ne Falle zu stellen?“
Das tiefe Atmen neben ihr kann nichts Gutes bedeuten.
„Olga war noch relativ neu bei uns, da gabs einen Vorfall, in den Lede verwickelt war. Ursprünglich ging es um einen Auffahrunfall mit Fahrerflucht, der mehr oder weniger mutwillig verursacht wurde. Karols Tochter saß am Steuer und hat es nicht überlebt. Lede war ihr Vorgesetzter und im Verlauf der Ermittlungen haben wir herausgefunden, dass es um den Handel mit gestohlenen Fahrzeugen ging. Lede wurde von Tanjas Vater, Vitali Doroshenko, bestochen und über längere Zeit massiv bedroht. Naja und kurz nachdem wir das alles rausgefunden hatten, wollten Adam und Olga Vitali festnehmen. Lede wollte sich aber selbst rächen, hat ihn erst gefoltert und dann… selber erschossen, bevor die beiden ihn entwaffnen konnten. Sie waren da aber konnten nicht schnell genug eingreifen. Tanja war sechzehn damals.“
Das schwarze Loch blüht wieder. Zieht durch Vincents Gedanken, legt sich über ihren Blick. „Vince?“ Was sie sieht, verschwimmt, als sie an den Straßenrand, weit auf blanke Wiese fährt und den Motor abstellt. Es ist zu eng alles. Er kann nicht atmen. Das Auto, Wiktor, diese Geschichte – alles ist zu eng, zu nah, zu drückend.
Hinter der Autotür umarmt sie Frühlingsluft, zieht sie nach draußen, in die Weite. Asphalt unter ihren Sohlen, dann die Wiese. Weich, knistert ein bisschen. Frust, der irgendwo hin muss. Er muss die Weite um sich spüren. Kreist die Arme, braucht den Platz. Wiktors Schritte klingen dumpf hinter ihr. Irgendwo vor ihnen flüstert Wasser.
Es ist nicht nur, dass die beiden Menschen, denen er am meisten vertraut, all das vor ihm verborgen haben. Diese Bitterkeit sickert in jeden Winkel seines Körpers. Was die Wut befeuert, ist der professionelle Aspekt. „Warum sagt mir sowas keiner? Ihr wusstet das alle und sagt mir nichts?!“ Der rauschende Sturm im Kopf lässt sich langsam nicht mal mehr von den Atemübungen beruhigen und die Worte kommen von allein. „Niemand kommt auf die Idee, in die Akten zu gucken? Und bei dem Namen Doroshenko sagt mir auch niemand was? Warum nicht?“
Wiktor nickt unwillig bei jeder Frage, fährt sich mit den Händen immer wieder durchs Haar, weil er nicht weiß, wohin mit sich. „Wir wollten uns nicht im Offensichtlichen verrennen…“
Sie wissen beide, wie fad das jetzt klingt; dass es eigentlich keine gute Antwort auf Vincents Fragen gibt. Es ist ein Fehler. Einer, den sie nicht mehr ungeschehen machen können.
Ihr Blick verschwimmt und als sie blinzelt, rinnt ein warmes Kitzeln ihre Wange hinunter. „Wollte er deswegen nich bei mir bleiben?“ Er hätte eigentlich nicht mehr zurück fahren müssen, nachdem sie bei Vincent angekommen waren. Aber sie hatte ihn nicht drängen wollen. Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören müssen. Adam war nicht nur müde gewesen. Eigentlich klar, denn dafür war er zu verschlossen. Fast wie früher, als sie sich erst kennenlernten. „Und ich wunder mich bloß, was er hat, anstatt zu fragen.“ Gemurmelte Worte verschwimmen in Tränen, Schmerz presst seine Stimme in ersticktes Fauchen. „Warum hat er nichts gesagt? Warum hast du nichts gesagt? Warum sagt ihr mir beide nichts?“ „Wir wollten dich schützen…“
„Ihr müsst mich nicht beschützen verdammt nochmal. Wenn eure Vergangenheit euch einholt, betrifft mich das genauso!“ Wind an ihren Fingern, kühl auf der Haut. „Ich weiß. Es tut mir leid.“ „Adam könnte sterben deswegen!“ „Ich weiß!“ Seine Stimme hoch, bricht ab vor Schmerz. Schmerz, der Vincent zu ihm zieht aber das hohe, wütende Stürmen in den Ohren drückt sie weiter von ihm fort.
„Wir hätten das von Anfang an zusammen machen müssen.“ Verloren sieht er aus, wie er da auf der Wiese steht. Eingesunkene Schultern, die Augen tränennass. Gefangen zwischen Wut und Angst, zwischen Energie und Erschöpfung, genau wie sie selbst. „Hätten wir… “ Wiktor zuckt zusammen, als habe sie ein Messer nach ihm geworfen. Sie kann ihn nicht ansehen. Muss weiter gehen, die Arme kreisen.
Wind streicht über ihre Gesichter, zupft an ihren Klamotten und will ihre Worte in der Ferne verbergen.
Vincents Hände folgen Gedanken, die sie verzweifelt in Worte wandeln möchte. Wiktor findet welche, schwer von dem verzweifelten Wunsch, dass sie versteht: „Aber wir mussten eine Entscheidung treffen.“ Sie war falsch. „Wir wollten dich nicht verl–“ „Ich WEIß!“ Stichflamme aus Wut. Ihr Körper dreht sich in einer einzigen Bewegung, ihre Finger schneiden durch die Luft.
Klatschen zerreißt den Sturm.
Schmerz in ihrer Hand.
Wiktor zuckt zusammen.
Wut platzt wie eine Seifenblase.
Stille. Leere.
Eiseskälte krallt ihr Herz zusammen. Ihre Gedanken kommen nicht nach.
Er war doch grade noch so weit hinter ihr? Nein, er steht direkt hier. Starrt zu Boden, den Kopf gedreht, das Gesicht halb verborgen hinter einer Hand.
„Scheiße. Wiktor, sorry, ich–“ Sein Stammeln erstickt unter Wiktors Blick, der zuerst zu ihr zurückkehrt. Schock brennt auf ihrer Haut.
Vincent zittert. Wiktor zittert.
Langsam nimmt er die Hand von der Wange. Rot. Feuerrot. Wie Vincents Handfläche. Tränen rinnen darüber aber sein Gesicht ist völlig still.
Das wollt ich nich. Ich wollte das nich. Ich hab dich nich gesehen. Vincents Stimme gehorcht ihr nicht. Sie spürt, dass sie die Lippen bewegt, aber das Dröhnen in ihrem Kopf drückt alles. Der Kloß im Hals lässt kein Wort durch. Sie starren einander an, paralysiert.
Vincents Instinkte treiben sie zu ihm. Und sein Herz splittert, als Wiktor zurück weicht.
Wiktors Herz hämmert gegen seine Rippen, sticht bitter, als Schmerz das geliebte Gesicht verzieht. In Vincents Kopfschütteln ist keine Kraft mehr. Nur eine stumme Bitte, der Wunsch, Dinge ungeschehen zu machen. Wiktor blinzelt. Blinzelt weg, was ihn von ihr fort hält. Schuld. Schock. Angst. Aber nicht vor Vincent. Um ihn, um Adam. Um alles, was seit gestern Morgen aus tiefen Rissen splittert. Seine Knie zittern.
Vincents Knie zittern. Er atmet tief durch.
Ihre Hand ist heiß. Aber so sanft wie immer, als er danach greift.
„Przepraszam…“ Tut mir leid. „Ich weiß.“ „Ich wollt das nich, ich dachte, du bist noch da hinten…“ Seine Stimme stolpert. „Schhhh, już dobrze.” Alles gut.
Endlich zieht er Vincent an sich, legt die Stirn an seine. Spürt seinen Griff fest an den Schultern. Vorsichtig folgt er mit den Fingerspitzen über den dicken Mantelstoff bis in Vincents Nacken. Die Haut fühlt sich wund an. Wiktors Herz zieht. Er wandert höher, bis weiche Haarspitzen seine Finger streicheln, dann legt er die Handfläche auf kühle Haut und drückt sanft zu. Spürt erleichtert, wie ihr Körper langsam weicher wird, ihre Finger sich um seine schmiegen und der Kopf schwer auf seine Schulter sinkt. Die Locken streicheln seinen Kiefer. „Już dobrze…“
Ihre Atemzüge leiten einander bis ihre klopfenden Herzen zur Ruhe kommen.
Sanft spielt der Wind für sie im Laub über ihnen, schmiegt den Saum des blauen Mantels um ihre Beine. Vincent zieht Wiktor ganz eng an sich, bis er das Kinn auf ihre Schulter legen kann. Seine Finger kreisen ziellos durch die Locken. Im selben trägen Rhythmus streicht ihr Daumen über seinen Handrücken.
Erschöpfung legt sich um ihre Körper. Knie zittern, einer Echo des anderen. Es braucht keine Worte, als sie gemeinsam ins feuchte Gras sinken. Ein paar tiefe Atemzüge.
Irgendwann hebt Vincent den Kopf und bettet Wiktors Gesicht unendlich behutsam in seine Hände. Wiktor lehnt sich in die Berührung und schließt einen Moment die Augen. Seine Wange in ihre Hand. Verblassendes Rot.
Er lehnt sich vor, bis er ihre Stirn wieder an seiner spürt. „Lękam się, Vince…” Ich hab Angst. „Ja też…” Ich auch. Die Worte verstecken sich zwischen ihren Körpern, die einander halten. Einfach nur halten. Ankämpfen gegen die drohende allumfängliche Leere, die beständig aus der Wunde in ihren Herzen sickert.
Durch ihre Körper kriecht, wie die Nässe der Wiese unter ihren Knien.
In ihren Blicken treffen sich Spiegelbilder neuer Entschlossenheit. Vielleicht wächst sie aus Verzweiflung. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihren Schmerz zu lindern. Und noch sind sie nicht bereit, diesen Schmerz zu akzeptieren.
Als sie sich voneinander lösen, streifen Wiktors Finger den Kratzer vorn an Vincents Hals. Sorge und Wut blitzen im blauen Blick. Sanft zieht Vincent seine Hand fort und legt zart die Lippen auf wunde Knöchel. Wiktor lächelt beruhigend; lässt sich von ihr auf die Beine ziehen.
Ihre Hände lösen sich erst voneinander, als Vincent um das Auto herum geht. Geduldig hat es gewartet, mit offenen Türen und Schlüssel im Zündschloss.
Sie sprechen nicht über diese kleine Fahrlässigkeit.
Wiktor startet den Motor und Vincent findet das kleine Nähset an seinem Stammplatz im Handschuhfach. Diesmal ist ihr Schweigen angenehm. Sanft wie immer. Es ist okay.
Als sie vom dunkelblauen Stoff aufblickt und den überschüssigen Faden abbeißt, streift Vincents Blick das Ausfahrtschild nach Swiecko. Doch es kommt nicht wie sonst auf sie zu, sondern rauscht kurz an ihm vorbei. Wiktor spürt seinen fragenden Blick. „Wir müssen mit Alex reden. Die müssen auch wissen, dass Tanja und Misiewicz da mit drin stecken!“
Diesmal ist die Pforte Vincent unangenehm vertraut. Doch anders als am Vormittag verlässt er hinter Wiktor den langen Gang schon wieder, bevor sie ihn richtig betreten haben. Links steht eine Flügeltür offen, die auch schon bessere Tage gesehen hat. Als Wiktor an den Rahmen klopft, bevor er zielstrebig hindurch tritt, krümelt weißer Lack unter seinen Knöcheln ab.
Der Raum ist groß, weit geschnitten aber ziemlich verwaist. Sechs Arbeitsplätze Kopf an Kopf mit breiten Schreibtischen, die großen Fenster ringsherum halb verdeckt von dünnen Rollovorhängen. Auf den zwei Bildschirmen, die nicht schwarz sind, wabern bunte Seifenblasen beständig vor sich hin. Von rechts, am letzten Arbeitsplatz, flüstert das Klacken einer Maus.
„Wiktor?“ Deutliche Verwunderung, aber auch Freude in einer klaren, kräftigen Stimme. „Hallo Alex.“ Alex hat einen scharfen Blick und ein freundliches Gesicht. Ihr Handschlag mit Wiktor wirkt vertraut und offen. Wiktor deutet auf Vincent. „Unser… naja, eigentlich nich mehr neuer Kollege.“ „Vincent, hallo.“ Sie blinzelt ihm freundlich zu, dann verliert sich ihr Lächeln ein wenig.
„Was bringt euch her?“
„Adam. Um ehrlich zu sein.“ „Wiktor, wir sind dran. Mehr darf ich euch dazu gar nicht sagen.“ „Ich weiß, aber wir haben Informationen für euch.“ Sie seufzt und sieht ihn mitfühlend an aber Wiktor spricht weiter. „Nein, wirklich. Hör zu, unsere Fälle hängen definitiv zusammen.“ „Der andere Kollege, oder wie?“
Wiktor nickt. „Wir haben eben eine Zeugin dazu befragt, die von sich aus die Verbindung hergestellt hat.“
„Was für ne Zeugin?“
„Tanja Doroshenko.“
Alex schließt die Augen und atmet tief durch. Der Name ist auch ihr ein Begriff. „Eben.“ „Na schön.“ Sie deutet zu ihrem Schreibtisch, damit sie sich setzen können. „Was habt ihr erfahren?“
Vincent atmet tief durch und konzentriert sich darauf, Doroshenkos Äußerungen wiederzugeben. Alex’ Miene wird immer düsterer, die hellen Augenbrauen ziehen sich tief zusammen. „Sie hat mir ganz offen gesagt, dass die Sache mit Lede Adam anlocken sollte. Klarer kann der Zusammenhang ja nun nicht mehr sein.“ Es ist nicht einfach, die Wut aus den Worten zurückzuhalten. Alex nickt. „Das bedeutet aber auch, dass sie an keinem der beiden… Fälle… direkt beteiligt sein wird. Zumindest nicht so, dass man ihr irgendeine Tat nachweisen könnte.“ „Sie macht sich die Hände nicht selbst schmutzig…“ „Sie wird sowas höchstens in Auftrag gegeben haben. Weiß sie dann aber wirklich, wo Adam ist?“ Vincent konzentriert sich auf seine Erinnerungen. „Sie klang sehr überzeugt davon…“ Tiefe Grübelfalten ziehen über Alex' Stirn. „Sie könnte gelogen haben.“ Erschöpft hebt Vincent die Schultern. „Klar kann sie. Aber das schien ihr alles schon viel Befriedigung zu verschaffen.“ „Doroshenko mag der Grund sein, dass unsere Fälle zusammen hängen–“ „Und, dass wir zusammen arbeiten sollten.“ Alex nickt, spricht aber unbeirrt weiter. „Aber: sie wird nicht die Täterin sein. Es gibt mindestens eine Person, wenn nicht sogar mehrere, die… sich an Adam zu schaffen gemacht haben und wissen, wo er jetzt ist. Und die müssen wir finden. Dringend.“ Wie sie nachdrücklich mit dem Knöchel des Zeigefingers seitlich auf die Tischkante klopft, gefällt Vincent.
Wiktor scrollt wieder durch die Dokumente. „Habt ihr Misiewicz aufm Schirm?“
Ein kurzer Blick auf das Bild: „Nach dem suchen die Kollegen gerade. Aber er kann ja nicht der einzige sein. Adam irgendwo festzuhalten, diesen Doppelgänger zu finden und alles zu vertuschen… das hat doch System. Sowas macht doch nicht einer alleine.“
„Tanja hat ja genug Leute für sowas.“ Die Gewissheit in Wiktors Stimme lässt noch einmal kurz Bitterkeit aufflackern. Aber all das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Also weiter im Text.
Alex klickt sich durch ihre eigenen Dateien. „Aber wir haben leider sonst zu niemandem Anhaltspunkte...“
„Ich denke schon, dass Tanja direkt involviert ist. Zuerst Lede, der schon auffällig gut auffindbar war. Dann der Unfall, nur um an Adam ranzukommen. Das Machtspiel mit mir vorhin… es geht doch nur um Rache. Spezifisch an Adam und Lede. Das wird sie nicht alles anderen überlassen. Vor allem dann… Adam zu töten…“ Wiktor drückt tröstend das Knie gegen ihres.
„Was wirdn das hier?“ Die Stimme erinnert Vincent unangenehm an die Hunde. Lautes Bellen mit einem Knurren im Unterton.
„Oelßner, das sind die Kollegen Krol und…“ „Ross.“ „Aus Swiecko. Sind wegen Raczek hier.“ Aus dem anfänglichen Misstrauen wird pure Abneigung: „Das geht euch nichts mehr an, wir sagen euch schon Bescheid, wenn der wieder auftaucht.“ Wiktors Stimme wird eiskalt: „Wir haben neue Erkenntnisse für euch.“ Wenn Blicke Schmerzen würden... „Wir wissen alleine, wie wir unsere Arbeit zu machen haben!“ Alex schaltet sich ein, bevor Wiktor antworten kann: „Aber wir wussten bis grade eben nicht, dass das mit der polnischen Mafia zusammenhängt!“ Ihre Stimme bleibt ruhig und das Keifen mildert sich zum Brummen: „Das hätten wir schon noch rausgefunden.“ „Ja und so gings jetzt schneller. Es gibt keinen Grund mehr, nicht zusammen zu arbeiten.“ „Befangenheit ist also kein Grund.“ Bei dieser Spitze liegt sein Blick vor allem auf Vincent. Langsam klingt Alex genervt: „Mensch Oelßner, uns würds doch auch so gehen. Die Fälle hängen definitiv zusammen, es schadet niemandem, wenn wir miteinander reden.“ Sein Kiefer spannt, aber er antwortet nicht mehr, sondern verschwindet in dem kleineren Büro nebenan; lässt die Tür offen stehen.
„Er scheint nicht sehr motiviert, Adam zu helfen…“, murmelt Vincent über Wiktors langes Seufzen.
Alex winkt ab: „Er konnte ihn nie leiden aber deswegen verweigert er nicht seine Arbeit. Er is nicht so ein schlechter Mensch, wie er sich gerne zeigt.“
Wiktor lässt das Thema fallen. „Die dringende Frage ist, wie wir jetzt weiter machen. Tanja weiß, dass wir ermitteln und sie weiß sicher auch, dass ihr ermittelt. In ihrer Forderung ging es darum, dass wir aufhören. Aber wenn wir nicht weiter suchen, ist das gefährlich für Adam.“
„Sie wird aber auch wissen, wenn wir weiter machen. Und das… kann auch gefährlich werden.“ Wieder die Grübelfalten auf Alex' Stirn. „Wir können uns eigentlich nicht solchen Forderungen beugen.“
„Haben wir wirklich so gar keinen Ansatzpunkt, wo er sein könnte?“ Irgendwas an Wiktors Blick ist seltsam, als er Vincents Frage fast schon ausweicht, indem er sich an Alex wendet: „Habt ihr das Fax eigentlich bekommen?“
„Ja, von euch. Das Dokument war auch sofort im Labor…“ Ihr fragender Blick wandert zum Kollegen, der seit ein paar Minuten wieder in der Tür steht und sich an seiner Kaffeetasse festhält. Brummend nickt er. „Ergebnisse sind noch drüben. Wir könnse ja gleich holen.“
Vincent entdeckt in Wiktors Miene ihre eigenen Bedenken. Aber, wenn sie die Chance haben, die Ergebnisse zu sehen, bevor Oelßner sie irgendwie filtern könnte – ob nun aus persönlicher Antipathie oder dem Antrieb, Vorwürfe von Inkompetenz zu vermeiden – müssen sie die nutzen. „Klar.“ Vincent ringt sich ein Lächeln ab. Oelßner schnaubt nur, bevor sie das Büro verlassen.
Ihre Schritte huschen ihnen voraus durch die Gänge. Das Schweigen drückt aufs Gemüt, wie Klamotten, die zwei Nummern zu klein sind. Darin lauern Worte, die Vincent als Gedanken hinter dünnem Haar brodeln sehen kann. Mit jedem sanften Klack seiner Blockabsätze erblüht eine weitere Zornesfalte in der Stirn des… Kollegen und so langsam könnten sie ihr Ziel auch bitte gern erreichen. Was auch immer genau es sein mag. Oelßner stößt eine Tür zum Treppenhaus auf und drückt den Flügel an die Wand, sodass Vincent bequem durch gehen kann. Nanu? Ist er vielleicht gar nicht so feindselig, wie er eben noch tat? Wieder wagt sie ein höfliches Lächeln, doch als sie seinem Blick begegnet, frieren ihre Mundwinkel ein. Hinterlist blitzt aus kaltem Funkeln. „Kann Mann in den Dingern überhaupt laufen?“ Er lässt die Tür los, sodass Vincent ausweichen muss, um das alte Holz nicht doch an der Schulter abzukriegen und wartet gar nicht auf eine Antwort, bevor er die Treppe betritt. Ach bitte, wie einfallslos. „Problemlos. Zum Rennen und Klettern sind sie auch bequem.“ „Dass ihr sowas im Einsatz überhaupt anziehen dürft...“, er schüttelt den Kopf in übertriebenem Unglaube. „Aber was wunderts mich, geht ja schon seit Jahren den Bach runter bei euch da drüben.“ Kalte Gleichgültigkeit sickert sanft um Vincents Geist. Wie immer. „Hab ja erst gedacht, euch gibts gar nich mehr, bevor wir wieder um Amtshilfe gebeten wurden. Dachte die Polen haben das alles übernommen.“ Morbide Neugier streckt ihre Fühler aus: „Warum sollte das passieren?“ „Na is doch klar, wie die drauf sind. Länderübergreifende Kooperation, pah.“ Auf dem nächsten Absatz zerrt er wieder an einer identischen Tür. Die er nicht für Vincent auf hält, sondern durch rauscht, ohne überhaupt darauf zu achten, ob sie ihm folgt. „Die reißen das doch alles an sich, um ihren Kram zu vertuschen. Ehrlicher Pole ist ein Widerspruch in sich. So wie trockenes Wasser oder vegane Wurst.“ Ein ganz seltsames Geräusch klingt aus seinem Hals. Schnarrend, rhythmisch abgehackt, fast wie ein Husten nur… nicht so kräftig. Lacht er? Dem breiten Grinsen nach zu urteilen, hält er sich selbst offenbar für witzig.
Vincent spürt ihre Lebenszeit durch ihre Finger rieseln wie Sand. Wärsde mal bei Wikusz geblieben… Er überrascht sich selbst damit, das Seufzen unterdrücken zu können und bleibt ruhig. Heute ist wohl einfach so ein Tag.
Oelßner hält vor einer schlichten Tür inne und bevor er an den Rahmen klopft, dreht er sich unvermittelt nach Vincent um. „Oder n weiblicher Mann.“ Dein Ernst jetzt? Sein Grinsen erinnert an Kinder, die freudig Schimpfwörter benutzen. Bevor Vincent zu irgendeiner Art von Antwort herablassen könnte, klopft Oelßner an den Türrahmen und betritt unaufgefordert das Büro.
„Was ist denn los, ich hätte euch das Zeug doch gleich geschickt?“ Der Mittsechziger klingt nicht ernsthaft genervt, aber ein wenig unerfreut. Aus einem Büro nebenan nickt Vincent jener Mann freundlich zu, der ihr vor ein paar Stunden noch den falschen Adam präsentieren musste. Oelßner zuckt die Schultern. „Ich wollt mir mal die Beine vertreten.“ Er sieht Vincent wieder so überzeichnet durchtrieben von der Seite an. „Und Herrn Ross das Haus zeigen.“ Ihr Gegenüber verdreht die Augen, dann steht er auf und holt aus dem Nebenraum einen dünnen Papphefter.
„Ist doch Herr, oder?“
Sie nickt höflich: „Ja.“ Zeigt ihm noch nicht, dass er damit ein sehr langes Stück ihres Geduldsfadens gekappt hat. „Und bei Ihnen?“
Er blinzelt ein wenig zu schnell. Manchmal ist es wirklich sehr einfach. „Auch… ja…“ „Gut, danke.“
Der ältere Kollege kehrt zurück und drückt Oelßner die Akte in die Hand. „Hier, viel Spaß damit und schönen Wandertag noch; ich hab noch mehr zu tun.“ Er hat noch ein nicht unfreundliches Nicken für Vincent übrig, bevor sie wieder im Gang verschwinden.
„Kollege Oelßner, was sind denn Ihre Pronomen, wenn wir schonmal dabei sind?“
Jetzt brechen die Zornesfalten über seine errötende Stirn. Vincent entsperrt ihr Handy in der Hosentasche. „Vorsichtig Freundchen! Ich muss euch hier gar nichts sagen, das sind immer noch laufende Ermittlungen, die euch überhaupt nix angehen!“ „Und deswegen ist so ein respektloses Auftreten irgendwie gerechtfertigt oder wie darf ich das verstehn?“ „Du kriegst genau, was du verdienst! Bist genauso altklug und aufdringlich wie Raczek! Mit dem gabs nur Ärger und wir ham jetzt wieder Arbeit mit seiner ganzen Scheiße. Immer das selbe mit euch. Gerade du solltest froh sein, dass der weg is. Nur ne Frage der Zeit, bis er dir aufs Maul haut. Die Polen mögen solche wie dich gar nich. N billiger Fick bist du für den, wenn überhaupt.“ Das so vertraute glühende Eis überall. Im Kopf, am Herzen, in der Stimme. „Das beantwortet meine Frage nicht.“ „Du hast hier keine Fragen zu stellen! Is mir egal, von wem du dich hast ficken lassen, dass du überhaupt zu deinem Posten kommst, dich nimmt keiner ernst und ich sag dir das wenigstens erhlich.“ „Schön, bist du fertig? Gehts deinem fragilen Ego besser? Vielleicht fragst du dich mal, warum dich diese sexuellen Dinge an mir so sehr beschäftigen–“ „Halt die Fresse, sonst–“ „Sonst was? Willst du mir aufs Maul hauen? Und dann, na was dann, hm?“
Die Knöchel treten weiß aus der roten Faust hervor; der Kiefer mahlt. So viel Hass hat sie wirklich lange nicht mehr erlebt. Die Kälte schärft ihre Sinne und ihre Venrunft, kann die flammende Wut in ihrem Inneren festhalten, bis es wieder sicher ist, sich ihr hinzugeben. Oelßner starrt ihn an, hat offensichtlich nicht mit dieser Gegenwehr gerechnet. Vincent wartet nicht, bis er sich vielleicht eine halbwegs schlagfertige Antwort überlegt hat. „Dann bekommst du richtig Probleme, weil ich dich wegen der ganzen unnötigen Scheiße hier anzeigen kann.“
„Bist ja doch nich so dumm.“ Ein letzes, kraftloses Aufbäumen.
„Oelßner, es reicht. Es is mir sowas von scheiß egal, was du über mich denkst! Fakt ist, dass mein Partner KHK Raczek seit mittlerweile 54 Stunden verschwunden ist. Und es ist dein verdammter Job, diesen Kollegen zu finden. Wenn du dafür zu faul bist, hab wenigstens den Arsch in der Hose, richtig auf die Regeln zu scheißen und gib uns die Infos, die wir brauchen!“
„Ich lass mir von ner verdammten Schwuchtel nicht sagen, wie ich meinen Job zu machen hab.“
„Tja, es ist entweder das oder ich zeig dich bei deiner Kollegin gleich an. Dann muss sich wenigstens keiner von uns mehr Gedanken machen, wie du deinen Job machst.“
„In diesem ganzen Flur ist keine Sau mehr unterwegs, du hast nichts in der Hand gegen mich.“
„Ach komm, wie Tonaufnahmen mit nem Smartphone funktionieren, muss ich dir jetzt nicht erklärn, oder?“ Sie streckt die Hand nach dem dünnen Hefter aus. Er zögert. „Arschloch.“ Sie verzieht die Mundwinkel in ein Lächeln, das selbst er nicht als solches vertsehen würde. „Gleichfalls.“ Er braucht nicht mal Kraft, um die dünne Pappe an sich zu nehmen und lässt Oelßner stehen.
Ihr Herz donnert immer noch wütend gegen ihre Rippen, als er den Hefter auf Alex’ Schreibtisch ablegt. Ihr Blick folgt dem schnaufenden Abgang ihres Vorgesetzten, der wortlos in seinem Büro verschwindet. Kurz kneift sie die Augen zusammen ob des lauten Türschlags. „Warte jeden Tag drauf, dass die aus den Angeln kracht“, murmelt sie, bevor sie sich an Vincent wendet: „Was denn passiert, hat er sich vorm Kajal erschreckt?“ Hinter dem heiteren Ton verbirgt sich überraschend aufrichtige Anteilnahme. „Sowas in der Art… Egal, mal was anderes: Was hat er fürn Problem mit Adam?“ „Jedes? Keines? Ich kanns dir nicht sagen, aber das war schon immer so. Seit Adam hier angefangen hat, vom ersten Tag an ham die zwei sich gefressen.“ „Ist er dann überhaupt geeignet, die Ermittlungen zu leiten?“ „Die Ermittlungen in Adams Fall leite ich. Und ihr könnt mir glauben, dass hier kein Stein an seinem Platz bleibt, bis wir ihn gefunden haben. Das versprech ich euch.“
„War eben was?“ Wiktors Blick sagt ihm, dass er sich diese Frage eigentlich schon beantwortet hat. „Is jetzt nich wichtig. Wir müssen jetzt ne Lösung finden, wies weiter geht!“
Alex nickt und öffnet den Hefter. „Letzte Chance, die Ermittlungen einzustellen“, zitiert sie, „wenn man jetzt wüsste, ob die euch oder uns meinten…“ „Doroshenko sagte zu mir, dass wir aufhören sollen, nach Misiewicz zu suchen.“ „Da gehts ja um euren Lede, richtig?“ „Aber der scheint ja in beides involviert zu sein.“ „Und sie wird spätestens jetzt wissen, dass wir auch nach wie vor nach Adam suchen.“ „Der letzte Teil klingt auch nach…“ Vincent ist sich nicht sicher, ob er ihr dankbar dafür ist, dass sie es nicht ausspricht.
„Ich rufe Pawlak an.“ Wiktor greift ohne zu zögern nach seinem Handy und steht auf. Muss herumtigern, wenn er telefoniert. Immer. Wärme in Vincents Herz, ganz deutlich durch diesen Wust an Wut, Empörung, Ekel und Angst. „Vielleicht kann man dieser Tanja und ihren Leuten glaubhaft vormachen, dass wir aufhören würden…“, überlegt Alex laut.
Sogar auf die Entfernung kann Vincent hören, wie sauer Pawlak ist, als Wiktor ihm erklärt, wo sie gerade sind. Während er sich beruhigt, kehrt Leben ins Büro zurück. Der Rest des Cottbuser Teams trudelt ein. Eine kurze Erklärung, eine noch kürzere Vorstellung und in einem Zeitraum, der sich nur wie ein Wimpernschlag anfühlt, hocken sie zu zehnt zusammen. Am anderen Ende des Telefons hört Vincent auch Edyta und Wolle. Sie hätten viel eher so zusammen arbeiten müssen. Wer weiß, was Adam all diese Stunden kosten werden.
„Kurwa!“ Wiktor krampft die Hände ums Lenkrad zusammen. Vincent starrt in die glühend orangene Abendsonne, lässt ihren erschöpften Körper von dem schwebenden Gefühl auf der Autobahn einlullen. „Ja. Aber ehrlich gesagt is es mir wirklich sowas von egal. Ich will nur nich, dass Adam dann drunter leiden muss.“ „Das wird er nicht. Ich kenne Alex selber nicht so richtig aber Adam hat sich immer auf sie verlassen können. Da kann der Oelßner denken, was er will, da kommt nichts dazwischen! Das war schon damals so.“ „Dann is gut.“ „Co czujesz?” Wie fühlst du dich? „Zmęczony…” Müde. Wiktor nickt. „Hab irgendwie das Gefühl, wir hätten heute gar nichts erreicht.“ „Wir haben einen Plan, wie wir weiter machen.“ „Ja, aber es fühlt sich nicht so an.“ Er nickt wieder. Sie sind fast allein auf der Piste. Sind aus der Zeit gefallen. In ihrer kleinen Kapsel, dem Auto. Losgelöst von allem anderen, auf dem Weg theoretisch irgendwo hin. Diese ganze Scheiße einfach zurücklassen. Verlockend.
Verlockend? Ohne Adam? Nein. Am liebsten alles ungeschehen machen, das wärs. Und dann einfach mal irgendwo hin. Er hat sowas ja auch schon ab und zu mal angedeutet. Dass er diesen Job, diese ganze Scheiße, gern hinter sich lassen würde. Daran denkt er schon länger, immer mal wieder. Eigentlich seit Olga damals aufgehört hat… Olga… Olga Lenski. Moment. „Du sag mal, die Sache mit Tanjas Vater damals.“ „Ja?“ „Adam war doch mit Frau Lenski unterwegs dort, als das mit Lede ausm Ruder gelaufen ist?“ „Ja, sie waren zusammen in der alten Halle.“ „Weiß Tanja das?“ „Ich nehme es an, wenn sie sich ja auch so sehr darauf stützt… Worauf willst du hinaus?“ „Wenn Tanjas Motiv Rache ist, sie Lede schon erwischt hat und Adam der nächste ist… Was is mit Frau Lenskis Sicherheit?“ Wiktor zieht langsam die Schultern hoch. „Also, sie ist doch schon sehr lange nicht mehr bei der Polizei…“ „Was macht sie jetzt?“ „Weiß ich tatsächlich gar nicht genau. Aber es ist etwas, das mit unserer Arbeit nicht mehr das Geringste zu tun hat, das war ihr damals wichtig.“ „Könnten wir sie trotzdem irgendwie erreichen?“ „Adam hat ihre Nummer, glaube ich.“ Er versteht Vincents Blick sofort. „Ansonsten noch in den Unterlagen im Büro.“ „Gut.“
Obwohl die digitale Uhr des Bildschirms schon straff auf Zwanzig Uhr zugeht, wirft Wolle die Kaffeemaschine zum wer weiß wie vielten Mal heute nochmal an. Vincent lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtet die glutrote Linie weit am Horizont, während er dem Freizeichen lauscht. Vier mal. Fünf. Vielleicht ist die Nummer wirklich nicht mehr aktuell. Doch irgendwas hält ihn davon ab, aufzugeben. Auch nach dem achten Klingeln nicht. Neun. Zeh – „Wer ist da?“
„Guten Abend, Ross mein Name, Kripo Swiecko. Spreche ich mit Olga Lenski?“ Tiefes Seufzen am anderen Ende. „Tun Sie. Und jetzt bin ich gespannt, was Sie von mir wolln…“
Notes:
Its been a while, es tut mir leid. Aber ich habe das Logikproblem besiegt und die nächsten Kapitel werden nicht so lange dauern.
Danke fürs noch oder wieder oder gerade erst dabei sein, lasst gerne alles an Gedanken hier, was ihr loswerden möchtet <3
Chapter 4: Verblasst
Notes:
If your are not in a good place mentally right now, please read with caution or come back later, take care <3
(See the end of the chapter for more notes.)
Chapter Text
Komische Sache, Freiheit. Einfach vom Gefühl her, ich wüsste ehrlich nich wie ichs beschreiben würde, wenn man mich fragt. Ich hab nur manchmal so Momente, in denen mir richtig klar wird, dass ich mich frei fühl. Wenn die Maschine zu nem Teil von dir wird und du jeden Stein, jeden Huckel unter den Rädern richtig in deinem Körper merkst und trotzdem is es, als würde man den Boden gar nich berühren. Es is wie Fliegen, weil alles wie so ein Band einfach unter die Räder rutscht. Witzig is auch, wenn mir der Wind die Jacke dann so an die Brust klatscht, als könnter da wirklich was abbremsen. Das war immer schon n besonderes Gefühl. Eigentlich ziemlich eindeutig aber trotzdem nich wirklich in Worte zu fassen. Und seit ich nich mehr alleine fahre, is sowieso alles anders. Noch schöner. Intensiver. Weil… ja es is einfach n schönes Gefühl… wenn der ganze Körper sich dann so… anschmiegt. Am Anfang immer noch son bisschen ängstliches Klammern aber trotzdem is irgendwie ganz klar, dass man… dass ich… naja, alles im Griff hab. Dazu dann noch unsere beiden Maschinen zusammen, das klingt eben verdammt geil, mittlerweile würd mir da echt was fehln.
Vielleicht sind Freiheit und Glück auch so zwei Sachen, die nich ohne den anderen können. Wenn ich genauer drüber nachdenke, sind das alles auch Momente, in denen ich… naja glücklich bin. Zusammen in den Sonnenuntergang fahren, das is so friedlich und nur für uns, da will keiner mehr was, da sind wir einfach ma weg. Einfach zu dritt. Das is halt… schön.
Ein schwarzer Pickup verdunkelt die Sonne.
Zerfetzt Wärme, Nähe und Echo.
Freiheit tut so scheiße weh, wenn sie nich mehr da is.
Kühl ist es.
Abgestandene Luft, schwanger von Erde und altem Stroh, kriecht in seine Lungen und sticht links in die Rippen. Ein wenig wärmer und noch abgestandener verlässt sie seinen Körper dann wieder. Ganz von alleine, darüber muss er nicht nachdenken. Aber er merkt es jetzt wieder.
Wie die Schmerzen. Sein Hirn kommt gar nicht hinterher, sie alle einzeln zu spüren. Irgendwo pulsieren sie mit seinem bockigen Herzschlag, an anderen Stellen ist es ein Brennen, Stechen, Drücken, Ziehen. Verschwimmt alles zu… einer Art Chor. Er will die Augen nicht öffnen. Aber auch ohne die schweren Lider zu bewegen, wird ihm wieder klar, wo er sich befindet. Dass er sich befindet, noch immer.
Die feste Matte drückt gegen seine Wange. Gegen die Schulter und die Hüfte, die Knie und die Knöchel. Er muss das Gleichgewicht verloren haben. Um die Handgelenke klammern sich seine Handschellen, schneiden rechts in die geschwollene Haut, von der Eisenkette herunter gezwungen. Links bohrt die fixierte Kanüle ins Fleisch. Am Rücken spürt er die dicken Edelstahlstreben.
Sein Gesicht brennt in mehreren kleinen Schnittwunden und als er die Augenbrauen bewegt, wird es warm und klebrig an der Schläfe. Der Schorf an der Stirn ist wieder aufgerissen. Seine Klamotten reiben überall an Schürfwunden.
Alles, einfach alles fühlt sich zerstört und wund an.
Nur sein Herz pocht stur weiter und seine Lungen empfangen die unangenehme Luft, weil sie das einzige ist, was ihm übrig bleibt. Sein Körper ist noch nicht bereit, wonach sein Geist sich fast schon sehnen möchte. Jedes Aufwachen schmeckt bitter auf der blutigen Zunge. Nach Aufgeben und nach schlechtem Gewissen. Wenn er aufgibt, haben die gewonnen. Und nichts mehr zur Ablenkung. Das ist der Deal. Seine Existenz, sein Leben, seine Freiheit für die anderen. Taking one for the team.
Doch wenn schon nicht sterben, sehnt er sich nach schlafen. Im Schlaf schweigen die Schmerzen. Nur die Gedanken schweigen nicht. Sie sind nur zäh; zum Denken zu wenig, zum Schlafen zu viel.
Schwerfällig öffnet er die Augen. Dunkelheit bleibt Dunkelheit. Es ist nur zu erahnen, wo die groben Steinmauern beginnen. Wo die Regale stehen und das Klinikbett, samt Zubehör. Und auf welcher Höhe etwa die Feuerschalen hängen. Er weiß nur, wenn er die Beine nicht ganz lang ausstreckt, berührt er schon die Ränder des Käfigs. Und wenn er sich auf die Füße rappeln könnte, wäre noch etwa eine Fingerbreite Platz, bis seine Haare an Gitterstäbe streifen. Und durch die Stäbe führt der dünne Schlauch von einem Tropf bis zum Zugang an seiner Hand. Den er nicht abkriegt und wer weiß was davon eingeflößt bekommt.
Die Dunkelheit wabert und wird erst still, als er ein paar Mal blinzelt.
Stille. Dröhnt, drückt. Schluckt das Klirren der Kettenglieder gegen Gitterstäbe, als er sich vorsichtig aufsetzt. Neuer Schmerz schlägt durch seinen Geist, brennendes Ziehen auf der Haut an der Brust. Seine Stimme klingt so fern und fremd, verschwindet in der Dunkelheit.
Sein Pulli hat Löcher, klebt mit den fransigen Rändern am Fleisch.
Mit wilden Fetzen an Erinnerung überkommt ihn auch Übelkeit und verkrampft den eh wunden Magen. Zwischen dem fressenden Schmerz blitzt ein Gesicht wie ein verschwommenes Spiegelbild; mit ihm ein wenig Linderung. Dann Dunkelheit. Dann Stille.
Jetzt Stille. Die selbe Dunkelheit. Angst kriecht ihm durch die Knochen, presst seinen Herzschlag gegen die geschwollenen Rippen.
Das… das war doch gerade erst!
Oder… doch vor Stunden? Vor Tagen?
Das Echo einer Stimme wabert durch seine Gedanken: Fragen. Über… Olga? Wo sie ist, was sie macht, ihre Familie. Über Alma und ihren Vater. Fragen, die Adam nicht beantworten… wollte. Ich weiß es nicht! Sein Mantra. Immer wieder diese Worte. Und jedes Mal Schmerzen. Tritte. Schläge gegen seinen Kiefer. Das schwere Pochen rechts unter der Wange. Richtig. Und dann, irgendwann nach der dreizehnten Wiederholung das plötzliche Zischen, Glühen, Reißen, Fressen durch seine Haut, das ihm die Luft und schließlich das Bewusstsein nahm. Und wenn es das nicht getan hätte… er hatte das Bisschen, was er tatsächlich noch weiß, schon auf der Zunge.
Wieder Übelkeit.
Was, wenn er… Fuck, was wenn er das beim nächsten Mal nicht schafft? Was, wenn er Schuld ist, dass Olga was passiert? Alma? Er weiß nicht, wo genau sie jetzt wohnen aber er weiß – nein! Gar nicht erst drüber nachdenken! Er weiß es nicht! Gar nichts weiß er noch von ihr! Solln sie sich doch die Zähne an ihm ausbeißen!
Irgendwas Gutes muss das doch haben. Hat nicht alles doch irgendwie was Gutes? Darüber haben sie vor… Tagen? Wochen? Ihr Date letztens, da kamen sie irgendwann auf die Frage und waren sich über die Antwort nicht einig. Adam würde gerne hoffen, dass es so ist. Und manchmal… funktioniert das Leben ja auch so. Wenn er zum Beispiel Vincent nicht so angegriffen hätte, wäre Wiktors Machtwort wohl erst irgendwann später gekommen. Später, wenns zu spät gewesen wäre. Aber so… konnte Adam sich ja gar nicht mehr gegen seine Hilfe wehren. Und wenn Vincent sich seiner nicht auch angenommen hätte, wenn er ihm nicht verziehen hätte, wahrscheinlich hätte Adam nie den Mut gefunden, seine Gefühle zuzulassen. Oder gar darüber zu sprechen.
Es klingt alles so unmöglich. Aber lange klang es auch unmöglich, dass er zwei Menschen gleichzeitig… lieben könnte.
Unmöglich.
Nur wirklich glücklich damit zu werden, ist wohl doch unmöglich. Vielleicht nicht, weil sie zu dritt sind. Sondern… weil er selbst… Vielleicht dürfen die beiden dann alleine glücklich werden und seine Aufgabe, sein Nutzen ist es, sie zu schützen. Das Gute daran, dass sie ihn kennen, ist, dass er sie mit seinem Leben beschützen würde. Und das Gute daran, dass er jetzt hier… wahrscheinlich unten… hockt und alle möglichen Gewaltausbrüche erträgt, ist, dass sich in der Zeit diese Gewalt nicht gegen die beiden richtet.
Schlimm muss es trotzdem sein. Es ist schlimm, nicht bei ihnen zu sein und… für sie ist es schlimm, dass er nicht da ist. Ein kleiner, weicher Funke streichelt sein Herz durch all die Schmerzen. Und da ist keine innere Stimme, die ihm das Gegenteil einreden will. Er weiß, dass Wiktor und Vince ihn lieben. Dass sie ihn vermissen, dass er ihnen wichtig ist. Er kann es ihnen glauben. Dieses Wissen um ihre Liebe ist, was ihn am Leben hält. Das zu erreichen, war ein langer Weg, der immer schöner wurde.
Und nun isser vorbei. Sein geschundener Körper hat kaum Energie aber ein bisschen Wut blüht da trotzdem. Warum darf es eigentlich nicht einfach mal schön bleiben? Warum muss–
Dumpfe Schritte fordern seine Aufmerksamkeit. Schwere Metallbolzen kratzen durch Holz und Gestein. Flammen fauchen auf, ihr Licht krallt in seine Augen als sie auf halber Höhe den Raum einschließen. Wärme leckt an wunder Haut.
Ein massives Schloss wird geöffnet.
Adam blinzelt gegen das stete Flackern und kann sich die hellen Bildfetzen zusammensetzen: Festgetretener Erdboden, Stroh, münzgroße Kettenglieder, der staubig blaue Rand seiner Matte. Seine Silhouette darauf in einem grotesken, tanzenden Schattenbild.
Knarren irgendwo vor ihm, dann treffen eiserne Beschläge auf blanke Steinwand. Die Schritte klingen nach festen, groben, flachen Sohlen. Stiefel. Oder Arbeitsschutzschuhe. Irgendsowas.
Und große, eher stumpfe Krallen, die auf Gestein kratzen. Drei Steinstufen herunter, dann werden beide Klänge dumpf auf dem Boden. Wieder das Knarren und ein schwerer Bolzen rutscht in ein Schloss zurück.
Langsam wird der blendende Schleier sanfter; erschlägt ihn die Helligkeit nicht mehr. Adam bewegt sich nicht. Lauscht. Sein Hirn kämpft gegen die wabernde Benommenheit, Gedanken ziehen sich durch Nebelschwaden.
Auf blanker Erde sind die Schritte kaum zu verfolgen. Rascheln. Dünner Stoff. Klamotten die zu groß sind. Rascheln um seinen Käfig herum, ein Schatten streift durch sein Blickfeld am Boden.
„Na, Śpiąca królewna*, ausgeschlafen?“ Mit kalter Hand streicht die Stimme die feinen Haare in seinem Nacken aufrecht. Noch bevor er die Antwort überhaupt verweigern kann, klickt ein Schalter; erfüllt die dicke Luft ein mechanisches Summen. Die Kette erwacht zum Leben, die Glieder reiben aneinander wie ein klirrender Schlangenleib. Dann spürt er den Zug an den Handschellen. Spürt, wie seine Arme langsam nach oben gezogen werden. Aus dem Pochen in Schulter und Ellenbogen rechts wird Beißen, Ziehen, Schaben unterm Schulterblatt, weil das Gelenk irgendwo an der Pfanne vorbei rutscht. Während er versagt, die Schmerzenslaute zu unterdrücken und auf die Knie gezwungen wird, schabt der einfache Metallriegel des Käfigs über die Schlossplatte.
Panik und Schmerz jagen sein Herz voran, bis das Summen endlich verstummt.
Wieder Rascheln, als sie sich vor ihm auf ein Knie hockt. „Aw, müssen wir deine Dosis erhöhen, hm?“
Eine schlanke Hand greift grob nach seinem wunden Kiefer, zarte Finger drücken fest in die blutunterlaufene Haut und zwingen seinen Blick geradeaus.
Auf das makellose Gesicht, das den kindlich weichen Zügen wohl schon lange entwachsen ist. Umrahmt von Blonden Wellen, die nur gerade so die Schulter streifen, wenn sie den Kopf schief legt. Kühle Augen, die ihm damals schüchtern auswichen, suchen jetzt scharf und furchtlos in seinem Blick.
„Kannst du mir nicht antworten oder willst du nur nicht?“
Der weiße Reißverschluss des blauen Spusianzugs ist nicht bis zum Hals geschlossen, ein helles Shirt und der Kragen eines dunklen Jacketts gucken raus. Handschuhe hat sie heute nicht an. Und die groben Arbeitsschuhe sind auch nicht mehr bedeckt. Sie verhindert nicht mehr, dass sie Spuren an ihm hinterlassen könnte. Übelkeit flackert durch Adams Körper. Irgendwas ist passiert. Sie hat ihre Pläne geändert.
„Du warst mal so redselig. Hast du dann auch mal gemerkt, dass deine stumpfen Maschen durchschaubar sind?“
Stumm fixiert er die bösen Augen.
Sie lächelt; ungleichmäßig, der rechte Mundwinkel zieht vor dem linken nach oben. „Oder hast du doch endlich Angst, hm?“
Blut sammelt sich auf seiner Zunge.
Ihre Stimme wechselt zu übertriebener Weinerlichkeit: „Du weißt es nicht, hm?“
Sie spielt schon wieder. Adam spuckt ihr den Blutschwall entgegen.
Der Hund knurrt gedämpft durch was auch immer er zwischen den Zähnen trägt und klingt dabei trotzdem nicht weniger bedrohlich. Doch noch streicht er draußen um die Gitterstäbe und hält sich zurück.
Tanja zuckt nicht mal zusammen. Augenrollend wischt sie sich mit dem Ärmel über ein paar Spritzer an der Wange. Der Rest prangt auf ihrer Brust. Es ist nicht viel. Er hat nicht mehr viel. Seine Stirn pocht, der Raum wankt stärker, sein linkes Knie brennt vor Schmerz und das rechte beginnt von der Anstrengung zu zittern. Sein Unterleib zieht widerlich und er will nicht genauer darüber nachdenken, dass in seinem linken Hosenbein direkt am Oberschenkel nicht mehr genug Platz ist.
„Süß…“ Scharfe Fingernägel ziehen von seinem Kiefer den Hals herunter, streichen zart nur ganz knapp an den fransigen Rändern der nässenden Wunden seine Brust entlang; spielen mit den Wollfasern auf der geschundenen Haut. Allein die Vorahnung des Schmerzes treibt ihm die Tränen in die Augen. „Wie du selbst in dieser Situation immer noch so an dich glaubst. Wie du wirklich noch glaubst, du könntest dich wehren.“ Fast schon beiläufig zeichnet sie mit festem Druck der eckigen Acrylnägel ein Kreuz auf sein Brustbein kurz unter den Schlüsselbeinen. „Warst ja schon immer ein Mann des Glaubens…“ Adam presst die Kiefer aufeinander. „Ich bin mir immer noch unschlüssig, ob das mutig oder naiv ist. Immerhin hältst du bisschen was aus.“ Sie tätschelt ihm die Wange und grinst, als er ausweichen will, weil sie sieht, dass ihn der Schmerz in der Schulter blockiert. Amüsiert sich weiter, während sie aufsteht und etwas aus einer Tasche neben dem Käfig zu holen. „Du bist echt kein Stück schlauer geworden, da hatte ich doch mehr erwartet. So blöd sahst du damals gar nich aus aber hey, wir wurden wohl alle eines besseren belehrt. Deine Exfrau hätte mir das bestimmt verraten können. Liebe Grüße von ihr übrigens, die Kinder fühlen sich wohl in Berlin.“ Unter anderem ist es ein Handy, das sie aus der Tasche holt und dessen Display sie Adam nun unter die Nase hält. Das Foto jagt ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Lidia und eindeutig die Mädchen; irgendwo in einer Fußgängerzone in der Innenstadt. Sonnenbrillen und dicke Klamotten haben sie an.
„Sie haben seit Jahren nichts mehr mit mir zu tun.“ Auch etwas, wozu Vincent ihn wieder ermutigen wollte. Zum Kontakt mit seinen Kindern.
Er darf Tanja nicht zeigen, wie sehr ihn das Bild erschüttert. Sie nickt verständnisvoll. „Sag ich ja. Wär auch sehr schade, wenn noch mehr Kinder erleben müssten, ihren Vater zu verlieren. Reicht ja, dass du einmal daran Schuld bist.“
„Ich hab Vitali nicht–“ Eiskalt glühender Schmerz explodiert zwischen seinen Beinen, sodass er die Faust um sein Haar nicht mal mehr spürt. „Du kleines Stück Scheiße nimmst Vaters Namen nicht in den Mund, hast du mich verstanden!“ Sie erwartet keine Antwort. Adam könnte sie nicht mal geben; seine Muskeln fühlen sich an, als sei links noch mehr gerissen. Sie wartet geduldig, bis er nicht mehr schreit.
„Deine Kollegin hat offensichtlich n bisschen nachgedacht, dass sie sich verpisst hat. Für diese Voraussicht respektiere ich sie und da ich mir sicher bin, dass du eh mehr Schuld an allem hast, ist es nur fair, mich dir zu widmen.“
„Warum war das unsere Schuld?“
In ihrer Hand klickt ein Zigarettenanzünder, mit dem sie gedankenverloren herumspielt. „Willst du die Frage wirklich gestellt haben?“
Es missfällt ihm, gegen den getöteten Kollegen zu sprechen aber er kann die verquere Logik der ganzen Situation nicht stehen lassen. „Lede hat abgedrückt, nicht wir.“ Sie kommt näher, die kleine runde Flamme in der Hand. Adam spricht weiter, solange sein Hirn noch mitkommt. „Er wurde bedroht und hat dann die Nerven verloren.“ Sie schiebt ein paar Stofffetzen des zerstörten Pullis zur Seite und Adam spricht schneller, als die Flamme seiner Haut immer näher kommt. Tanja sieht ihm unvermittelt in die Augen. „Und dafür hat er ja offensichtlich schon bezahlt. Wir habe–“ Der Schmerz explodiert in gleißendem Weiß vor seinen Augen und nimmt ihm die Luft. Sie drückt die Flamme in seine Haut und stört sich nicht daran, dass er ihr ins Gesicht schreien muss, weil er nicht ausweichen kann.
„Es war. Dein Job.“
Sie geht einen Schritt zurück und beobachtet ihn genau. Als er nur noch keuchen kann, spricht sie weiter: „In der Schuldfrage sind deine… Kollegen und ich uns übrigens sehr einig. Guck nich so, is wahr. Ich würd ja sagen, frag sie selber aber… naja, vielleicht gibt es wirklich ein Jenseits in dem ihr euch wieder treffen könnt.“
Sie lügt. Will ihn noch mehr provozieren. Wut kämpft sich in ihm hervor: „Deine Psychospielchen sind nicht gut durchdacht. Wir hatten eine Abmachung. Meine Kollegen hatten nichts damit zu tun und das bleibt auch so, wenn ich mich nicht zur Wehr setze. Das war der Deal!“
Wieder sieht sie ihn nur kühl an: „Hoppla, da hab ich mich wohl anders entschieden.“
Viel zu schnell ist sie wieder bei ihm, packt seinen Hals und drückt zu.
„Du bist Abfall, Adam Raczek. Du bist nichts. Du machst Probleme und bringst Unglück.“ Schwindel, Schmerzen, kleine schwarze Pünktchen am Rande seines Blickfeldes. „Leid und Tod für alle, die dachten, sie könnten dich lieben. Verdammt hast du sie, weil sie dir wichtig sind. Wenn du nicht wärst, könnten sie alle noch leben.“ Sie lässt minimal Locker, als seine Lider flattern und ihre Stimme klingt wieder näher als zuvor. „Dir wärs ergangen wie Lede, der nach ein bisschen Belustigung für mich einfach sein Schuld begleichen durfte. Er hat niemanden mit reingezogen. Aber du, Adam, du liebst diese Menschen. Und sie lieben dich. Wenn du nicht wärst, hätten sie nicht leiden müssen. Wenn sie nicht nach dir gesucht hätten, wäre ihnen nichts passiert. Dann hätt ich gar nicht wissen wollen, was der Kleine Prinz so alles aushalten kann. Ich hätte nicht den Reiz verspürt, ihn zu brechen.“ Sie presst die Nägel in seine Haut, bevor sie langsam loslässt. „Ich mein, es war ein euphorisches Erlebnis. Eine bezaubernde Stimme hatte er und wie hübsch er leiden konnte.“ Sie ignoriert sein ersticktes Röcheln. „Auch da kommst du nicht ran. Aber ich bin dir dankbar und hab dir was mitgebracht.“
Sie schnippt mir den Fingern und der Hund streicht auf leisen Pfoten um die Stäbe in den Käfig hinein. Aus dem Griff der langen Zähne sinkt ein etwa faustgroßer Fleischbatzen auf kalte Erde. Dunkelrot, von feinen Adern und weißen Schlieren überzogen.
Adams vom Schmerz vernebeltes Hirn weigert sich zu akzeptieren, was nicht zu leugnen ist. Sein Magen krampft sich zusammen. Aus Reflex schüttelt er den schmerzenden Kopf.
„Ich hab keinen Grund mehr, dich zu belügen“, säuselt sie.
Sie packt seinen rechten Arm und beugt sich zu ihm. „Der Platz im Herzen eines Anderen ist nur solange schön, wie es schlägt, nich war. Danach ist er nicht mehr viel Wert.“ Mit der Hitze sickern ihre Worte in seinen Geist, streichen widerlich warm über sein Ohr. „Ich hatte einen Platz im Herzen meines Vaters. Bis Lede ihn getötet hat. Weil du es nicht verhindert hast. Es war. Dein. Verdammter. Job. Adam Raczek.“ Feuer über der Rose am Unterarm. „Und du hast versagt. Du allein trägst die Schuld für all das.“
Verbranntes Fleisch blockiert seine Nase; er hört selbst nicht mehr, wann der Schmerz seine Schreie erstickt.
Als sein eigenes Keuchen ihn zurück holt, liegt er am Boden auf der Seite, die Arme nach vorn gestreckt. Sie hockt neben ihm und zieht gerade eine Spritze aus dem Zugang im Handrücken; lächelt ihn an. „Schon schade um all den Spaß mit dir…“ Er klammert den Blick an die scharf gezogenen Augenbrauen, der Rest ihres Gesichts verschwimmt immer wieder.
Während sie aufsteht, sind die Pfoten fast vor Adams Fingern, als der Hund das verdammte Herz wieder aufnimmt. Tanja schickt ihn vor sich hinaus, dann hält sie an der Käfigtür inne, als fiele ihr noch etwas ein. Sie kramt in der Innentasche ihres Sakkos. Und wirft ihm etwas zu. „Den Rest verscharren wir morgen mit dir.“
Ein dumpfes Pling auf der Erde. Feine Goldglieder im Dreck. Der Ring schimmert sanft im Flackern der Feuer. Dunkle, krustige Flecken am zarten Verschluss.
Nein.
Vince würde nie. Niemals. Und das Blut. Nein!
Nein!
Verzweiflung treibt ihn auf die Beine, sein Knie gibt nach, er stolpert auf sie zu. Kein Zucken, kein Zurückweichen, sie weiß, dass sein Körper aufgeben muss. Er landet im Dreck vor der Matte. „Na na, so viel Aufregung is nich gut fürs Herz“, ihr Lachen dröhnt in seinem Kopf, bis die Eichentür zuschlägt.
Ätzende, zerreißende Leere frisst sich durch seinen Körper; stellt alles in den Schatten, was er je körperlich empfunden hat. Eine Art von Schmerz, die keinen Namen hat; allmächtig ist in ihrer Zerstörungskraft und ihn mit sich reißt, gleichgültig über seinen verkrampften Griff um den Ring.
Tränen. So viele Tränen. Rau und schwach klingt sein Heulen im verglimmenden Fackellicht. Irgendwo muss er hin mit dem Schmerz, sein Körper macht das von allein, um nicht zu zerspringen. Ein einziger Gedanke schreit, fleht in seinem Kopf. Dass es nicht stimmt. Dass es einfach nicht wahr ist. Das kann nicht wahr sein. Darf nicht wahr sein. Noch nie im Leben waren Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit so endgültig.
Träge aber stur pocht sein Puls in den Schläfen, drückt gegen die Stirn. Lässt all die Schmerzen aufblitzen, die sein Wimmern unterbrechen, wenn ihm die Luft wegbleibt. Luft, die nach verbranntem Öl riecht. Unnachgiebig und kalt schmiegt sich der Ring in seine Handfläche. Raue Krümel reiben zwischen dem glatten Goldband und seiner Haut. Bis Taubheit in jede Faser seines Seins sickert. Und doch kann sie das Ätzen in seiner Seele nicht mildern.
All das ist seine Schuld. Und nichts davon kann er wieder gut machen. Er hat versagt. Damals bei Tanjas Vater; beim Unfall und in den letzten Tagen. Er wollte Vincent schützen. Und nicht mal das hat er geschafft.
Erschöpfung greift nach ihm. Wenn es einen Gott gibt und wenn der noch irgendeinen Funken Gnade für Adam hat, lässt er das seinen letzten Schlaf sein. Adam will nicht mehr aufwachen. Nie wieder. Ein Leben ohne Vincent kann er nicht ertragen. Wiktor würde ihm verzeihen und auch das… das erträgt Adam nicht.
Donnergrollen – so fern, dass es nur Einbildung sein kann – wandelt sich von einem Flüstern in seinem Geist zum schwachen Echo von Wiktors Stimme. Wiktor, der von Adams diffuser, kindlicher Angst vor Gewitter wusste. Irgendwo im Nebel seiner verglimmenden Gedanken wabert Wiktors Stimme umher. Ein altes Schlaflied in der Sprache ihrer Herzen. Seit Jahren das einzige zuverlässige Mittel gegen Adams Angst. Selbst jetzt beruhigt allein die Erinnerung, auch wenn tiefe Schuld sein Herz zerfrisst. Wieder spürt Adam die Tränen heiß auf seinen Wangen. Vincent ist tot. Und Wiktor vielleicht auch, oder viel schlimmer, wenn Wiktor damit leben muss…
Es ist vorbei. Adam wird unendlich müde.
Eine weiche Dunkelheit greift nach ihm und vertreibt die Schmerzen. In seinem gebrochenen Herzen nur noch den Wunsch zu sterben, so schläft Adam Raczek ein und spürt nach, wie sein Herz immer langsamer schlägt; wie die nun so grausame Welt mehr und mehr… verblasst.
Notes:
* Sleeping Beauty in Polnisch
------Should I be sorry idk feel free to tell me.
Hope you could enjoy though.
Chapter 5: Wage!
Chapter Text
Almost hope you're in heaven so no one can hurt your soul
Living in agony 'cause I just do not know
Where. You. Are.
Im Nacken und auf dem Brustbein brennt das warme Wasser ein bisschen, ansonsten ist es eine Wohltat; rinnt sanft über seine Haut und hinterlässt wenigstens die Illusion von Normalität. Erschöpfung und diffuse Unruhe zerren die ganze Zeit an Vincent und hier unter der Dusche findet sie ein Zwischenstadium, in dem sie kurz durchatmen kann. Das blaue Muster auf den Fliesen hat sich nicht verändert und doch gefällt es ihr nun immer mehr. Weil es Adam gefiel. Gefällt!
Seufzend neigt sie den Kopf nach vorn und schließt die Augen vor den Strähnen, die sich nun vom Wasser geführt an seine Stirn schmiegen. Lässt die heißen Tränen gleich fort waschen.
Es laugt so sehr aus. Alles. Das Beste hoffen aber das Schlimmste erwarten. Wieder. Immer noch. Eigentlich ständig. Und manchmal übernimmt die Ernüchterung das Ruder. Aber Vincent will die Hoffnung noch nicht gehen lassen, denn sie kämpft so unermüdlich, trotz aller Wunden, die ihr in den letzten Stunden geschlagen wurden. Weitermachen! Fleht sie, befielt sie, beschwört sie. Vincent nickt im Prasseln der Wassertropfen. Sein Magen knurrt unwillig zwischen die wirbelnde Spirale an Leere.
Durch die offene Badezimmertür schleicht der verlockende Duft einer Tiefkühlpizza. Wabert durch die ganze Wohnung in dem Versuch, dem Wust an Akten und Ordnern und Fotos und mehr oder weniger losen Notizen und zwei Laptopbildschirmen auf dem Küchentisch die Bedrohlichkeit zu nehmen.
Stattdessen sticht er Wiktor in die Nase und nährt das bittere Gären in seinem Inneren nur noch mehr. Sich Alex anzuvertrauen und auf eine Zusammenarbeit zu pochen, Karol davon zu überzeugen – das hätte ihr Wendepunkt sein sollen. Dass das Präsidium bis fast ein Uhr nochmal auflebte wie ein Bienenstock, dass alle ihre Kräfte zusammennahmen, sich zur Zuversicht zwangen und in regen Austausch mit Cottbus traten – all das sollte mehr nützen. All diese Unterlagen, die er und Vincent jetzt auch noch mitgeschleppt haben und vor allem die, die sie bei Adam gefunden haben, die sollten ihm mehr nützen. Er sollte mehr damit anfangen können, sollte mindestens die Hälfte bereits wissen. Sollte wissen, dass Tanja immer wieder einer Handvoll Mustern folgt. Er hätte wissen müssen, dass Jurek nur ein Werkzeug war und er müsste wissen, wer der verdammte Doppelgänger ist. Ganz zu schweigen vom Toten im Pick-Up. Er müsste all das wissen!
Oder wenigstens ahnen. Er hätte ahnen müssen, dass Tanja auf Vincent losgeht. Und er hätte es verhindern müssen! Er hätte wissen müssen, dass sie sich auf Adam konzentrieren wird, sobald Olga außer Reichweite ist. Er hätte all das kommen sehen müssen. Er kennt dieses ganze giftige System doch. Und er hat sie schließlich nicht umsonst, seine Kontakte. Es gab eine Warnung. Aber die Ratten reden viel, wenn der Tag lang ist. Und dennoch hätte Wiktor das nicht als leere Drohung abtun dürfen. Er hätte fragen sollen, ob Adam bei Vince bleibt; hätte ihn irgendwie dazu bewegen müssen. Wenn nötig, mit ein oder zwei Lügen. Lieber hätten sie ihn für verkopft und vielleicht eifersüchtig gehalten als… diese ganze Scheiße hier. Dann müsste er sich nicht verbieten, Gedanken zuzulassen, die die Erschöpfung mittlerweile mit sich bringt. Mit jeder Stunde magert die Wahrscheinlichkeit mehr ab, dass Adam gerettet werden kann. Was spricht denn noch dagegen, dass man ihn, wenn überhaupt, nur noch bergen wird? Eine Frage, der er sich nicht stellen müsste, wenn Wiktor auf sein Bauchgefühl gehört hätte, anstatt sich alles schön zu reden. Wenn er verdammt nochmal nicht versagt hätte, wäre Adam jetzt hier!
Stechen im Herzen so ätzend und bitter, dass er die Augen schließt und keuchend die Zähne zusammen presst.
Dann könnte er ihn jetzt einfach in den Arm nehmen und müsste nicht loslassen. Oder zumindest erst, wenn der Ofen sich meldet. Denn dann hätten sie jetzt gemeinsam Pizza gebacken. Vom Teig bis zum Belag – alles hätten sie selbst gemacht; zu dritt. Oder vielleicht wär Vincent heute tanzen gegangen; zum Geburtstag einer Freundin. Und Adam und er wären irgendwann weggedöst, während sie auf den angetrunkenen Anruf gewartet hätten, um ihn irgendwo einzusammeln. Von dem sie immer behauptet, ihn nicht zu brauchen. Und meistens ist das auch so. Und trotzdem schläft Adam nie richtig ein, bis er sicher weiß, dass Vince zuhause ist.
Zuhause… nichts fühlt sich jetzt noch danach an. Seine eigene Wohnung nicht, Vincents nicht und diese hier… Die Wärme des Ofens, die paar verstreuten Klamotten und auch das leise Prasseln der Dusche – trotz all dem sind die Räume kalt und verwaist. Als habe Adam bei seinem Verschwinden alle Lebensenergie mitgenommen. Er würde Wiktors Starren bemerken. Würde sich vor den überfüllten Tisch stellen, um Wiktor abzulenken. Fragend die Augenbrauen heben, wahrscheinlich schief lächeln und vorsichtig das Glas in Wiktors Hand auf die Arbeitsplatte hinter ihm drücken, sodass er die verkrampften Finger einfach in seine weben könnte. Er würde langsam näher kommen und die Stirn an seine legen und Wiktor zuflüstern, dass schwere Gedanken leichter werden, wenn man sie teilt, Kroliczku…
Das Glas zerspringt.
Splitter und Wasser regnen aufs Parkett; streifen Wiktors Wange.
Das Traumbild verschwimmt in brennenden Tränen.
Heiße Nässe breitet sich in seiner Faust aus. Spitzer Schmerz fühlt sich hohl und dumpf an, als käme er aus weiter Ferne.
„Wikusz.“
Es ist nur ein Flüstern. Und erst Vincents gequälter Blick lässt ihn begreifen.
Glas knirscht, als er langsam die Faust löst. Blut rinnt sein Handgelenk herunter, beinahe in den Ärmel von Adams Pulli. Ein Tropfen landet auf Vincents Zehen, als sie behutsam seine Hand in ihre bettet und nach oben dreht. Sanft hält, bis seine Finger nicht mehr zittern; Sorge und Fragen im tiefen Blaugrün.
Enge im Hals; Wiktor schluckt vergeblich. „Ich –“ Mehr Tränen. Zärtlich verstreicht Vincent sie mit dem Daumen auf seiner Wange. Stockend atmet Wiktor ein; seine Ängste wälzen nun ungehindert in ätzender Dunkelheit durch seinen Geist. Er schluckt wieder; weiß, dass die Worte schmerzen werden aber er kann mit dem Gedanken nicht alleine bleiben: „Ich wünsch mir fast, dass…“, Vincents Augen werden glasig, „dass er…“, er kann es nicht aussprechen, doch sie nickt und seine Stimme erstickt zu einem kläglichen Hauchen: „Weil ihm dann niemand mehr wehtun kann…“ Er sieht noch, wie sie die Augen schließt, bevor sie ihn an sich zieht. Sein Kopf sinkt auf ihre Schulter; nackte Haut dämpft sein Heulen, als er die Finger ins Handtuch um Vincents Hüfte krallt. Er muss hinnehmen, dass sein Körper in ihren Armen immer wieder zuckt. Muss die rollenden Wellen von Weinkrämpfen ertragen; hat keine Kraft mehr, sich gegen diese wirbelnde Dunkelheit aus Wut und Angst und Schmerz und Schuld zu wehren. Und irgendwann nicht mal mehr zum Schreien.
Ihre Herzen klopfen stetig gegeneinander und Vincent hält ihn einfach fest.
Tränen tropfen auf seinen Bauch und versickern im Handtuch; tropfen auf ihre Zehen, auf die von Glassprenkeln übersäten Dielen. Wassertropfen befreien sich aus den Locken und ziehen dünne Spuren über Vincents Rücken, bis sie Wiktors Fingerspitzen kitzeln. Langsam weicht die lähmende Verzweiflung purer Erschöpfung. Wiktors Knie beginnen zu zittern, unwillkürlich drückt er sich näher an Vincent. Sie legt eine Hand fest in seinen Nacken und Wiktor spürt, wie sich die Anspannung Stück für Stück löst. „Siadaj, Serce!” Setz dich! Seine Stimme ist sanft und kraftvoll wie sein Griff. Und es hilft. Durchbricht das dunkle Chaos in Wiktors Geist und bringt Stille. Sein Körper folgt von allein die paar Schritte zum Stuhl neben dem Tisch. „Dobre.“ Ihr Ton beruhigt ungemein und aus Gewohnheit schaut Wiktor kurz zu Vincent auf; schmiegt das Gesicht in ihr sanftes Streicheln, bevor sie kurz aus der Küche verschwindet.
Der Pizzaduft wabert immer schwerer um sie herum, während Wiktors Blick stumpf der Pinzette folgt, mit der Vincent die kleinen Scherben einzeln aus seiner Haut zieht. Stetig wandert sie zwischen Tischplatte und seiner Hand. Er hat aufgehört, zu zählen. Ein bisschen Blut sammelt sich in seiner Handfläche; rinnt durch die Finger auf Vincents Knie. Das Handtuch ist verrutscht. Mit einer Scherbe beißt der Schmerz doch durch seine Taubheit. „Shhhh, już dobrze.“ Alles ist gut. Stimme und Blick, wieder fühlt sich beides an wie ein zartes Streicheln seiner Gedanken. Schließlich taucht er gehorsam die verletzte Hand in eine Schale mit heißem Wasser, dann ballt er die Faust auf einen sanften Befehl hin. „Spürst du noch was?“ Ein bisschen Schmerz, ja. Aber kein Glas mehr. Er schüttelt den Kopf. Vincent lächelt und reißt die Verpackung einer sterilen Kompresse auf, dann sieht sie Wiktor in die Augen: „Używaj słów!“ Sprich! Zartes Kribbeln im Geist. „Radzę sobie.“ Alles gut. „Gut.“ Mit geschickten Bewegungen fixiert sie die Kompresse schließlich mit einer dünnen Binde an seiner Handfläche. „Dziękuję.“ Er schlägt das Stoffende überm Handgelenk noch unter den Saum, lehnt dann die Stirn an Wiktors.
Ihre Knie berühren sich, ihre Hände liegen ineinander.
Wiktor würde den Gedanken am liebsten zwischen ihnen verstecken: „Wir wissen nich mal, was er sich für die Beerdigung wünscht…“
Vincent streichelt mit dem Daumen über seinen Handrücken.
Dann steht er auf, umgeht auf Zehenspitzen das Scherbenfeld und schaltet den Ofen ab. Streckt die Hand nach ihm aus, als er wieder vor Wiktor stehen bleibt: „Komm“, befielt sie sanft und er lässt sich ins Schlafzimmer führen. Geleitet von Vincents Händen zieht er sich aus und sinkt ins Bett; vergräbt das Gesicht in den Kissen und erträgt das hohle Echo kaum, das mal Adams Geruch war.
Das Laken raschelt unter Vincents Bewegungen, dann spürt Wiktor ihre Fingerspitzen leicht zwischen seinen Schultern. Er wölbt den Rücken und ihre Finger beginnen zu wandern, das weiche Kribbeln fließt in beruhigenden Schauern durch seinen Körper. Er spürt den warmen, langen Linien nach und lauscht dem Regen am Fenster. Endlich hält das Wirbeln in seinem Kopf inne. Die Leere danach bleibt dunkel und schmerzerfüllt, aber wenigstens ruhig. Irgendwann – ob nur Minuten oder Stunden kann er nicht deuten – werden die Linien langsamer und schließlich spürt Wiktor die ganze Handfläche warm und still auf dem Rücken.
„Ich hab keine Antwort darauf.“
Wiktor dreht den Kopf und betrachtet Vincent durch den Spalt zwischen Kissen und seiner eigenen Schulter. „Hm?“
Vincent dreht sich, bis er an die Zimmerdecke starren kann und stützt einen Arm unter den Kopf; der andere streckt sich auf Wiktors Rücken. Selbst im Zwielicht weiß Wiktor, dass sie nachdenklich die Augenbrauen zusammenzieht. „Ich weiß einfach grad nich, was ich dazu sagen soll. In diese Richtung zu denken, das…“ Er schluckt schwer und zieht die Hand fort, um sich die Augen zu reiben. Wiktors Herz sticht. Vorsichtig rückt er näher, fühlt sich viel zu weit weg in dem nun viel zu leeren Bett, das eigentlich nicht für mehr als zwei Personen gedacht ist. „Przepraszam.” Tut mir leid. Schweigend hebt Vincent die Decke an und Wiktor rückt nah an ihn heran.
„An sich hast du Recht. Und wir… sollten über diese Dinge nachdenken. Das würde auch gehen. Aber wenn ich mir jetzt Gedanken dazu mache, dann…“ „Is Kernschmelze…“
Seine Augen schimmern, als er Wiktor wieder ansieht und nickt.
Abwesend zeichnet Wiktor mit dem Finger über Vincents blankes Brustbein. Vermisst es, feine Goldglieder zu verschieben und mit dem Ring Muster auf warme Haut zu zeichnen. „Ich weiß nich, wo das herkam…“
Als sie ihm zublinzelt, legt er den Kopf auf ihre Brust und im Takt ihres Herzschlags wabern die Gedanken weiter umher. „Ich will soweit nicht denken. Aber… es kommt mir immer mehr unmöglich vor, dass wir das nicht tun müssen. Aber das will ich auch nich und dieses Hin und Her… Es ist immer alles gleichzeitig da und im Moment fühl ich mich immer öfter so ganz kurz davor, dass ich zerbreche.“
Sein Herz beginnt zu hetzten, als wolle es davon laufen. Wiktor weiß, was ihm helfen würde aber er kommt nicht dazu, es Vincent zu sagen. „Ich weiß, das ich etwas tun muss.“ Mit diesem einen Wort packt Spannung seinen Körper; die Worte fließen einfach aus den Quellen gejagter Gedanken. „Aber ich weiß nicht mehr, was ich noch tun kann und irgendwie ist das, als würde ich ihn im Stich lassen.“
Vincent spürt den trommelnden Herzschlag an der Schulter.
„Ich komm mir vor, als hätt’ ich Adas verra–“ Ein fester Griff um seine Handgelenke, einer im Nacken. „Zamknij!“Sei still! Mit ruhiger, fester Stimme lehnt Vincent sich über Wiktor und drückt ihn mit dem Oberkörper in die Matratze. Ihr Unterarm presst seine Arme auf seinen wilden Herzschlag. Ihre Hand im Nacken sperrt ihn ein. Der dunkle Blick dringt durch Wiktors Gedanken und gibt ihm einen Punkt zum festhalten.
„Du hast Adam nicht verraten.“
Wiktor schlägt den Blick nieder in diesem angenehmen Gefühl von Unterlegenheit.
„Du tust alles, was du kannst.“
Als sie die Stirn auf seine sinken lässt, sickert Erleichterung durch seinen Körper und löst die Anspannung. Der Druck auf seinem Brustkorb gibt soweit nach, dass Wiktor tief durchatmen kann. Einmal. Zweimal. Vincents Atemzüge streichen zart über sein Gesicht. Ein drittes Mal, dann lehnt sie sich langsam wieder zurück und nimmt den Druck von seinem Körper. Nur die Griffe bleiben fest. Wiktors Kopf sinkt zurück auf ihre Brust.
„Już dobrze.“
Er kann noch nicht wieder antworten, schiebt nur ein Bein über Vincents und drückt sich näher an ihn.
In das Flüstern des Regens webt sich fernes Donnergrollen. Aus dem festen Griff im Nacken wird sanftes Streicheln; Spielen mit dem kleinen Kreuz, dass durch die Bewegung nach hinten gerutscht ist. Und zu Vincents Herzschlag mischt sich bald die zarte Vibration ihrer Stimme an Wiktors Wange. Blitzlicht flimmert über die Tropfen an der Scheibe. Der Donner schleicht näher und Wiktor formt leise die vertrauten Worte zur Melodie. Nach der dritten Strophe werden ihre Stimmen wieder leiser. Süße Bitterkeit.
„Hat er dir mal erzählt, wie das entstanden ist?“ Mit der Nase streicht er über Vincents Brust, hört das schwere Schlucken, bevor er antwortet: „Er hat erzählt, dass er als Kind bei Gewitter Angst hatte. Und dass du das früher schon wusstest.“ „Ich hab ihm gesagt, dass ich auch Angst habe, aber wenn ich mich aufs Singen konzentriere, dann gehts. Wie alt waren wir, vielleicht acht? Höchstens zehn.“ „War das nich so?“ „Ich hatte nie Angst aber… wir waren beste Freunde und ich wollte nich, dass er sich blöd fühlt. Wie Kinder eben so sind.“
Vincents Finger folgen dem Muster des Verbandes am Handgelenk und sie schmiegt die Wange in Wiktors Haar.
„Als wir älter waren, hat er sich irgendwann mal beschwert, dass das nie funktioniert hätte. Und dann hab ichs aus Spaß immer gemacht, wenn wir bei Gewitter zusammen unterwegs waren.“ „Wolltest du ihn ärgern?“ „Vielleicht. Aber wahrscheinlich wollt ich einfach sehen, dass es ihm gut tut, weil ich damals schon heimlich verliebt war.“ Vincents lautloses Lachen spielt mit Wiktors Haar. „Na das hätte er in dem Alter bestimmt auch noch nich zugegeben.“ „Hat er auch nich. Keine Ahnung, ob er das selber viel eher eingesehen hat, aber mir hat ers erst gesagt, kurz nachdem wir zusammengekommen sind.“
Auf einmal tut es weh, dass er Adam danach nie gefragt hat. Auf einmal wird diese kleine Information unheimlich wichtig. Ihre Finger verweben sich miteinander auf Vincents Bauch. „Ich bin froh, dass er das nicht unterdrückt.“
Wiktor nickt langsam. „Ich bin froh, dass er es dir einfach erzählt hat. Es ist schön, wenn du dabei bist.“ „Ich mag das auch.“
Vincent drückt mit Daumen und Zeigefinger am Nasenrücken in seine Augenwinkel, spürt die warmen Tropfen unter seinen Fingern. Und auf der Brust, wo sie von Wiktors Wange sickern. Wieder hallt da diese eiskalte, überwältigende Leere. Dass er nicht da ist, klafft wie eine Wunde zwischen ihnen, die sich nicht mal Haut an Haut schließen können; frisst sich bitter und gnadenlos durchs Herz und lähmt die Gedanken. Die bösartige Ungewissheit, wo Adam ist.
„Manchmal frag ich mich, wie lange das alle noch gehen soll.“ Sie klingt nicht, als erwarte sie eine Antwort und so richtig hat Wiktor auch keine. „Wahrscheinlich sind wir bis dahin komplett verrückt geworden. Ich seh ihn jetzt schon jedes Mal vor mir, sobald ich die Augen schließe.“ „Was meinst du?“
„Ach.“ Unwillig drückt er das Gesicht gegen Vincents Körper. „Auf der Fahrt nach Gorzow Wielkopolski hab ich komisches Zeug geträumt. Diese Träume, die sich auch so gruselig echt anfühlen.“
„Warst du deswegen so durch den Wind, als du aufgewacht bist?“
Nur aus Protest seiner platten Nase dreht er den Kopf wieder und legt die Wange auf ihr Herz; starrt über die Bettdecke hinweg in den dunklen Spalt zwischen Zimmertür und Wand. Mit der Erinnerung kehrt auch Beklemmung zurück. „Naja, im Traum war Adam dabei. Er saß hinten und erzählte was davon, dass wir die Route über Kiełpin nehmen sollten. Besonders den Abzweig kurz vor Bolemin hat er betont. Das ist ein kleines Nest an einem riesigen Naturschutzgebiet. Dort irgendwo im Wald gibt es eine Burgruine, die hat er auch so komisch betont. Und er sagte immer wieder, dass die Zeit drängt und es bald zu spät ist und solche Sachen.“
Vincent streichelt seine Schulter. „Wahrscheinlich, weil wir im Unterbewusstsein diesen Zeitdruck ja haben.“
„Schon. Aber ich weiß trotzdem nicht, warum ich an die Ruine gedacht habe. Ich wusste als Kind viel darüber aber das war seit dem nie wieder wichtig.“
Vincent nickt schweigend; sein Kinn streicht über Wiktors Haar. Ihre Bauchmuskeln zucken, als Wiktors Finger die unbewussten Muster weiterführen. Nach einem Moment löst sie das Schweigen fast nachdenklich: „Kann man da einfach so hingehen?“
Wiktor hält inne: „Eigentlich schon. Im Wald gibt es Wanderwege und wenn man weiß, wo sie ist, sollte die Ruine auch nicht schwer zu finden sein.“
„Wie viel ist denn da noch übrig?“
„Eigentlich nur noch ein paar Mauern. Ich hab vorhin nochmal drüber gelesen und es gab wohl ursprünglich eine Anlage im sechzehnten Jahrhundert aber das wurde nur noch mit Bodenanalysen festgestellt. Verschüttete Tunnel und ein Brunnenschacht, werden vermutet, ungefähr zwei Kilometer nordwestlich von den jüngeren Ruinen. Aber obs davon wirklich nochwas gibt, ist fragwürdig. Die Fassade, die man heute vielleicht noch sieht, wurde im klassizistischen Stil erbaut und stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die steht nicht ganz so tief im Wald.“
Ihre Finger an seiner Schulter spiegeln seine eigene vage Karte, die er auf Vincents Bauch zeichnet.
„Der war mal Landschaftspark und ist über die Jahrhunderte verwildert. Und wie gesagt, wenn man es weiß, findet man ein bisschen was aber wenn man sich nicht auskennt, kann man das alles auch leicht übersehen.“
„Kümmert sich da niemand drum?“
Wiktor stützt sich langsam auf die Arme und zieht die Schultern hoch. „Es ist Privatbesitz. Wahrscheinlich lohnt sich das wirtschaftlich nicht.“
„Schade. Klingt, als könnte es ein schönes Ausflugsziel sein.“ Ihr Lächeln ist traurig und Wiktor streicht mit der Nasenspitze über ihre Hand, die sie wie vergessen in einer lockeren Faust in die Luft stellt. Die Handfläche rauf, bis Vincents Finger über seine Lippen streichen. Er haucht einen Kuss darauf; kann einfach nicht anders. Dann webt er die Finger in ihre und genießt wie das Lächeln wärmer wird.
„Ich frage mich nur, warum ich davon träume.“ Das Kopfkissen knautscht, als Vincent die Schultern zuckt. „Vielleicht wars die Hoffnung auf eine Lösung. Vielleicht hast du dir unterbewusst gewünscht, zu wissen, wo Adam ist“, er dreht sich auf die Seite und zieht ihre verwobenen Hände gegen seine Stirn, als ob er sich dahinter verstecken wolle, „und diese Ruine war so ein Ort.“
„Schön wärs. Dann könnten wir wenigstens irgendwas tun.“ „Wir können doch bestimmt rausfinden, wem die Ruine gehört, oder?“, fragt Vincent ins Kopfkissen. „Sicher, aber was bringt uns das?“ Sie seufzt. „Das illusorische Gefühl, nicht dem Willen irgendwelcher Verbrecherkollektive ausgesetzt zu sein…“
Ein tiefes Gähnen unterbricht Wiktors leises Schnauben.
Die Nacht ist schon lange nicht mehr jung und sein Körper sehnt sich nach Schlaf. Vincent linst hinter ihren Händen hervor und wagt sich aus seinem Versteck; zart spürt Wiktor seine Nasenspitze über seine Wange streichen. Er atmet tief ein, ist froh, dass trotz allem das warme Kribbeln im Bauch immer noch da ist. Dass das zwischen ihnen beiden noch immer so stark ist wie immer. Vielleicht sogar stärker, obwohl es vor ein paar Stunden leicht hätte splittern können. Stirn an Stirn schweigen sie einen Moment. In all dem Schmerz ist da ein bisschen Frieden, solange sie einander haben.
Ein weiterer Gedanke zerbricht das angenehme Gefühl. „Pawlak hat leider Recht, jetzt ist es zu riskant, meine Kontakte zu nutzen. Tanja würde früher oder später davon erfahren und ich will ihr keinen Grund geben, dass sie ihre Drohungen wahr macht.“ Falls das nicht schon passiert ist. Er lehnt die Wange in Vincents Streicheln; flüstert nur noch, denn das Stechen im Herzen raubt ihm die Stimme. „Ich will ihn doch einfach nur wieder in den Arm nehmen…“ Und nicht mehr loslassen.
Vincent schluckt nur. Als er sich wieder auf den Rücken dreht und streckt, blitzt etwas in seinem Blick auf, das Wiktor nicht so recht deuten kann. „Woran denkst du?“ „Vielleicht können wir ihr unter die Nase reiben, dass wir nichts mehr tun…“ Auf seine erhobene Augenbraue spricht er weiter: „Wir sollten uns ne Auszeit nehmen.“
Wiktor brummt unwillig und streicht eine Locke vom schimmernden Helix nach hinten.
Vincent lächelt in die Dunkelheit, als er den Kopf schütteln will: „Naain, hör mir zu.“ Sanft fängt sie seine Finger wieder mit ihren; meidet es, die wunden Knöchel zu berühren. „Erstens würden wir beide Adam das selbe sagen, wenn er so drauf wäre“, Wiktor vergräbt das Gesicht an seinem Hals, „und zweitens zeigen wir uns dann ganz privat in der Öffentlichkeit. Und das ist es doch, was sie will?“ Das tiefe Seufzen ist warm an ihrem Hals, Murmeln kitzelt angenehm auf der Haut: „Ich hasse es, dass du Recht hast…“ Die Muskeln am Hals spannen gegen Wiktors Augenbrauen, als Vincent nickt. „Dann lass uns morgen ausgehen…“
Wiktor hebt den Kopf. „Alleine.“ Es ist keine Frage, aber irgendwie auch schon.
Die Traurigkeit in den schönen Augen sticht in seiner Brust. „Adam hat sich das schon mal gewünscht…“ „Ja, aber doch nich so…“ Schwer senkt er die Stirn auf Vincents. „Ich weiß…“ Ihr ersticktes Flüstern verklingt in fernem Donnergrollen.
Vincent betrachtet die Menschen auf der Straße hinter Wiktor, ohne sie wirklich zu sehen. Das Gässchen, in dem das Eckcafé seine Gartenmöbel platziert hat, ist ruhig, gibt aber den Blick auf die wuselige Fußgängerzone frei. Vincent kann andere beobachten, ohne sich selbst jedem Blick preisgeben zu müssen. Und Blicke bekam sie heute wieder. Die meisten mit einem Lächeln, aber auch einige erfüllt mit Abfälligkeit. Er wusste, dass sie kommen würden und konnte sich dennoch nicht gegen das Kleid entscheiden. Eigentlich hat er selbst Adam noch auf den Sommer vertrösten müssen, als er es ihm geschenkt hat, aber heute ist es auch schon angenehm warm draußen. Es ist nicht das Gleiche, wie seine Klamotten anzuziehen, aber es kommt dem nahe. Irgendwie das Gefühl, ihn bei sich zu haben. Wenigstens ein bisschen. Damit der kleine Funken an Freude über die Zeit mit Wiktor zumindest eine kleine Chance hat.
„Du siehst umwerfend aus.“ Als ihre Blicke sich über den Spiegel trafen, war da dieser Moment in dem die Trauer sie überwältigen wollte. In dem es all ihre Kraft brauchte, das Zögern zu brechen. Damit die Erschöpfung sie nicht brechen konnte. „Du auch“, flüsterte Vincent, während Wiktor sanft die Arme um ihn schloss und das Gesicht an seiner Schulter verbarg. Das dezent gemusterte Seidenhemd verschmolz ein bisschen mit der Farbe des Kleides. Den Kopf an Wiktors gelehnt, atmete Vincent tief durch und als sie sich sanft in seinen Armen umdrehte, fand sie in seinem Lächeln ihren eigenen Kampfgeist wieder. Behutsam richtete sie seinen Kragen. „Wir sollten versuchen, das zu genießen.“ „Ich weiß.“
Eine unmögliche Aufgabe. Ja, es ist schön. Der Tag ist schön, das Wetter ist angenehm und das Essen war gut. Und doch bleibt die Gewissheit, dass all das erst wirklich schön wäre, wenn Adam sich aktiv für sie freuen könnte.
Objektiv betrachtet, gibt es im Moment nichts, was sie für ihn tun können. Und doch nagen Schuld und Unruhe. Und die Ahnung – vielleicht Hoffnung? – dass sie beobachtet werden. Sollte es Tanja wirklich darum gehen, dass sie nicht mehr ermitteln, tun sie vielleicht doch gerade damit etwas für Adam. Es ist ihnen den ganzen Tag sogar gelungen, nicht über die Ermittlungen zu sprechen. Über Adam, ja. Es ist der verzweifelte Versuch, mit dieser Leere umzugehen; ihr wenigstens so viel Gewicht zu nehmen, dass sie nicht so lähmend erdrückt. Ihre Erinnerungen sind schön; wenn sie darüber sprechen, könnte es fast sein, als sei Adam friedlich zuhause und würde auf sie warten. Beinahe normal. Nur Pläne für die Zukunft wagen sie nicht. Da ist dieser sehnliche Wunsch, dass er zurück kommt, an dem jeder Gedanke schließlich endet. Hinter ihm lauert die Angst, was wäre, wenn er dieser Wunsch unerfüllbar bleibt. Und danach gibt es nur Leere. Die sich schwer in jedem Blick, in jedem Lächeln festhält; ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt.
Wiktor streicht mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Ich gehe zahlen?“ Vincent reißt sich von den Schürfwunden am Köchel los und nickt; es ist genug für heute. Wiktor steht auf, seine Schritte klingen die Stufen hinauf und verschwinden im Café. Als Vincent abwesend die leeren Gläser in der Tischmitte zusammenschiebt, fällt ein Schatten auf ihre Hände.
Jemand nimmt Wiktors Platz ein und unterm Tisch flüstert das Klicken einer Waffe.
Die schwere Dunkelheit seiner Gedanken verblasst im Aufflackern seiner Instinkte. Eishelle Augen mustern ihn aus einem fein geschnittenen Gesicht. Ein weinroter Hosenanzug sitzt locker aber maßgenau um den schmalen Körper und ihr gleichfarbiges Lächeln könnte freundlich sein, wenn sie den zynischen Blick zügeln würde. Es ist kein Versehen und auch kein Zufall, dass die junge Frau sich zu ihm gesetzt hat. „Kann ich Ihnen helfen?“ Sie lächelt süffisant. „Liebe Grüße von Tanja. Du bist eingeladen, Schätzchen.“ Sie deutet mit dem Kopf Richtung Fußgängerzone.
In einer schmalen Liefereinfahrt neben einer Bar gegenüber steht ein dunkler Geländewagen mit getönten Scheiben. Daneben lehnt ein Schrank von Kerl und raucht; ein zweiter beobachtet sie. Vincent wird sich des Drucks vom Holster um seinen Oberschenkel wieder bewusst. Ein bisschen Sicherheit.
„Wozu eingeladen?“ Die Fremde lehnt sich verschwörerisch über den Tisch. „Überraschung.“
Der kaum zu bändigende Drang, durch den Schlitz im Rock doch seine Waffe zu ziehen und sie zum Klartext zu zwingen. Wann hören diese beschissenen Spielchen endlich auf? „Soll das noch eine Entführung werden?“
Sie zuckt die Schultern. „Naja, der Plan war schon eigentlich, dass du freiwillig mitkommst. Aber, wenn du keinen Bock hast, is mir das persönlich ziemlich egal.“ Die Waffe klickt wieder, verschwindet hinter ihrem Rücken am Gürtel unter dem Blazer. „Tanja im Grunde auch, aber wenn ich das richtig verstehe, könnts da jemanden geben, der dich nochmal sehen will. Und ich geh mal davon aus, dass du ihn nicht enttäuschen willst, hm?“ Vincent zögert. Hass brodelt durch seinen ganzen Körper. Woher dieser Sinneswandel, wenn das kein Trick sein soll? Oder ist es eine verquere Form der Anerkennung ihres Gehorsams?
Die Fremde schürzt die Lippen, schlägt leise die Hände zusammen und steht auf. „Alles klar, ich hab nich den ganzen Tag Zeit–“ Vincent packt ihr Handgelenk mitten in der Bewegung. Für den Bruchteil einer Sekunde starren sie einander an, dann werden ihre Augen schmal, sie dreht die Hand aus seinen Fingern und zieht ihn auf die Beine. Als seien sie gute Freunde, hackt sie sich bei ihm unter und die Kraft hinter ihrem Griff lässt ihm keine andere Wahl, als sich durch die kleine Terrasse und die Fußgängerzone bis zum Fahrzeug führen zu lassen. Vincent nimmt weite Schritte; hofft, dass der Rock weit genug weht, um vor den scharfen Blicken zu schützen. „Sie wissen also, dass mein Kollege lebt?“ Einer der beiden Männer öffnet ihnen die Hintertür. „Schätzchen, ganz ehrlich? Mir is das Latte.“
Die kalte Ruhe in seinem Inneren bekommt tiefe Risse. Wut und Angst graben sich in sein Herz. Bitteres Stechen, als er über den Türflügel hinweg auf der anderen Straßenseite Wiktors entsetzten Blick trifft. Die Panik auf dem geliebten Gesicht wird ihm entrissen, als Vincent unsanft auf die Sitzbank gedrückt wird. Fuck!
Mit einem leichten Klicken schließt die Lade der Kasse wieder. Der kleine Drucker rattert. „Magst du deinen Beleg mitnehmen?“ „Nein, danke.“ „Okay. Schönen Tag euch noch.“ „Ebenso.“ Lächeln.
Als Wiktor sich umdreht und das Portemonnaie wieder einsteckt, wird er stutzig. Vincents Rücken ist nicht mehr durch das große Fenster zur Terrasse zu sehen. Ein mulmiges Gefühl brennt in seinem Bauch und er zwingt sich dazu, nicht durch den Gastraum zu rennen. Zwingt sich zur Vernunft, denn warum sollte sie nicht schon aufgestanden sein? Sie wollen ja gehen. Er ist nur angespannt, wegen… allem. Vincent wird einfach auf ihn warten, sonst nichts! Es ist alles gut. Es ist…
Vincent ist weg.
Die Terrasse ist leer.
In der Gasse keine Spur vom Kleid.
Wiktor stolpert durch die Tischgruppen in die breite Einkaufsstraße. Sein Blick fliegt über die Menschenmenge. Sucht nach dem vertrauten Gesicht, nach den Locken. Irgendwas. Sein Herz donnert gegen seine Rippen, im Hals, in der Stirn.
Drüben, neben der Bar! Ein dunkler Geländewagen, eine kleine Traube Menschen, Sonnenlicht spiegelt in der offenen Tür.
Der vertraute blaugrüne Blick. Sticht in Wiktors Herz. Angst. Entschlossenheit. Bedauern?
Die Locken verschwinden unter dem dunklen Dach. Eine Frau im roten Blazer steigt nach Vincent ein und die Tür schlägt zu. Zwei Männer ziehen die vorderen Türen hinter sich zu und der Wagen verschwindet rückwärts in dem Torbogen.
Der Schrei bleibt ihm im Hals stecken.
Wiktor sprengt seine Schockstarre und rennt über das Kopfsteinpflaster. Als er in die Dunkelheit des Torbogens eintaucht, biegt der Wagen auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes rückwärts auf die Straße ab und beschleunigt mit quietschenden Reifen. Mehr Motoren knurren auf, zwei identische Fahrzeuge hetzen an der Durchfahrt vorbei und als er auf die Straße stolpert, werden die Rücklichter immer kleiner, bis sie hinter einer Kreuzung verschwinden.
Abgase stechen mit jedem Keuchen in seine Lunge. Stille dröhnt in seinem Kopf. Nein! NEIN!
Er spürt, wie Schock ihm greift, die Klauen ihn einen Augenblick festhalten. Das dürfen die nicht! Sie dürfen ihm nicht beide wegnehmen. Die zwei Menschen, mit denen endlich alles richtig ist. Alles möglich ist. Er kann sie doch jetzt nicht beide verlieren! Das kann doch alles nicht wahr sein.
Wut bricht sich ihren Weg in einem langen Schrei. Klare, scharfe Wut. Jetzt reicht es! Jetzt sind ihm die Regeln scheißegal! Er hat nichts mehr zu verlieren. Glasklare Ruhe leitet seine Schritte durch den Innenhof zurück übers Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone, während er nach seinem Handy greift. „Wiktor?! Is was pas–“ „Wolle, wir brauchen eine Ortung für Vincents Handy. Jetzt sofort!“
Der Asphalt vibriert unter seinen Schuhen, endlich nähert sich ein Motorrad auf der einsamen Landstraße. Adrenalin pulsiert durch Wiktors Körper. Jeder Herzschlag eine weitere Sekunde, die verstreicht. Jede Sekunde wertvolle, bedrohte Lebenszeit, die verrinnt. Eine Stunde ist es her, dass Vincent in dieses verdammte Auto gestiegen ist. Eine Stunde, die erfüllt ist vom ungeduldigen Brennen der Wut.
Wiktor zwingt sich zu ruhigen Schritten, als er sich der Maschine nähert, während sein Gegenüber noch in aller Ruhe absteigt. Ein scharf gezeichnetes Gesicht sieht ihn an, amüsiert und überheblich. Ironisch freundlich öffnet der bullige Mann die Arme. „Dzien Dobry Kommisarzy–“ Sein Nacken kribbelt, denn es ist nicht normal für diesen Menschen, alleine unterwegs zu sein.
„Ich hab keine Zeit für deine Spielchen, Szczurów.“ Rattenkönigs künstliches Lächeln erlischt und er mustert Wiktor aus schmalen, dunklen Augen. Die Wut brennt in seinem Inneren, rüstet ihn. Er bleibt ruhig. „Ihr wisst, was hier überall abgeht, ihr beobachtet immer alles. Also, wo ist das Schlangennest? Und erspar mir dein Gelaber.“ Rattenkönig schnalzt missbilligend mit der Zunge und hebt die Schultern. „Na, wenn du deine Manieren vergisst, kann dir das ja nicht so wichtig sein. Überleg dir erstmal, wie du mit mir redest und dann kannst dus morgen nochmal versuchen.“ Mit grinsendem Kopfschütteln wendet er sich ab und geht zu seinem Motorrad zurück.
Wiktor packt seine Schulter, zieht ihm den Arm auf den Rücken. „Ich rede mit dir, wies mir passt.“
Als er Widerstand spürt, tritt er dem Hünen in die Kniekehlen. Er verliert das Gleichgewicht und geht vor Wiktor in die Knie. Große, grobe Hände fischen vergeblich nach seinen Handgelenken. Wiktor beugt sich zu ihm, seine Stimme mehr ein Knurren als alles andere: „Und wir wissen beide, dass ich dein Imperium niederbrennen werde, wenn du mich anlügst. Wo wollen die hin?“
Schweigen.
Wiktor greift in kurzes, helles Haar, spürt seine Nägel über warme Haut kratzen und hört ein widerwilliges Jaulen: „Is ja gut, is gut!“ „Also?“ Die gekeuchte Antwort ist eine Adresse nahe Gorzow Wielkopolski. Und dann zögert Rattenkönig, als sei da noch mehr. Für diesen einen Satz ist er nicht alleine hier her gekommen. „Was noch?“ Er presst die dünnen Lippen aufeinander. Bis sie sich zu einem schmerzhaften Zähnezeigen verziehen, weil Wiktor seine Wange in den groben Untergrund drückt. „Dort hat sie ihre Opfer aber nicht.“ „Sondern?“ Er spuckt Splitt vor die Reifen seiner Maschine. „Ich hab nur Gerüchte gehört aber… Ruiny Pałacu w Kiełpinie.“ Wie ein Schlag zuckt der Name durch Wiktors kalte, wilde Wut, die ihren Fokus verschiebt. Er lässt die Ratte los und nur seine Instinkte hindern ihn daran, ihn aus den Augen zu lassen. Denn die Wut will weiter, sofort.
Rattenkönig rappelt sich auf und steigt eilig auf die Maschine zurück. Mit beiden Händen packt Wiktor den Lenker und bohrt den Blick in die dunklen Augen: „Ich reiß dir den Arsch auf.“ Gefasst und todernst sieht er ihn an: „Ich schwörs.“ Mit einem knappen Nicken entlässt Wiktors Wut den Kerl. „Verpiss dich!“
Der Motor verklingt in der Ferne, als sein Handy erneut ungeduldig in der Tasche vibriert. Als Rattenkönig verschwunden ist und sich immer noch nur unschuldige Stille um ihn legt, reagiert Wiktor endlich auf den zehnten Anruf. „Mensch, wo treibst du dich rum? Die Ortung hat geklappt–“ „Ich weiß, wo er ist.“ Wolle atmet tief durch, seine Stimme klingt klarer, wacher und er meint jedes Wort: „Hör zu: Das SEK is schon unterwegs. Die sind nich weit weg“, Erschöpfung fließt in diese Ruhe, „mach keinen Scheiß Wiktor, bitte.“ Durch Wolles Telefon dringt die Geschäftigkeit des Raumes um ihn herum und plötzlich drängt sich Karols energischer Befehl in den Vordergrund: „Król! Sie kommen sofort hier her zurück!“ Panik. Wiktor schweigt. „Wir könn euch nich alle drei verlieren.“ Wolles Murmeln hilft der Wut nicht. „KRÓL!“ Wiktor legt auf und startet seine Maschine.
Schatten flimmern vor ihren geschlossenen Augen. An seiner Stirn eine kühle Scheibe. Ihr Körper bewegt sich, während er still sitzt; wankt manchmal. Leises Rumoren eines Fahrzeugs. Ihr Nacken fühlt sich steif an links. Neblig sind ihre Gedanken. Vincent blinzelt langsam. Und kann gerade so verhindern, dass ein erneutes kräftiges Ruckeln seine Stirn gegen die Scheibe schlägt. Dahinter ein Flimmern aus Braun und Grün; Sonnenstrahlen verteilen sich in Gold- und Silberglanz unter einem Gewölbe aus zersprenkelten Schatten. Sein Geist braucht einen Augenblick, um sich zu erinnern. Wo er ist. Und wie sie hier her kam. Und was auf dem Spiel steht.
„Du bist sogar pünktlich.“
Die Feststellung ist nüchtern, als habe die Tatsache im Grunde keine Aussagekraft. Vincent setzt sich auf, dehnt langsam den Hals; will nicht zeigen, dass die Stimme sein Herz sofort wieder in wutglühende Panik versetzt. Hinter den vorderen Sitzen zieht sich ein massives Gitter durch die Kabine des Wagens. Ähnlich, wie in so manchem Einsatzfahrzeug. Stille sickert durch die walnussgroßen Waben, als hätten die beiden Männer vorn nicht mal gemerkt, dass sich auf der Rückbank etwas regt.
Unweigerlich wandert Vincents Blick zu seiner… Begleitung. Sie tippt auf dem kleinen Display einer Smartwatch herum. Aus der Tasche des roten Blazers ragt ein Zipfel des charakteristisch übelriechenden Lappens, der Vincent vorhin überwältigt hatte. Das Zittern seiner Hände erinnert sich an den unerwarteten, festen Griff im Nacken und den Druck auf Nase und Mund. Wie das feine Gas in ihren Körper gekrochen war, um sie in dieses widerlich scharfe, weiche Nichts zu treiben. Er legt die Hände fest ineinander und das Zittern verschwindet. Auf der Suche nach Ablenkung wendet er den Blick nach draußen und bewegt leicht die Beine; spürt erleichtert den Druck des Holstergurtes nach wie vor am Oberschenkel. Das Kleid wirft leichte Falten, die die Silhouette seiner Waffe verbergen.
Der Geländewagen pflügt durch weichen Waldboden. Neigt sich einmal gefährlich nahe an die raue Rinde einiger aufgeschichteter Baumstämme. Im Schatten des haushohen Stapels wird es kurz noch kälter und als ein paar Sonnenstrahlen wieder ihre Haut sprenkeln, neigt sich das Fahrzeug langsam in eine Kurve. Zwischen dichten Kiefern wird es dunkler.
Sollte er versuchen, hier raus zu kommen? Wäre das sinnvoll? Es gibt keine Anhaltspunkte, wo genau sie sind. Und wenn Tanja und ihre Schergen nicht komplett lügen, dann – der Wagen bleibt stehen. Anspannung packt Vincent, doch bevor sie etwas sagen kann, springt der Kerl vor ihr aus dem Auto und reißt die Hintertür neben ihm auf. Mit beiden Händen schubst die junge Frau ihn vom Sitz und nur Reflexe bewahren ihn davor, mit dem Gesicht zuerst im Dreck zu landen. „Na dann, halbe Stunde hast du noch.“
„Wofür?“
Mit nichts weiter als einem Zwinkern schlagen die Türen vor seiner Nase zu und unter den Rädern spritzen Erde und Holz auf, als der Wagen eine schnelle Wendung hinlegt. Wankt eilig davon in die Richtung, aus der sie kamen und verschwindet schließlich um die Ecke.
Verwirrung löst die brennende Wut für einen Augenblick ab.
Der Wald ist ruhig um Vincent, als das Motorengeräusch verklingt. Ein Stück totes Holz drückt unangenehm im Handballen. Er wischt es weg. Herzschlag und Keuchen klingen viel zu laut in der Stille; erfüllen für einen Moment seinen Geist, bis er wieder klare Gedanken findet und sein Handy aus der Rocktasche zieht.
Eine Erinnerung blitzt auf. Von Adams Händen, die von hinten über ihre Taille streicheln und sanft zwischen die Stoffschichten gleiten. „Und guck: es hat sogar ordentliche Taschen!“ Von seiner Begeisterung, als hätte es die noch gebraucht, um Vincent von dem Kleid zu überzeugen; als hätte ihr der Anblick im Spiegel nicht ohnehin schon sehr gefallen. Von seinem glücklichen Lächeln über ihrer Schulter und dem Genuss, mit dem er die Augen schloss, als Vincent ihm einen Kuss auf die Schläfe hauchte.
Bittersüßer Schmerz, der ihn in den schweigsamen Wald zurück holt. Das Display zittert leicht. Bis ihre Finger sich beruhigen. Akku 76 Prozent. Das ist gut. Allerdings kein Netz. Nichtmal Notfallnummern. Alles völlig tot, hier mitten im Nirgendwo.
Eine Halbe Stunde… ab jetzt…
Es ist immer noch – oder schon wieder – ein widerliches Spiel. Und Teil des Spiels scheint nun zu sein, dass sie Adam finden kann. Soll.
Oder, das was von ihm übrig ist. Vielleicht. Vincent schluckt schwer.
Adam muss in diesem Wald sein. Irgendwo.
Tanja will, dass sie sich an das Spiel halten. Also wird sein Weg wahrscheinlich nicht in die selbe Richtung gehen, aus der sie kamen. Sein Ziel muss irgendwo hinter ihm liegen. Im Halbdunkel der Kiefern. Sie betrachtet den Abzweig vor sich noch einmal ganz genau, um das Abbild in ihr Gedächtnis zu pflanzen. Früher oder später wird er diesen Weg und vor allem den Baumstapel wiederfinden müssen. Und kann dann nur hoffen, dass ihn die Richtung irgendwann aus dem Wald oder zumindest in ein Gebiet führen wird, in dem sein Handy ihm wieder etwas nützt. Und wenn es soweit ist, hoffentlich nicht allein.
Hinter ihm könnten Stimmen durch die Stille dringen. Kurze, scharf gebellte Anweisungen. Das Rumoren einer Gruppe. Weisen ihm sein Ziel. Aus Instinkt gleiten seine Finger nun in den Schlitz des Kleides und befreien die Waffe aus dem Holster. Drohung und Schutzschild in einem, hält er sie vor sich und wagt sich in Richtung der Stimmen.
Noch Sechsundzwanzig Minuten und zweiundvierzig Sekunden.
Jede Bewegung ist ein Kampf; immer wieder ein Grund zum Verzweifeln. Der unebene Boden ist weich und nachgiebig an den falschen Stellen und bleibt sturer Widerstand an anderen. Die belebende Waldluft verspottet seine beißenden Lungen; überzeugt sein Herz aber davon, dass Aufgeben keine Option ist. Streichelt mildernd über die Wunden auf der Brust.
Adam presst die Hand gegen seinen Körper, um das kaputte Daumengelenk an seinem Platz zu halten. Die feinen Kettenglieder hat er mit der anderen Hand um seine bebenden, vor Schmerz halb tauben Finger gewoben. Lässt die Fingerkuppen eng um Vincents Ring gelegt, weil diese Position am wenigsten schmerzt. Das linke Knie will immer wieder unter ihm nachgeben, wenn er sich nicht gegen einen Baum oder Fels stützt. Das Gefühl, dass Muskeln, die eigentlich in die Beckenregion gehören, links unter der Hüfte irgendwo innen am Oberschenkel reiben und die schwere Schwellung an der Stelle, versucht er zu verdrängen. Immerhin sind die Schmerzen dort nicht die schlimmsten.
Das sanfte Zwielicht ist gnädig mit seinen Augen, die seit Tagen nur Dunkelheit, manchmal vom Fackelschein unterbrochen, gewöhnt waren. Alle paar Minuten kommen Zweifel auf, ob das hier nicht doch ein Fiebertraum im Sterben ist. Alles fühlt sich so unwirklich an: Der Nagel, mit dem er eines der Kettenglieder aufbiegen konnte. Dass die massiven Eisenmanschetten nach dem kleinen Bruch dann doch breit genug sind, um die Hand durch zu ziehen. Der offene Käfig und vor allem der verdammte Tunnel, der auch noch tatsächlich ins Freie führt. Dass er es den zerfallenen Brunnenschacht irgendwie rauf geschafft hat und auf der verwaisten Lichtung rauskam. Absurd. Eigentlich unmöglich, dass er doch wieder aufgewacht sein soll. Woher soll sein Körper die Kraft genommen haben?
Keuchend lehnt Adam gegen einen Baum, erlaubt sich eine halbe Minute Pause. Sein Blick wandert in die Baumkronen, auf die Sprenkel blauen Himmels zwischen den Blättern.
Wenn es da einen Gott gibt, will er nun, dass Adam es vielleicht doch schafft? Zumindest noch so weit, dass er vor Wiktor für sein Versagen gradestehen kann. Ein letztes Mal. Denn immer wieder dreht sich alles. Sein Blickfeld, sein Kopf, sein Magen. Vor Schmerz, vor Durst. Vor Angst.
Oder ist dieser Gott so tief sadistisch veranlagt, dass er Adam nur Hoffnung geben will, um sie dann wieder zu zerstören? Ist das seine persönliche Hölle? Immer wieder der Anschein einer echten Chance, die dann doch zerschlagen wird.
Wobei, das würde auch zu Tanja passen. Sie lässt ihn noch ein bisschen durch den Wald stolpern, um ihn… zu jagen. Damit er am Ende immer verliert. Und sie entscheidet, wann das ist. Oder es war doch einfach ein Versehen, dass er fliehen konnte. Weil das Schicksal Mitleid hat. Mit ihm sicher nicht aber mit Wiktor vielleicht. Oder... mit Vince… Wenn man mit ihr noch Mitleid haben kann.
Trauer flutet den Gedanken und frisst sich in jedes körperliche Gefühl. Tränen tropfen heiß auf seine Finger und sickern zwischen die feinen Goldglieder. Die zarte, naive Stimme in seinem Hinterkopf, die Tanja kein Wort glauben will; die abstreitet, dass der verdammte Köter ein Herz zwischen den Zähnen hatte; sie wird immer schwächer. Es war Teil dieses kranken Spiels, nichts weiter! Aber was, wenn… wenn doch nicht?
Seine Hand krampft zusammen wie sein Herz. Das feine Goldband drückt trotzig gegen seine Handfläche. Wirft unbeeindruckt Sonnensprenkel auf schorfige Rinde und junge Triebe.
Hier… wird Adam das alles nie erfahren. Hier stehen zu bleiben, hilft ihm nicht weiter, beantwortet diese brennenden Fragen nicht. Eigentlich müsste er zurück gehen. Durch den Tunnel und einen anderen Weg aus seinem Verlies finden. Herausfinden, wo das überhaupt ist, denn wahrscheinlich ist das der einzige Anhaltspunkt, mit dem irgendjemand Vincent überhaupt wiederfinden könnte. Das ist er ihr und Wiktor eigentlich schuldig. Es ist das Mindeste.
Kalte Übelkeit steigt in ihm auf. Angst erfüllt jede Faser seines Körpers in lebloser Starre. Alles in ihm sträubt sich dagegen, umzukehren. Seine Hände zittern, Schwindel überfällt ihn, wenn er auch nur einen Blick zurück wirft. Obwohl die Lichtung und der Tunnel schon lange nicht mehr zu sehen sind. Zurück? Das… das geht nicht. Er kann nur vorwärts. Er spürt nochmal gezielt nach Vincents Ring in seiner Hand. Es beruhigt ein bisschen. Sein tiefer Atemzug brennt in der Lunge aber das muss jetzt egal sein. Jeder Wald endet irgendwann! Und wenn er hier raus kommt, bevor es dunkel wird, vielleicht weiß er dann wieder, wo er ist. Irgendwann.
Also los. Weiter! Durch den Schmerz, durch das Wirbeln. Und wenn es das Letzte ist, was er tut. Er muss zurück zu Wiktor. Ein letztes Mal noch. Adam weigert sich gegen jeden Gedanken, der auch Wiktors Tod oder Verschwinden beinhaltet. An irgendwas muss er sich ja festhalten dürfen.
Der Drang, zu rennen, lässt sich kaum unterdrücken. Die abmagernde Zeit beißt sich im Nacken fest, ohne zu zeigen, was genau eigentlich geschieht, wenn sie verronnen ist. Kleidet sich nur in eine bösartige, bedrohliche Fratze, die von einer Vielzahl an Katastrophen weiß und sich für keine entscheiden kann.
Reifenspuren winden sich in tiefen Narben durch den dicken Moosteppich und in einem Anflug von Banalität ist Vincent sich selbst dankbar, sich für die niedrigeren Stiefeletten mit den breiten Absätzen entschieden zu haben. Trotz der Vorarbeit dicker Reifen wäre der Untergrund sonst eine Gefahr für seine Knöchel. Immerhin machen sich die stundenlangen Waldwanderungen in der Kindheit jetzt doch bezahlt. Damals waren Wälder friedlich. Egal wie dunkel, wie dicht, wie neblig, da war nie Bedrohung. Das Zwielicht war einladend, freundlich. Ja, manchmal eklig kalt und nass und voller Nadeln und Spinnweben. Aber alles in allem nicht so… bedrohlich.
Heute dröhnt das Schweigen des Waldes in einer Warnung. Als wolle die Umgebung ihn davor bewahren, was sich im Zwielicht verbirgt. Doch diese tiefe Überzeugung, dass Adam hier irgendwo sein muss, treibt jeden Schritt wieder voran. Er muss nicht jeder Windung folgen, sondern schlüpft durch schmale Lücken im Unterholz, denen die Fahrzeuge ausweichen mussten. Immer in der Hoffnung, dass die Zeit ihm nicht davon rennt. Totes Holz gibt unter seinen Sohlen nach, schreit verräterisch laut in die kühle Weite hinein.
Vincent hält inne, streckt alle Sinne in jede Richtung. Drückt den Rücken gegen einen Baum, um diesem widerlichen Gefühl der Schutzlosigkeit wenigstens etwas entgegenzusetzen. Das hallende Knacken hat keine Folgen. Nur ein leichter Wind flüstert in nadelschweren Kronen und streichelt kühl durch die vor Anspannung aufgestellten feinen Härchen im Nacken und auf den Armen. Schmiegt den Rock um seine Beine und trägt ihm Geräuschfetzen zu, bevor er hinter Vincent verschwindet. Metallgegenstände, die aufeinander treffen. Schlagen von Fahrzeugtüren. Rascheln von Planen oder Decken aus groben, regenfesten Materialien. Hunde keifen einander an und werden wieder von bellenden Stimmen unterbrochen, zurechtgewiesen. Es widerstrebt ihr, die Wärme des schützenden Stammes zwischen ihren Schulterblättern zurück zu lassen aber das Rennen der Zeit drückt ihm die Reißzähne immer tiefer in den Nacken. Weiter!
In weiten, schnellen Schritten folgt sie dem Pfad, den ein genauer Blick vorher ergeben hat, von Baum zu Baum. Immer in Deckung entlang der Reifenwunden im Boden, bis das Zwielicht heller und Stimmen, Bellen und Chaos viel zu laut werden.
Die Bäume stehen lichter, bis sich etwa zehn Meter vor Vincent eine Freifläche ausbreitet, die eigentlich nur Wiese sein kann. Direkt am Waldrand horten sich dunkle Fahrzeuge zusammen wie eine Viehherde; dahinter lässt sich noch erahnen, dass die Ansammlung tarngrüner Zeltbauten wahrscheinlich bis vor kurzem noch umfangreicher und nach einem bestimmten System angeordnet war. Das Lager wird abgebaut. Ein paar Gesichter kommen Vincent aus dem Club bekannt vor, andere sehen trotz Unbekanntheit eindeutig zu dieser Gruppe zugehörig aus.
Nach einem kurzen Augenblick der Beobachtung wird klar, dass die Gruppe in Eile ist. Es ist kein strategischer Abbau des Zeltlagers; mehr ein Zusammensammeln bestimmter Ausrüstung. Und mitten drin: Tanja Doroshenko. Sie trägt feste Stiefel und über dem Business-Casual eine robuste Jacke mit Tarnfleckmuster. Am Gürtel zwei Waffenholster und überm Rücken ein Jagdgewehr. Scheinbar wie festgeklebt immer mit der Schulter an ihrem Bein der Dobermann.
Durch eine Lücke zwischen den Fahrzeugen trifft der dunkle Blick des Tieres Vincents für eine Sekunde. Und obwohl der Wind ihr entgegen kommt und die Zweige des Haselstrauchs so eng verwoben sind, dass die Lücke, durch die er beobachtet, nur gerade so für den klaren Blick mit einem Auge reicht, spürt er, wie sein Herz zu rasen beginnt. Als ob das Tier ihn verraten könne. Doch die spitzen Ohren zucken in alle Richtungen und der Hund richtet seine Aufmerksamkeit weiter auf alles, was in seiner Nähe passiert. Letztendlich wieder auf Tanja, denn jetzt ist es wieder ihre Stimme, die sich mit scharfen Kommandos auf Russisch über das chaotische Treiben erhebt.
Vincent atmet lautlos aus. Die Luft zittert auf seinem Handrücken.
Verzweiflung schleicht sich heran. Was hat er sich dabei eigentlich gedacht? Ja, er ist hier… und nun? Wie soll sie denn alleine irgendwas ausrichten? Gegen bestimmt vierzig bewaffnete Personen, die es überhaupt nicht juckt, ob eine Institution wie die Polizei ihnen überhaupt irgendwas zu sagen hätte. Dazu noch die Hunde und die Tatsache, dass es nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt, wo genau Adam in diesem Lager sein soll. Wenn er überhaupt wirklich hier ist.
Das Bild eines leblosen Körpers irgendwo unter einer der grünen Planen drängt sich auf. Vincents Herz krampft sich so sehr zusammen, dass sie nach Luft schnappen muss. Sie blinzelt die Tränen aus den Augenwinkeln und konzentriert sich auf das Geschehen vor sich.
Ein Chor brüllt eine einsilbige Antwort auf Tanjas Redefluss. Vincents Kenntnisse in Sachen Russisch gehen gegen null, doch es muss der Gehorsam eines Kommandos gegenüber gewesen sein, denn in diesem Moment zieht die Gruppe geschlossen nach rechts ab und entfernt sich von Vincent. Kurz vor Betreten des Waldes auf der anderen Seite fächern sie sich auf und verschwinden samt Hunden und Waffen zwischen den Bäumen. Der Lärm vieler schwer bestiefelter Schritte entfernt sich langsam und lässt überm Lager nur Stille zurück.
Und Rauschen in Vincents Ohren.
Zögern. Zweifel, ob das eine Masche ist. Eine Falle. Teil des Spiels.
Vielleicht verstecken sich Menschen in den paar Zelten, die noch stehen. Vielleicht liegt eine Miene in der Wiese. Oder die ganze Truppe wartet jetzt nur noch in ein paar Metern Entfernung, wie er selbst es gerade tut.
Reißzähne, die sich tief in ihren Nacken graben, zwingen sie dann doch zum nächsten vorsichtigen Schritt aus dem Versteck heraus. Herzklopfen, als wolle es ihm vorauseilen und in geduckter Haltung huscht Vincent bis zum Waldrand und in den Schutz der Fahrzeuge. Sie presst die Kiefer aufeinander und lauscht.
Stille.
Also späht er über die Motorhaube des Jeeps und lässt den Blick über die Zelte wandern. Sie braucht ein System. Wo anfangen?
Am anderen Ende der Wiese parken noch mehr Autos, an einem Transporter steht die Schiebetür offen. Und zwischen den Birken dahinter schimmern marode Backsteinmauern im Sonnenlicht, gesprenkelt und getarnt vom Schattenspiel der jungen Baumkronen. Drei Reihen leerer Fensterbögen starren in die Weite. Könnte das nicht… ?
Wie lange würde Chloroform ihn ausschalten?
Wiktor sagte doch, dass diese Ruinen nicht so weit weg seien. Das könnte passen. Auf die Entfernung kann Vincent den Baustil nicht erkennen – mal abgesehen davon, ob er das im Moment überhaupt wirklich deuten könnte – aber es ergäbe alles Sinn. Die Lage, das Gebiet, die Umgebung und die Tatsache, dass über den Besitz und den Zustand so gut wie nichts bekannt ist. Sähe es Tanja Doroshenko nicht ähnlich, diesen Ort hier zu besitzen? Das Geld dürfte sie haben. Das Wenige, was Vincent über die Frau bisher weiß, reicht aus, um sein Bauchgefühl zu überzeugen: Adam ist nicht im Zeltlager. Wenn er hier festgehalten wird, dann in den alten Mauern irgendwo! So ein Spiel macht ja sicher auch keinen Spaß, wenn man der anderen Seite gar keine Chancen gibt.
Wieder von glühender Wut im Bauch getrieben, meidet Vincent die geraden Wege zwischen den Zelten und huscht geduckt in einer Zick Zack Form von einer Stoffwand zur nächsten. Der Wind dreht ein bisschen, also wählt sie eine weite Kurve, bis er ihm die Locken wieder direkt von vorn aus dem Gesicht streicht. Falls hier doch noch Hunde unterwegs sind, hilft das vielleicht ein wenig. Die Biester sind nicht zu unterschätzen. An einem Zelt schräg vor dem offenen Transporter hockt sie sich hinter einen Stromgenerator an der dicken Stoffwand und lauscht wieder.
Schritte nähern sich dem Auto. Wortkarge Sätze; eine holprige Mischung von Russisch und Polnisch, ein paar Fetzen Deutsch. Die kleinen Metallmarken an einem Halsband klimpern rhythmisch. „Und wir drei spieln jetzt hier Putzfrau oder was?“ „Das Zeug muss jetzt alles noch weg. Und wenn wir das machen, müssen wir bei dem andern Scheiß nich dabei sein.“ Etwas Schweres wird in den Transporter gehievt. Eine Kiste oder Fass, Vincent wagt sich nicht, aus der Deckung zu sehen. „Und wie stellt die sich das vor mit der Karre?“ Holz schabt schwerfällig über den Boden des Fahrzeugs. „Bringt ihr jetz einfach ertma alles ran und ich mach das hier.“ Ein Brummen, das gleichermaßen Zustimmung wie Zweifel ist, dann entfernt sich ein Paar Schritte. Eine der Vordertüren wird geöffnet und wieder klimpern die Marken am Halsband. Dumpfes Klopfen auf einer pelzigen Schulter bevor die Tür zuschlägt. „Wolln wa doch ma sehn hier“, murmelnd klettert jemand in den Transporter.
Vincents Herz hämmert gegen seine Rippen, um ihn anzutreiben. Vorsichtig späht er aus seiner Deckung. Aus der Seitentür des Transporters ragt nur noch ein Bein, das auf dem weichen Boden steht, der Rest des Körpers ist im Fahrzeuginneren nach vorn gebeugt und schiebt laut hörbar Gegenstände umher. Der Schlüssel baumelt aus der Hosentasche und durch das Lehnen gegen die Tür wird er immer weiter heraus geschoben. Hinter der leichten Spiegelung der Scheiben ruht die Silhouette eines großen Hundes. Ansonsten ist niemand zu sehen. Vincent nimmt ihre Waffe in die linke Hand und steht langsam auf. Sie prüft den Boden zwischen sich und ihrem Ziel auf verräterische Blätter, atmet noch einmal tief durch und wirft sich in die drei schnellen Schritte.
Seine rechte Schulter trifft gegen einen massigen Körper, der unerwartet schnell nachgibt. „Kurwa!“ Mit dem flinken Griff nach der Schiebetür kann er sich fangen und das aufgeregte Kläffen geht im schallenden Schlag der Tür unter. Die Scheibe hält den handtellergroßen, kratzenden Pfoten zum Glück stand. Der elektrische Schlüssel liegt vor Vincents Schuhen. Sie versichert sich noch, dass der Wagen zuverlässig aufblinkt, dann lässt er eilig das dumpfe Kläffen und Klopfen hinter sich.
Einer erledigt. Hoffentlich war das „wir drei“ keine Untertreibung.
Zwischen den flüsternden Bäumen auf dem kleinen Wall ist der Lärm aus dem Transporter nicht mehr zu hören. Gut. Wegen des Lärms will er auch seine Waffe nicht benutzen, wenn es nicht sein muss. Im Stillen kann sie alle einzeln ausschalten; vielleicht sogar lange genug, um mit Adam wieder zu verschwinden.
Sonnenlicht fällt auf die dachlosen Reste eines einst wohl sehr schmuckvollen Schlosses. Durch die Fensterbögen kann Vincent noch ein paar weitere Wände sehen; teilweise ist sogar zu erkennen, wo der Boden des zweiten Stockwerks anschloss. Jetzt sind es nur noch kahle Wände, die Stein für Stein einfallen und sich gegenseitig mehr oder weniger stabil aufrecht halten. Die Fassade scheint noch trotzige Standkraft vorgaukeln zu wollen, doch die anderen Wände ducken sich fast schon scheu dahinter. Vor ihm klafft ein Torbogen, der zunächst leicht abschüssig in einen Gang mit Kreuzrippengewölbe einlädt. Die Wände hier sehen stabiler aus; an einigen Stellen im Gang liegen die Steine aus den anderen Wänden zwar in scheinbar zufälligen Haufen, aber strategisch so, dass sie die Stabilität erhalten. Nach vielleicht sieben Metern öffnet sich ein identischer Torbogen in bewaldete Leere.
Vincent zögert. Es ist nicht zu erkennen, ob und wenn ja, was oder wer sich rechts und links des Torbogens befindet. Ein Schatten fällt auf den platt getretenen Erdboden am anderen Ende des Ganges. Vincent dreht sich zur Seite und drückt den Rücken gegen die morschen Ziegel. Hinter der Ruine ruft jemand etwas – die zweite Person vom Auto eben. Der Schatten hält inne und antwortet kurz, dann klingen Schritte durch den alten Gang. Die Stimme klang relativ jung, Anfang zwanzig vielleicht. Schweres Atmen, als bewege jemand beinahe zu viel Gewicht.
Vincent bleibt reglos. Wenn die Person sich arglos normal verhält, wird sie beim Verlassen des Ganges geradeaus schauen; hätte nach zwei Schritten Vincent schon im Rücken. Er mahnt sein klopfendes Herz zur Ruhe, atmet tief und lautlos. Gewöhnt sich an den nahenden Rhythmus der Schritte. Noch drei. Noch zwei. Der Rhythmus stolpert. Die Person bleibt vorm Ende des Ganges stehen. Vincent klammert die Finger um seine Waffe. Etwas schabt durch Erde und Gestein, die Person ächzt ein wenig; schiebt etwas über den Boden. Und taucht dann mitten im Torbogen auf. Nur ein Blick nach Rechts und Vincent wäre entdeckt. Doch die Aufmerksamkeit liegt noch immer auf der Last im Gang. Schmal, fast schon schlaksig; nicht ganz so groß wie sie selbst. Mit jungem Gesicht, auf dem sich Ratlosigkeit und Missfallen über eine Ahnung abzeichnen.
Ein kleiner Stein löst sich unter Vincents Schuhen, kullert verräterisch den Wall hinunter, doch da steht sie schon hinter dem Fremden, einen Arm um den schmalen Oberkörper geschlungen. In der anderen Armbeuge spürt sie seinen Kehlkopf und drückt langsam aber stetig zu. Anspannung in dem fremden Körper; Widerstand gegen ihren schwindet nach ein paar Sekunden. Ein panischer Herzschlag unter ihrem Ellenbogen. Wird ruhiger; zusammen mit den aufgeregten Atemzügen. Dann sinkt der Körper schwer gegen ihren, der Kopf sackt auf ihre Schulter. Behutsam löst er den Arm vom Hals des jungen Mannes, packt ihn unter den Armen und zieht ihn zum Fuß des Walls auf die Wiese neben dem Trampelpfad. Im Gang steigt sie über eine beladene Sackkarre, die mit den Griffen Richtung Ausgang liegt und überlegt kurz, ob er sie beseitigen soll. Was, wenn Adam nicht gut zu Fuß ist, wenn sie dann zurück wollen? Wobei, drumherum ist nur noch Wald, sie haben viele Möglichkeiten abgesehen von diesem Gang. Irrelevant also.
Mit jedem nun wieder vorsichtigen Schritt wächst das Gefühl, zu spüren, wie er Adam näher kommt. Was völlig unmöglich ist und dennoch hat ihr angespannter Geist nicht mehr die Kapazität, solche unterbewussten Wunschträume zu unterbinden. Eben so wenig, wie er die Angst unterdrücken kann. Sie hält sich zurück, wenn er sich konzentrieren muss aber sie verschwindet nie; malt sich alle möglichen Zustände aus, in denen er Adam… auffinden könnte. Nein! Nein, er wird Adam antreffen! Doroshenko würde doch nicht diesen ganzen Aufwand um ein Spiel betreiben, wenn er… wenn er dann nur noch… Adams… Leiche finden würde, oder?
Wiktor wüsste die Antwort darauf sicher. Und er wüsste sogar, welche Vincent jetzt hören will. Auf einmal überwältigt von dem Kloß im Hals, wanken ihre Schritte, muss er sich einen Moment an der groben Mauer abstützen. Rau und kühl sind die Steine unter seinen Fingern. Kühl wie der Schleier, den er um seinen Geist legen muss. Sie kann ihn noch nicht wieder abnehmen. Nicht jetzt. Da ist niemand außer ihr. Er muss das jetzt und hier allein schaffen. Ein bitteres Lächeln zieht seine Mundwinkel nach oben. Das ist doch nicht das erste Mal im Leben. Das kennt sie doch. Und sie kann das ja auch. Das weiß sie doch. Er atmet sich zurück in einen sicheren Stand, lehnt den Kopf an kalte Steine und schluckt die Tränen herunter. Ein paar Schritte noch, dann hockt er sich hin und schmiegt sich an die Wand des Ganges, späht um die Ecke.
Links liegen noch ein paar Haufen Geröll wie eine Herde schlafender Tiere zu Füßen des Waldes, der sich in Form von großen Büschen und jungen Bäumen bis auf etwa fünf Meter an die Ruine heranpirscht. Rechts hält sich eine einzelne Mauer noch kläglich aufrecht zwischen der Fassade und einem eckigen Turm, der im Vergleich noch sehr stabil aussieht. Ein paar der jüngeren Bäume überragt er sogar mit einer abgebrochenen Zinnenkrone. Efeu verhüllt die Farbe des Gesteins und an ein paar Ecken und Kanten haben viele Jahrzehnte von Stürmen und Wintern genagt. Die offene Tür aus eisenbeschlagenem Holz an seinem Fuß sieht dagegen unpassend neu aus. Als habe es in diesem Jahrzehnt schonmal die Motivation zur Restauration gegeben, die dann aber wohl vollständig für diese eine Tür draufgegangen war. Sogar Fackeln hängen zu beiden Seiten der Tür. Vor diesem Eingang, im Windschatten der Mauer, stehen ein paar Campingstühle. Teilweise vereinzelt, manche gruppiert um die zwei Hälften eines Fasses, dessen Böden zu Tischen umfunktioniert wurden. Sonnenlicht fällt darauf, als könne das ein gemütlicher Ort sein. An der Wand stehen ein paar Kisten, ähnlich der einen auf der Sackkarre und an einem zwischen den Steinen eingelassenen Ring hängt eine massive Kette.
Ein Windhauch huscht durch den Gang, über Vincents Rücken und der große, pelzige Haufen im Sonnenlicht bewegt sich ruckartig. Witternd richtet der Hund die Ohren in Vincents Richtung, bleibt aber wider Erwarten ruhig. Die Kette klirrt laut, als er sich mit flatternden Ohren schüttelt. Aus der Tür im Turm tritt ein Hühne von Mensch mit einem Gewehr und einem Werkzeugkasten in der Hand. Er brummt dem Hund etwas zu, dann stellt er den Kasten ab und lehnt die Waffe nahe der Tür gegen die Mauer, bevor er wieder im Turm verschwindet.
Wenn Vincent sich beeilt, könnte er ihn genau so außer Gefecht setzen, wie den anderen eben. Wenn er den Hund umgehen kann. Und dieser so ruhig bleibt wie bisher. Selbst, wenn er sich im Unterholz verstecken kann, wird zumindest das Tier ihn bemerken. Allein schon durch den Wind aber auch, weil zwischen seinem aktuellen Versteck und den nächsten Büschen zu viel Freifläche ist. Aber im Gegensatz zu seinen bisherigen Artgenossen kann dieser Hund ihm nicht hinterher rennen. Zumindest nicht sofort. Und im schlimmsten Notfall… er greift mit beiden Händen um seine Waffe. Und rennt los.
Zu einem Dornenstrauch etwa auf halbem Wege. Der Hund springt auf und galoppiert unbeholfen in ihre Richtung, bis ein kräftiger Ruck der Kette an seinem Halsband ihn zu Fall bringt. Winselnd und schwanzwedelnd bleibt der Koloss liegen, fixiert Vincents neues Versteck, bellt aber nicht. Wenn sie Glück hat, hält der Hühne das für eine Reaktion auf Wild oder Vögel. Falls er es überhaupt bemerkt, denn im Turm regt sich nichts. Ein letzter tiefer Atemzug, dann huscht sie aus der Deckung des Strauchs bis zur Ecke des Turms, genau neben der Tür. Der Hund reagiert wieder, hört jedoch auf zu wedeln, als schwere Schritte durch die Tür klingen. Das Tier geht sogar ein paar Schritte zurück. Der Hühne brummt nur diesmal genervter, da schlingt Vincent ihm den Arm um den Hals.
Mit wesentlich mehr Kraft stemmt er sich gegen sie, zerrt mit einer Hand an ihrem Arm, dreht sich wie ein Fisch im Netz und es braucht all ihre Kraft, ihm nicht nachzugeben. Ihr Rücken trifft hart auf grobe Mauer, ihre Linke Hand verfängt sich zwischen rauen Steinen und dem massigen Körper und Schmerz entbrennt auf ihrem Jochbein, als er den Hinterkopf dagegen schlägt. Vincents Griff um seinen Hals lockert sich, die Waffe gleitet aus ihren Fingern. In letzter Sekunde begreift er, dass eine verdammt große Faust auf sein Gesicht zielt und duckt sich zur Seite weg, stolpert dabei durch die offene Tür. Das wutentbrannte Gesicht folgt ihm.
Jetzt bellt der Hund und zerrt an seiner Kette wie ein Irrer.
Ihr Puls schmerzt unterm Auge, die Leere des Ganges hinter ihr ist ihr unbekannt und der Hühne baut sich vor ihm auf; steht zwischen ihr und ihrer Waffe auf dem Boden neben der Tür; dem Rückweg. Und der Zeit, die ihr noch bleibt um… Adam zu finden. Die ersten Schläge zielen auf ihren Kopf. Einen kann sie blocken, weicht dem anderen aus und versucht, zurück zur Waffe zu gelangen. Als sie sich an ihm vorbei drängt, gelingt ihr ein Treffer in die Nieren. Er packt ihre Schulter und wirft sie wieder gegen die Wand, packt mit beiden Händen ihren Hals und drückt zu.
Neben der Kälte im Geist entflammt nun auch all die Wut, die er seit Tagen spürt. Auf Tanja und ihre bescheuerte Rache; darauf, dass sie ihm dieses Gefühl von Machtlosigkeit gibt. Darauf, was sie Adam angetan hat, obwohl er das noch nicht mal genau weiß. Allein dafür, dass sie Adam und Wiktor auseinander gerissen hat. Diese blendende Wut, die er immer im Zaum halten musste, damit nichts schlimmeres passiert. Die blassen Augen, die ihn anstarren, sprechen von Abscheu und dem Willen, ihn zu töten. Auch das ist nicht neu. Und die Wut wird es nicht zulassen. Er hört auf, mit den Fingern an der Pranke zu zerren, sondern schließt die Augen und zwingt seinen Körper zu einer Sekunde an Ruhe. Spürt, wie der Griff sich lockert. In diesem Augenblick der Unachtsamkeit drückt sie den Rücken gegen die Wand, zieht die Beine an und zielt so hart es geht mit dem Stiefelabsatz zwischen seine Beine. Gleichzeitig schlägt sie die Faust kurz über den Schlüsselbeinen in den breiten Hals. Er stolpert zurück, Vincent dreht sich entlang der Mauer, schnappt sich seine Waffe und zielt.
Der erstickte Schmerzenslaut hat sich verändert. Ihr Gegner lehnt starr an der anderen Wand. Und röchelt. Zwischen den hellen Tarnflecken seines Oberteils breitet sich ein dunkelroter Fleck aus. Er spuckt Blut, kann die Arme kaum bewegen. Und verdreht die Augen nach hinten.
Es ist schwer zu begreifen. Aus seiner Brust ragt eine schmiedeeiserne Spitze nach oben, glänzt jetzt nass. Und als seine Beine schließlich nachgeben, hält nur sie den schweren, reglosen Körper aufrecht.
Vincents Magen krampft sich zusammen, er muss sich abwenden. In trockenem Würgen bäumt sich sein ganzer Körper auf, als sie durch die Tür stolpert. Der Hund sieht ihn still aber aufgeregt an. Sie hält sich mit dem Blick an dem Tier fest, ohne ihn richtig wahrzunehmen und atmet die Übelkeit fort. Sieht sich schließlich langsam wieder um.
In dem Gang hängen einige Fackeln an den Wänden. Und große, eiserne Haken. Sie muss so viel Kraft gehabt haben, dass sie ihn in dem schmalen Raum einfach… rein geschubst hat. Die Wut ist auf einmal nicht mehr zu finden. Seine Hände zittern. Das… das war keine Absicht. Auch, wenn der andere ihn offensichtlich liebend gern umgebracht hätte, war das nicht, was sie erreichen wollte. Fuck!
Sie kann ihn nicht ansehen. Für einen Augenblick ist vergessen, was sie hier eigentlich wollte. Ziellos wandert sein Blick über von Fackeln beleuchtetes Gestein. Bis zu einem Torbogen in der Seitenwand, der zuerst gar nicht auffällt, wenn man gerade in den Gang schaut. Vincents Beine tragen ihn von allein. Eine kurze Treppe herunter. Die in einer Tür endet: Massive Holzbretter mit Eisen beschlagen; eingerahmt von zwei breiten, eckigen Haken an der Wand. Und genau so neu, wie der Eingang zum Turm.
Herzklopfen.
Bauchgefühl.
Verzweifelte, erschöpfte Hoffnung.
Hier. Hier muss Adam sein.
Bebende Finger schließen sich um die kalte, schwere Klinke. Sie gibt nach.
Und die Tür blockiert.
Abgeschlossen.
Wie von allein steigt er die vier Stufen wieder hinauf. Und nimmt kaum war, dass ihre Hände die Taschen des Toten durchsuchen. Und keinen Schlüssel finden. Ihr unteres Augenlid drückt etwas zu. Von der Schwellung darunter. Sonnenlicht sticht in die Augen draußen vor dem Turm.
Jetzt bellt der Hund doch, als sie gedankenverloren näher kommt. Aus Instinkt weicht Vincent zurück. Sein Blick fällt auf den Werkzeugkasten. Und plötzlich wird seine Sicht wieder klarer, die Gedanken sind zurück, diese neblige Taubheit legt sich. Denn ganz oben in dieser altmodischen, offenen Kiste mit Tragegriff liegt ein Brecheisen. Den Hund, der ein paar Schritte entfernt stetig auf und ab geht, während er sie fixiert, vergisst Vincent für einen Moment. Bis er knurrend und bellend auf sie zu springt, als sie sich dem Werkzeug nähert. Sie zuckt zusammen. Ein Teil der Kette liegt noch zusammengerollt auf dem Boden; unklar, wie viel Bewegungsfreiraum dem Tier wirklich zur Verfügung steht.
Sie atmet tief durch und schafft es, ein bisschen Ruhe in ihre Stimme zu legen: „Hey, alles gut, ich will dir doch gar nichts tun, hm?“ Der Hund knurrt weiter, bis sie einen Schritt zurück geht. Dann entspannt er die Lefzen wieder ein wenig. „Ich brauch das Werkzeug nur, um die Tür zu öffnen. Da is jemand drin, der da nicht hingehört.“ Vincent hockt sich hin. Der Hund setzt sich und wittert aufmerksam. Langsam streckt sie die Hand ein bisschen aus. Das Tier steht auf und schleicht näher. „Ich wills mir nur borgen, du bekommst es ja wieder.“ Die feuchte Nase stupst seine Knöchel, dann wedelt das Tier verhalten. Langsam lehnt Vincent sich näher zum Werkzeug. Wieder hochgezogene Lefzen und nur Entspannung, als sie sich zurückzieht. Er seufzt tief. „Eigentlich hab ich gar keine Zeit für solche Diskussionen.“ Die nasse Zungenspitze streift seine Finger. „Sind wir jetzt Freunde?“ Der Hund schüttelt sich kräftig, die Kette peitscht auf den Boden. Dann setzt er sich entspannt vor Vincent und sieht sie mit schiefem Kopf an. „Wie wärs, wenn ich mir das Ding nehme und du tust mir nix, hm?“ Die scharfen Zähne in ihrem Nacken beißen Vincents Geduldsfaden ab. „Ich halte das für ne super Idee.“ Viel zu ruckartig dreht sie sich zum Werkzeug um. Erschrocken springt der Hund auf, rennt bellend auf sie zu. Die Kette wickelt sich ab und die Zähne schlagen laut aufeinander, Haaresbreite vor Vincents Hand um das Brecheisen.
Das Bellen wird höher, als der Hund mit dem Schanz zwischen den Beinen zurückweicht. Fast, als schreie er Vincent an, das Eisen wieder wegzulegen… Ihm nichts zu tun. Ach Scheiße. Vincent weicht zurück und versteckt das Eisen hinter ihrem Rücken. „Is okay, alles gut, ich tu dir nichts.“ Der Hund winselt, duckt sich und schleicht in kleinen Kreisen zwischen den Stühlen umher.
Erst als Vincent mit dem Brecheisen im Turm verschwindet, hört er, wie sich das Tier beruhigt. Sie verdrängt die Gedanken daran, was das nun wieder alles bedeutet. Dafür hat er einfach gerade keine Kapazitäten mehr. Das hier ist wichtiger. Hoffentlich kommt der Rest der Truppe jetzt nicht deswegen zurück.
Herzklopfen. Immer und immer wieder. Scheiß schmerzhaft und irgendwie verzweifelt. Sein Körper war noch nie so angespannt und gleichzeitig so schwach. Auch dieses Maß von Angst kennt er von sich nicht. Diese Angst, die an den puren Überlebensinstinkt geknüpft ist. Angst hatte er bisher nur um andere. Aber das hier, das ist sein Körper, der um jeden Preis leben will. Diese Angst ist es, die ihn fernhält von den Reifenspuren, die wie tiefe Wunden durch den Waldboden ziehen. Nur gerade so auf Sicht folgt er ihnen, hoffentlich nach draußen. Und die Angst ist es auch, die ihn zusammenzucken lässt, als das dumpfe Brummen eines Motors zwischen den lichten Stämmen hindurch kriecht. Panik treibt sein Herz in den Kampf gegen seine Rippen. Im Bruchteil von Sekunden schlägt die Erkenntnis durch den Nebel seines Geistes, dass es hier kein Unterholz mehr gibt. Kein Versteck und die Bäume sind zu schmal für einen ausgewachsenen Mann, der nicht mal mehr aufrecht stehen kann. Nur ein Stapel langer Baumstämme liegt am Rand einer schmalen Schneise.
Adam weiß nicht, woher er die Energie nimmt, aber irgendwie schafft er es doch, sich in diesen hohen Schatten zu ducken, bevor sich Sonnenlicht in dunklem Lack spiegelt. Starr wie ein junges Reh hockt er in einer Kuhle zwischen zwei Stämmen. Eine Stelle, die zur Falle würde, sollte er entdeckt werden, aber auch eng genug, dass er das zu verhindern hofft.
Als monströser Käfer ruckelt das Fahrzeug durch die Stille; wankt wie ein Schiff, als es mit breiten Reifen die Spuren von anderen niederdrückt oder ihnen weichen muss. Die Stämme beben gegen seinen Körper. Raue Rinde drückt gegen Adams Rücken, seine Hüfte, gegen die Knie, seine Handfläche. Er atmet den Duft von Harz kaum ein, denn sogar sein Herzschlag fühlt sich verräterisch laut an. Das Knurren des Motors wird dumpf hinter den Stämmen, zieht endlos langsam an Adam vorbei und ändert dann die Richtung. Er wagt es nicht, aus seinem Versteck zu spähen und versucht zu erahnen, was passiert. Der Wagen entfernt sich etwas, bleibt aber viel zu klar hörbar. Bis er schließlich Adams sehnliches Bitten, dass er nicht stehen bleiben möge, zunichte macht. Zwei Türen schlagen in der Ferne. Dann heult der Motor erneut auf, bevor er wieder auf das Versteck zu eilt. Gedämpft vom Holz die Richtung wechselt und dann an Adam vorbeirauscht. Den selben Weg, den er gekommen war.
Adam wartet, bis das Knurren verstummt. Seine Panik erwartet, gleich Stimmen und Schritte zu hören, die sich stattdessen nähern. Wenn er jetzt erwischt wird, hat er keine Chance mehr, soviel ist klar.
Doch da ist niemand.
Keine Stimmen, keine Schritte. Der Wald schweigt unbeirrt, wie er es vor dieser derben Unterbrechung tat. Langsam lässt die Panik von Adam ab. Wenn er bei den Abdrücken bleibt, ist er auf dem richtigen Weg. Seine Taktik ist gut. Was ihn am Ende erwartet, ist zwar unklar aber eine andere Wahl bleibt ihm auch nicht. Hauptsache weg. Die Angst will nicht wissen, wer da ausgestiegen ist oder warum. Sie will nur fort. Adam wappnet sich gegen den Schmerz, der ihn beim Aufstehen wieder überfallen wird und atmet tief durch. Dann folgt er der leisen Hoffnung.
Als sie das Brecheisen ansetzt, klopft sein Herz wieder, als wolle es aus ihrer Brust ausbrechen. Gleich wird sie Adam wiedersehen. Aber… wie wirds ihm gehen? Hat er den Tumult hier oben gehört? Ahnt er, dass sie es ist? Was hat er durchgemacht in den letzten Tagen?
Das Eisen an der richtigen Stelle anzusetzen, ist nicht so einfach. Bei den ersten zwei Versuchen rutscht es ab, bevor überhaupt wirklich Kraft drauf war. Nun drückt Vincent sich wieder mit all seinem Gewicht auf den Metallhebel. Und endlich gibt es nicht nach unten nach und verheddert sich im Kleid, sondern drückt sich ins ächzende Holz. Die schwere Tür ist wehrhaft, bis sie sich endlich rührt. Erst dringt nur ein schmaler Spalt Dunkelheit zwischen Holz und Stein. Noch einmal nachsetzen und mit einem Ruck schwingt die Tür auf; schlägt ihm gegenüber an die Wand. Wirft flackerndes Licht in einen zuerst dunklen Raum, doch als Vincent das Eisen fallen lässt und in den Torbogen tritt, fauchen Flammen auf. Blinzelnd schirmt er sein Gesicht mit einem Arm ab und ruft in den Raum, dessen Größe er noch nicht erfassen kann: „Adam?“
Keine Antwort. Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen ans flackernde Licht gewöhnt haben. Im oberen Drittel der Wand umringen kleine Feuerschalen den Raum und tauchen alles in ihr tanzendes Licht. Vor seinen Füßen kann er noch zwei Steinstufen erkennen, bevor blanker, fester Erdboden folgt. Die Luft ist abgestanden, erfüllt von Ölfeuer, Stroh, Erde und Stein. Und… Blut.
Die kalte, schwere Schlange kriecht wieder seinen Rücken hinauf.
Ein gutes Viertel des Raumes wird eingenommen von einem Stahltisch und Schwerlastregalen; dazwischen steht eine altertümliche Truhe aus massivem Holz an der Wand. In der Ecke direkt neben der Tür verbirgt sich ein Bett hinter weiteren Regalen, wie es in einer Klinik stehen könnte. Die Wände zur Rechten sind gesäumt von noch mehr Regalen. Ein flüchtiger Blick erfasst Ausrüstung, die aus der Prepper und Survival Szenen bekannt ist: Vorräte, Werkzeuge, Kerzen, Notstrom und medizinische Grundversorgung.
Wichtig wird die hintere Ecke. Dort steht ein mannshoher Käfig und darin… liegt etwas.
„Adam!?“
Seine Stimme zittert. Und sein Herz zieht, als wolle es ihn aufhalten. Aber sie kann nicht anders, muss hingehen. Durch die oberen Gitterstäbe baumelt eine Kette, die über ein paar Rollen direkt unter der Gewölbedecke hängt und zur Seite zu einem elektrischen Flaschenzug neben dem Käfig führt. Daneben ein Tropf mit zwei Plastikbeuteln; beide mit Resten klarer Flüssigkeit gefüllt. Die Tür lässt sich einfach öffnen, als Vincent danach greift bevor er sich vor die staubige Matte auf dem festgetretenen Erdboden hockt. Den Herzschlag im Hals streckt sie vorsichtig die Hand nach der abgewetzten Decke aus.
Und greift ins Nichts.
Strohhalme rieseln ihm entgegen, als der Stoff wegrutscht und aus einem Nest aus Kleidungsstücken und Stroh leuchtet ihr eine digitale Anzeige entgegen. 11:21, 11:20, 11:19, 11:18. Die Sekunden hüpfen davon. Aus der Konstruktion ragen ein paar Kabel heraus.
Vincent hört sich selbst Lachen. Kurz, bitter. Wie durch Watte.
Sie spürt, dass es ihr Körper ist, der lacht. Damit er nicht erstarrt. Damit sein Hirn Zeit hat, um… Nicht in Wahnsinn zu verfallen.
Ihre Sinne wandern durch den Käfig, ohne richtig zu erfassen, was sie wahrnehmen. Krustige Flecken auf der Matte, nasse Stellen in der Erde. Verbrannter Geruch. Einzelne, verbogene Kettenglieder. Ein dünner, durchsichtiger Schlauch, an dessen Ende eine blutige Flexüle von Pflasterresten gehalten wird. Eine feine Nadel unter seiner Sohle. Nichts lässt sich sinnvoll zusammensetzen.
Seine Wangen sind nass, als er aufsteht. Und der Raum um den Käfig verschwimmt nicht nur durchs unstete Licht der Fackeln.
Er sollte Adam nie finden. Diese Chance bestand gar nicht erst. Tanja Doroshenko spielt nicht fair. Wollte sie nie. Es war alles umsonst, von Anfang an. Eine halbe Stunde. Für eine Lüge. Sonst. Nichts.
Ein hallender Schlag reißt Vincent aus dem Nichts in seinem Inneren. Holz auf Stein. Die Tür! Panik treibt seine Schritte an, als sein Hirn endlich begreift, was das für eine Konstruktion im Käfig sein soll. Wieder gibt nur die Klinke nach. Auch, als er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das schwere Holz wirft; den Schmerz in der Schulter ignoriert. Nichts. Kein Schaben, kein Kratzen. Nur Widerstand.
Fuck!
11:09
Sein Körper handelt ohne seinen Geist. Hebt die Waffe und zielt. Der Rückstoß brennt in der Schulter und wahrscheinlich ist es Glück, dass die Kugel ihn verfehlt, als sie an dem beschlagenen Schlosskasten abprallt und statt in seinen Körper in die Truhe hinter ihm einschlägt. Verzweiflung flammt in jede Faser seines Seins. Wieder wirft er sich mit noch mehr Kraft gegen das gnadenlose Holz. Und muss sich zitternd abstoßen lassen.
Eiskalte Angst packt ihr Herz, ihren Geist, ihren Körper. Ihre Stimme.
Das… das kanns doch jetzt nicht gewesen sein? Bitte.
Die Flammen in den Schalen neigen sich, als wollten sie seinem Schrei weichen.
11:03
Die schiere Ewigkeit nagt an ihm. Der Wald sieht bald in jeder Richtung gleich aus. Nur die fernen Narben im Boden sind ein Anhaltspunkt. Jeder Schritt braucht Kraft, von der er bald nicht mehr weis, woher er sie nehmen soll. Und wieder will ihn Verzweiflung überfallen, als er erneut Halt an einem Baum suchen muss, um seinen brennenden Lungen die Chance zum Atmen zu geben. Er blinzelt den Schwindel fort.
Vor ihm fällt der Boden sanft ab, fließt als langer Hang hinab in eine weite Senke. So weit, dass er sie nicht umgehen kann. Eine dicke Laubschicht verbirgt die Beschaffenheit des Untergrunds, ab und zu ragen junge und ältere Bäumchen aus dem dunklen Meer. Adam zögert. Irgendwo rechts von ihm ziehen die Spuren. Nach links wird die Senke tiefer, der Abhang nur steiler. Die Erkenntnis manifestiert sich langsam durch den dumpfen Druck im Kopf: Es bleibt nur ein Weg.
Adam muss hier durch.
Für Wiktor. Hoffentlich für Vincent.
Vorsichtig verlagert er das Gewicht auf das weniger schmerzende Bein und lässt sich langsam auf dem glatten Laub nieder. Es funktioniert. Halb kriechend, halb rutschend gelingt ihm tatsächlich der Abstieg; langsam aber stetig. Am tiefsten Punkt braucht er wieder eine Pause. Zum Atmen; um herauszufinden, wo er auf der anderen Seite am besten wieder rauf kommt. Während er darauf wartet, dass das Brennen in der Lunge nachlässt, wandert sein Blick aufmerksam. Übers Laub, über winzige Triebe und junge Bäume, gerade breit genug, um darum zu greifen. Über ein paar Steine, moosbemützt und ins Laub gekuschelt, halb verborgen zum Teil. Immer weiter den Hang hinauf.
Zu einem Paar kopierter, schwarzer Ohren.
Kurwa!
Wilde, dunkle Augen fixieren ihn. Die rosige Zunge hängt zwischen spitzen Zähnen heraus und zuckt im Rhythmus schneller Atemzüge. Im abfälligen Zungenschnalzen hinter Adam zerbricht jeder Funke Hoffnung in seinem Herzen. Tanja hat gewonnen. „Wenn du so starrst, provozierst du ihn nur.“
Die schweren Stiefelschritte rascheln im Laub. Unter den Pfoten bleibt es still, als das Tier noch näher schleicht, bis sich der Schwung der Krallen um die Kante des Abhangs legt. Widerwillig wendet Adam den Blick ab. Überlegt, ob er aufstehen soll. Doch sein Körper schreit nur verzweifelt. „Was, gibst du schon auf, hm?“
Ja.
Ja, Adam gibt auf. Sein Körper gibt auf, sein Herz gibt auf.
Sie hat es geschafft und das weiß sie ganz genau. „Ich rede mit dir, Raczek.“ Die Acrylnägel schaben schmerzhaft über seine Kopfhaut, als ihr Griff sich ins Haar gräbt und seinen Blick zu ihr zwingt. Er starrt in die bösen Augen, ohne sie so richtig zu sehen. Ihr Lächeln verblasst ein wenig. „Oh.“
Es ist das erste Mal, dass Adam sowas wie ehrliche Überraschung an ihr sieht.
„Du heulst ja sogar.“
Heiß streichen Wut und Enttäuschung über seine Wangen.
„Warum eigentlich, du weißt doch das Wichtigste noch gar nich.“ Ihr Griff lockert sich nicht, als sie wie beiläufig auf ihre Armbanduhr schaut. Lautlos aber deutlich zählt sie Sekunden.
Ein dumpfes Beben erfüllt den Boden, die Wipfel zittern überrascht. Beides zieht wie eine Welle an ihnen vorüber und ist nach einem Augenblick verschwunden.
„So, jetzt hast du Grund zu heulen. Ich zeig dir auch, warum.“ Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und hält Adam das Display unter die Nase.
Die Aufnahmen sind krisselig, haben kaum Farbe, stocken ein wenig. Und doch ist eines klar zu erkennen: Sie zeigen Vincent. Er hat seine Waffe in der Hand und huscht durch einen halbhellen Gang, bleibt an dessen Ende einen Augenblick stehen, wirkt auf einmal sehr in sich gekehrt. Das Sommerkleid streicht um seine Beine. Schnitt. Vincent huscht aus einem Torbogen heraus über eine bewucherte Freifläche. Ein Hund an einer Kette springt ihr entgegen, erreicht sie aber nicht. Schnitt. Vincent in einem großen Raum, das Licht flackert seltsam. Es dauert einen Augenblick, bis Adam sein Verlies wiedererkennt. Im Käfig hockt sie schließlich über einem Haufen Lumpen, aus dem ein dünnes Leuchten zuckt. Zahlen, die sich rhythmisch bewegen. Die Locken wippen leicht, als sie den Kopf senkt. Und sich für einen Moment überhaupt nicht mehr bewegt. Als er dann den Raum verlassen will, bleibt die Tür offensichtlich verschlossen. Sie wirft sich mit der Schulter dagegen und erreicht nichts. Adams schwaches Herz sticht, als er ihre Verzweiflung durch die Aufnahme hindurch spüren kann. Sie richtet ihre Waffe auf die Tür und duckt sich instinktiv vor dem Querschläger weg. Es scheint nichts zu bewirken. Und ihr Schrei bleibt stumm. Ihre Hände zittern durch die Locken und kalte, schwere Angst kriecht über Adams Rücken.
Tanja drückt auf eine Taste am Rand des Handys und das Display wird wieder schwarz.
Adam regt sich nicht. Sein Hirn begreift noch nicht. Oder will es nicht begreifen. Aber sein Herz krampft sich zusammen, denn es versteht von allein. Vincent wusste nichts vom Tunnel.
Tanja steckt das Handy wieder ein und sieht ihn an, als seien sie irgendwie bekannt und unterhielten sich normal; lässt ihn sogar los. „Die Kameras habens auch nich geschafft, deswegen zeig ich dir den Rest nich. Aber ich seh dir an, dass du verstehst.“ Sie zwinkert ihm zu.
Adams Kopf ist leer.
Schmerzhaft dröhnend leer.
Tanja lehnt sich zu ihm und spricht ohne jeden zynischen Unterton: „Das ist übrigens deine Schuld. Wenn du nicht abgehauen wärst, wäre der Sprengsatz nicht notwendig gewesen. Das mit dem Herz war eine Spielerei, mir war danach. Aber jetzt gerade ist mir nicht nach Scherzen. Du hast mich diesmal richtig abgefuckt und das hier is mein Ernst. Jetzt hast du den kleinen Prinzen auf dem Gewissen. Und eine meiner Bases; die Ruine war ein guter Standort.“ Die scharf gezogenen Augenbrauen ziehen sich zusammen.
Adam findet seine Stimme. Tief, knurrend aber kraftlos: „Ne. Das war deine Entscheidung.“
Sie schnaubt abfällig. Sein zutiefst verletztes Herz treibt Adam auf die Beine. Überrascht weicht Tanja einen Schritt zurück, sieht ihn aber nur wartend an. Taube Verzweiflung gibt ihm die Illusion von Kraft, treibt die Worte durch seine schmerzenden Zähne: „Du hast dich für diese sinnlose Racheaktion entschieden. Du glaubst, dass dir das irgendwas bringt. Und dir is völlig egal, was du damit anrichtest!“
Ihr flacher Handrücken landet auf seiner Wange, brennt in seinem Kiefer und lässt Schmerz durch seinen Kopf flimmern. Aber es ist egal. Adam geht auf sie zu, den nächsten Schlag kann er abblocken. Ihr Grinsen verblasst. Seine körperlichen Schmerzen sind ihm zur vertrauten Begleitung geworden, die diese wütende Trauer völlig ignoriert. Wieder holt Tanja aus, Adam bekommt ihr Handgelenk zu fassen und dreht ihr den Arm auf den Rücken. Ihr Fluchen ist ein Befehl, dann stößt sie Adam die Verse gegen das linke Knie, um sich zu befreien. Sein Körper muss nachgeben, seine Hand, sein Ellenbogen, die Schulter schreien wieder auf, als er sich abfangen will.
Laub wirbelt auf, als der Dobermann geifernd auf ihn zu rast. Adams Lunge verkrampft, zieht seinen ganzen Körper in einer Welle aus Schmerz zusammen. Er spürt, wie er sich auf dem feuchten Boden krümmt.
Die erwarteten scharfen Zähne in seiner Haut bleiben aus.
Stattdessen ein Aufprall zweier Körper. Ein Jaulen, Knurren. Tanjas Fluch klingt über sein Husten und Keuchen. Adam spuckt Blut ins Laub, bis er nicht mehr das Gefühl hat, zu ersticken und als er aufblickt, ist der schwarze Hund verwickelt in ein weiß-braunes Fellbündel.
Speedy?
Sie verbeißt sich in der schwarzen Schulter und lässt sich nicht abschütteln; zerrt den viel größeren Hund von Adam fort.
Hinter ihm klickt eine Waffe. „Okay, Schluss jetzt. Ich hab genug von dir.“
Er wendet sich um und fixiert die kalten Augen, als sie auf ihn zielt. Sein Kopf wird so seltsam leicht.
Der Schuss zerreißt die Stille.
Ein Schatten huscht vor Adam.
Und er spürt nichts.
Der Rückstoß zerrt im Handgelenk, heißer Schmerz flammt am Ohr entlang. Alles nicht wichtig. Fokus auf der Kehle unter der Handfläche, dem Kiefer über den Fingern, dem widerspenstigen Körper. Auf hellen, wütenden Augen. Auf scharfen Fingernägeln, die sich sinnlos in dünnen Stoff graben. Der Rausch aus Hass, der die Finger am Hals langsam schließen lässt. Widerstand schwindet. Aus der Wut in den kalten Augen wird langsam Panik – sie führt zu nichts.
„Vince, hör auf damit. Bitte.“ In kraftlosem Flüstern durchdringt die geliebte Stimme das hohe Pfeifen und den Rausch.
Adam!
Es geht nur um Adam, alles andere ist jetzt unwichtig. Vincent schlägt mit dem Griff ihrer Waffe gegen Tanjas Schläfe. Ihre Lider flattern, als sie am Baum herunter ins weiche Laub sinkt und sich nicht mehr rührt.
Alles ist so verschwommen. Adams Kopf hängt in einem schmerzhaften Schwebezustand, seine Gedanken dabei bleischwer. Sein ganzer Körper drückt zu Boden, überall wabern Schmerzen in Wellen gegeneinander. Ein Ruf. Vincent sieht kurz auf, während er zu Adam eilt. Aber das kann doch gar nicht sein?
Oben am Hang steht Wiktor. Auch das völlig unmöglich. Er zielt auf etwas hinter ihnen. Ein Schusswechsel, Wiktor zuckt zusammen und sinkt auf die Knie. Sein wütender Schrei hallt über ihre Köpfe.
„Adas, serce, hörst du mich?“ Hände, so vermisst, so vertraut berühren ihn. Behutsam aber entschlossen. Halten ihn, als sein Oberkörper zu Boden sinkt. Die blaugrünen Augen so voller Liebe, voller Sorge. Und Schmerz. Adam will nicht, dass da Schmerz ist. „´Zrebię …“, hört er sich flüstern. Die weichen Locken tanzen sanft, als sie nickt.
Blutige Striemen auf dem schönen Gesicht, eine dunkle Schwellung unterm Auge. Blut am Ohr. Staub und Dreck im Haar, auf dem Kleid. Der Stoff ist auch zerrissen. Es passt alles nicht zusammen. Blinzelnd kämpft er gegen diesen hellen Schleier an, der sich vor seine Augen zieht. Ein Schatten fällt über sie. Mehr sanfte Hände. „Alles wird gut, Kochanie. Bleib bei uns.“
Wiktor?!
Er kniet sich vor Adam, sein Arm ist voller Blut. Adam will nicht, dass da Blut ist. „Ihr seid hier?“ Das kann nicht sein. Vince ist doch tot und Wiktor so unendlich weit weg. Adam hat doch verloren. Oder nicht?
Er greift nach Vincents Hand. Sie ist da. Und Wiktors Finger sind es auch. Und da will er nicht mehr hinterfragen, ob das hier vielleicht nur ein letztes Zeichen von Gnade ist, dass sein erschöpfter Geist ihm schenkt. Die Schmerzen sind egal, er will die beiden spüren, solange er noch kann. Denn der bleischwere Nebel im Kopf wird immer dichter. In der Jagd von Hitze und Kälte durch seinen Körper gewinnt die Kälte langsam Überhand, macht die Schmerzen dumpf. „Miriskalt…“
Streicheln durch sein Haar, über die Wange. „Adam, du musst wach bleiben, bitte.“ An der anderen der warme Körper. Unter seinem Kopf, das muss Vincents Schoß sein. Adam weiß nicht, ob er das noch kann aber er möchte die Wange an Vincents Hand lehnen. Möchte Lächeln. Ihre Stimmen wabern sanft durch Watte. Die Panik lässt von ihm ab, als könnte sie ihn hier nicht mehr erreichen. Hier, bei Vincent und Wiktor. Sein Herz drückt träge, aber unendlich warm. Denn er hat doch noch bekommen, was er nicht mehr zu wünschen wagte. Die beiden sind am Leben und er darf sie nochmal sehen.
„Kochanie, halt durch. Hilfe ist unterwegs, sie sind gleich da. Schau mich an, bitte.“ Wiktor beugt sich über ihn, seine blauen Augen sind so schön. Aus seinem Kragen rutscht ein kleiner, goldener Kettenanhänger. Ein Kreuz. Schwer und gnadenlos senkt sich tiefe Dunkelheit über Adam, als er darüber streicheln möchte. Und sie verrät ihm nicht, ob es sein letzter Gedanke noch über seine Lippen schafft.
„Kocham was.“ Ich liebe euch.
Vincents Herz verkrampft über die tiefe Verzweiflung in Wiktors Blick, als Adams Augenlider sinken und der schwache Puls gegen ihre Fingerspitzen verblasst. Adams Kopf wird schwer an ihrem Körper.
Ihre Welt zersplittert.
Wiktors apathisches Kopfschütteln spiegelt die Leere in ihr. Sein Schmerz sickert in ihr Herz, als seine Stirn gegen ihre sinkt.
Das kann doch jetzt nicht alles sein. Es darf nicht vorbei sein. Nicht nach all der ganzen Scheiße.
Bitte nicht.
Wiktors tränenverschleierter Blick trifft Vincents. Und vielleicht ist es Trotz. Vielleicht Verzweiflung. Vielleicht auch Hoffnung. Woher genau der vertraute, kalte Schleier sich webt, weiß Vincent nicht. Und sie muss es jetzt auch nicht wissen, als er sich schützend um ihren Geist und ihre Emotionen legt und beginnt, seinen Körper zu leiten.
Wiktor blinzelt die Tränen weg, spürt, was in ihr vorgeht. Und obwohl er vor Schmerz zusammenzuckt, greift er zu und gemeinsam legen sie Adam flach auf den kühlen Waldboden.
Wie so oft in den letzten Tagen wandelt sich die Zeit. Wird zu einem zähen Schleier, der sich um sie legt. Vincent kniet sich neben Adam und legt beide Hände flach übereinander auf fransige Wunden und zerfetzten Stoff. Der einzige Trost ist, dass Adam jetzt keine Schmerzen hat. Wiktor kniet neben Adams Kopf und presst die Hand über die Wunde an der Schulter. Ein kurzer Blick, ein Nicken. Dann drückt Vincent mit aller Kraft auf Adams Brustkorb. Versinkt in einem steten, schnellen Rhythmus und setzt nur ab, wenn Wiktor sich über Adam beugt und die Lippen auf seine legt. Der Wunsch auf ein trotziges Klopfen an der Hand treibt sie voran.
Bis Menschen in leuchtender Kleidung neben ihnen auftauchen. Hände in blauen Handschuhen seine ablösen, als sie wieder kurz unterbricht. Mehr solcher Hände Wiktor sanft zur Seite ziehen. Dann versperren ihr Rücken in den grell leuchtenden Jacken den Blick auf Adam.
Vincent wankt ein paar Schritte zurück den Hang hinauf.
Wie durch Watte dringt das zweistimmige Bellen zu ihm durch. Der Dobermann steht über Tanja, ihr Kopf zwischen den Vorderpfoten und der kurze, drahtige Körper schirmt ihren ab. Das Tier lässt niemanden an sie heran. Speedy steht knurrend vor ihnen, hat sich schützend vor Vincent, Adam und Wiktor aufgebaut. Der Dobermann verstummt erst, als Tanja sich regt. Mit gesträubtem Nackenfell geht Speedy ein paar Schritte zurück. Als Tanja sich aufrappelt, trifft ihr Blick Vincents. Seine Finger zucken.
Schnelle, kräftige Windschläge neigen die Baumkronen, lenken ihrer beider Aufmerksamkeit nach oben, zum Schatten des Hubschraubers. Vincent blinzelt gegen den Wind und aufwirbelndes Laub.
Tanja haut ab, ihr Hund baut sich nochmal drohend vor Speedy auf. Dann folgt er ihr in großen Sprüngen.
Die Senke füllt sich mit Menschen. Mehr Rettungsdienst, Feuerwehr und SEK. Einige der schwarz gekleideten Kolleg*innen ziehen weiter in die Richtung, in der Tanja verschwunden ist. Speedy hört auf zu bellen.
In Vincents Blickfeld schwebt eine Person an zwei Stahlseilen vom Hubschrauber herunter, bis zum Grund der Senke. Mitten hinein in die Gruppe an Menschen, in der Adam versunken ist. Ein paar Handgriffe, dann schwebt der Mensch wieder in die Höhe; begleitet eine leuchtend orangene Trage hinter die Baumkronen. Dann ist er verschwunden.
Warme Rinde am Rücken. Vincent lässt sich davon leiten, bis er auf dem Boden sitzt. Sein Blick sucht nach Wiktor. Doch auch er ist irgendwo zwischen den Rettungskräften… verschwunden. Der Kälteschleier löst sich auf und alle Emotionen brechen gleichzeitig über Vincent herein, prallen aufeinander. Lähmen sie in Schockstarre, die er nur akzeptieren kann.
Bis eine feuchte Nase gegen seine Hand stupst.
Speedy grummelt, als er nicht reagiert und schiebt den Kopf auf seinen Schoß. Seine Finger zittern, als sie durch das kurze, gefleckte Fell streicht. An manchen Stellen ist es rot verfärbt und von langen Wunden durchzogen. Vincent wühlt die Hände sanft in das dichte Fell am Hals, wo Speedy nicht verletzt ist. Sie winselt leise, als er die Stirn auf ihren Kopf legt. „Gutes Mädchen. Danke, dass du da warst.“ Wo sie vorhin plötzlich herkam, als er gerade rechtzeitig die Senke erreichte, weiß Vincent nicht. Aber fest steht, dass er selbst auf Tanjas Hund nicht so schnell hätte reagieren können. Wäre Speedy nicht dazwischen gegangen, hätte das Biest Adam auch noch böse erwischt. Speedys Rute klopft sanft aufs Laub, als sie schwer schnauft. „Ich weiß, tut mir trotzdem leid.“ Hoffentlich hat sie sich nicht ernsthaft verletzt. Die braunen Augen sehen irgendwie noch trauriger aus, als sonst und doch stupst sie mit der Nase Vincents Wange. Das linke Schlappohr hinterlässt blutige Spuren auf seinem Kleid. Auf einmal horcht sie auf und dreht den Kopf zur Seite, als habe sie etwas gehört.
„Vincent?“
„Hier!“ Seine Stimme klingt dünner, als gedacht.
Edyta eilt den Hang entlang auf sie zu. Sie hat mehr Sanitäter im Schlepptau. Speedy löst sich von Vincent und humpelt ihr wedelnd entgegen. Edytas Aufatmen klingt sowohl erleichtert, als auch irgendwie fassungslos. Doch bevor Vincent irgendwas erklären kann, hockt sich eine junge Frau in leuchtender Einsatzkleidung neben ihn. Behutsam berührt sie ihn an der Schulter. „Sind Sie verletzt?“ Sie hat eine sanfte aber feste Stimme und ihr freundlicher Blick strahlt Ruhe aus. Und ihre Frage ist ebenso gut wie überfordernd im Moment.
„Ich… weiß es nich…“
Notes:
Thanks for being here <3
Feel free to share thoughts.
Chapter 6: Verloren
Notes:
That one also turned out longer than expected and I'm unsure if I should be sorry about that or not. Have fun.
(See the end of the chapter for more notes.)
Chapter Text
„Dzięki, mamo.“ Danke Mama. Das scharfe Ziehen von der Schulter bis ins Handgelenk vertreibt das seltsame Gefühl von Scham sofort. Frisch operiert und unfähig, einen Arm zu benutzen, ist es auch als erwachsener Mann keine Schande, sich von der eigenen Mutter in die Klamotten helfen zu lassen. Liebevolles Streicheln der gesunden Schulter, während er die Trainingsjacke über seine Armschlinge drapiert. „Brauchst du noch was?“ Wiktor schüttelt den Kopf. Vorsichtig, denn die Welt wankt dabei mehr als sie sollte. „Im Moment nicht.“
Es tat überraschend gut, dass sie da war, als er aufwachte. Unerwartet – denn sein Herz sehnt sich nach Adam und Vincent, was leider jeglicher Logik entbehrt – aber gut. Doch nun sind sie an dem Punkt, an dem sie alles getan hat, was sie kann. Ihr Lächeln verrät ihm, dass sie das auch weiß, als sie sich langsam den Träger ihrer Handtasche wieder über die Schulter zieht. „Melde dich bitte, wenn was ist. Papa und ich sind für euch da, das weißt du, Lisku.“
Seine Wangen werden warm. Irgendwie hat er sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass seine Eltern mit der Beziehung kein Problem mehr haben. Wiktor nickt und muss sie dann doch nochmal mit dem gesunden Arm an sich ziehen. „Ich muss jetzt selber erstmal herausfinden, was los ist…“ Als sich die Arme seiner Mutter noch einmal fester um ihn legen, kommt das Bedürfnis auf, sich wie früher einfach in dieser Umarmung zu verkriechen, bis alles wieder gut ist. Sie verspricht ihm nicht, was sie nicht halten könnte; hält ihn einfach nur fest. Sie sagt nicht, dass alles gut werden wird. Denn das weiß noch niemand. Seine eigene Prognose ist gut, die Kugel war nicht tief im Oberarm. Und Vincent kommt wahrscheinlich auch glimpflich davon. Aber Adam. Keine Ahnung, ob er überhaupt schon wieder aus dem OP raus ist. Sie wissen immer noch nicht, ob sie ihn verloren haben.
Tröstendes Streicheln über seinen Rücken. „In der Tasche ist noch eine Hose von dir und zwei Strickjacken. Falls die anderen auch was brauchen.“ Sanft drückt sie ihm noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich löst. Behutsames Klopfen unterbricht Wiktors Antwort. Auf dem Weg nach draußen öffnet seine Mutter die Zimmertür.
„Pani Krol?“ Karol klingt überraschend kleinlaut und Wiktor ist ihr dankbar, dass sie darauf nicht eingeht und nur souverän nickt.
Ihm ist klar, dass Karol sich für diese ganze Scheiße verantwortlich fühlt und wahrscheinlich noch versucht hätte, sich bei ihr zu entschuldigen; völlig egal, dass sie alle lange schon erwachsen sind. Vincent und er haben ihre Entscheidungen bewusst getroffen. Mit keinen Mitteln dieser Welt hätte Karol sie davon abhalten können, Adam zu suchen. Sie wussten beide, dass all diese Risiken bestehen. Wenn sie nicht dran geblieben wären, wäre Adam mutterseelenallein in diesem Wald verreckt! Und so… waren sie zumindest bei ihm, als er…
Unwillkürlich versucht Wiktor, die Gedanken abzuschütteln; die Angst abzuweisen und sein Herz wieder einzufangen. Das kann er noch nicht wissen! Er hat noch gesehen, dass sie Adam auch mitgenommen haben. Das hätten die doch nicht gemacht, wenn die Reanimation gar nicht funktioniert hätte, oder?
In Marians aufmunterndem Grinsen liegt keine Antwort, nur Erleichterung, als er Wiktor vorsichtig umarmt. Karols Blick lenkt Wiktor von seiner Angst ab. In den hellen Augen glüht Chaos, ansonsten behält er die rational kontrollierte Maske. Schuld. Wut. Sorge. Erleichterung. Es fiel Wiktor noch nie so leicht, hinter die vertraute Fassade zu sehen. Karol weicht aus, geht am Bett vorbei und starrt einen Moment aus dem Fenster in den frühen Abend.
Einer der leichten Plastikstühle kratzt übers Linolium, als Marian in der kleinen Nische mit dem Klapptisch Platz nimmt.
Wiktor setzt sich wieder aufs Bett. „Und?“
Nach einem Moment des Schweigens dreht Karol sich endlich um und lehnt sich seufzend gegen die schmale Fensterbank und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. „Wo soll ich anfangen?“
Er wartet nicht darauf, dass Wiktor auszusprechen schafft, was ihm auf der Zunge brennt und beginnt mit seinem Bericht. Über den Informationsstatus zu Tanja und ihrem Netzwerk, über die Pläne der Cottbuser Kollegen und wie limitiert ihr Handlungsspielraum zur Zeit sei. Die Worte verlieren Wiktor in drückendem Schwindel und seinem ungeduldigen Herzschlag immer wieder. Aber Karol klingt, als gäbe er Wiktor Ansatzpunkte für seine eigenen Aufgaben. Als sei er noch mitten in den Ermittlungen und nicht in seinem eigenen emotionalen und körperlichen Ausnahmezustand.
Die hellen, neutralen Wände schimmern allmählich im zarten Orange des Sonnenuntergangs. Wiktor beobachtet die glühende Scheibe beim Versinken hinter Karols Schultern. Und würde gern die Wange gegen weiche Locken lehnen, während dunkle Bartstoppeln seinen eigenen Hals kitzeln. Würde gern in einer Hand leicht raue Finger spüren und mit der anderen über abgeplatzten Nagellack streifen bevor sich ihre Finger verweben. Aber seine Finger bleiben kühl.
„Soweit die aktuellen Erkenntnisse.“
Wiktor fällt nur ein Nicken ein.
Karol zieht die Hände aus den Taschen und verschränkt vor sich die Finger miteinander. Durch sein Seufzen bekommt Wiktor eine Vorahnung. „Ich muss trotzdem auch über euer Verhalten sprechen.“ Und da ist sie, die erwartete Standpauke. Dass Karol sie ja verstehen könne und trotzdem dürfe er das nicht unkommentiert lassen. Sie haben sich beide seinen Befehlen direkt widersetzt. Das ziehe einen Berg an Bürokratie mit sich und müsse wohl oder übel in den Berichten dann auch auftauchen. Es sei auch möglich, dass sie sich noch mehr Befragungen der Cottbuser Kollegen gefallen lassen müssten. Allerdings bleibt seine Stimme mild. Sehr erschöpft aber auch erleichtert. Und vielleicht ein bisschen stolz, als er Wiktor schließlich die Hand auf die Schulter legt. „Aber das hat alles Zeit.“ Wiktor bemüht sich um einen reumütigen Blick. Auch, wenn ihm nicht klar ist, wie um Gotteswillen sie das alles anders hätten lösen sollen.
Wieder nickt er nur. Worte sind im Moment nicht seine Stärke.
Marian schaut auf sein Handy, dann lächelt er. „Grüße von Edyta und Wolle: Speedy muss zwar in der Klinik bleiben aber ihr gehts soweit gut.“
„Danke…“ Wiktor sucht in seinen Erinnerungen nach der Hündin und findet nur vage, kurze Bilder.
Karol nickt. „Wir lassen dir jetzt deine Ruhe.“
Gern. Aber das Wichtigste fehlt ihm noch.
„Co z Adamem?" Was ist mit Adam?
Karol zögert. Und spricht die Worte dann aus, als kämen sie ihm erst im Moment des Aussprechens alle einzeln. „Vor einer Stunde habe ich die letzten Informationen bekommen und es ist nicht viel. Er wird noch operiert. Die Kollegen haben sich bei mir gemeldet, sie haben ihre Stellung vor seinem Zimmer schon bezogen.“
Vor dem leeren Zimmer, wenn Wiktor ihn richtig versteht. „Und Vincent?“
Sein Seufzen klingt resignierend: „Du bist der Einzige, dessen behandelnder Arzt mir nicht dringend von einer Kontaktaufnahme abgeraten hat.“
Wiktor läuft es kalt den Rücken herunter. Ist sie doch schlimmer verletzt, als er mitbekommen hat? „Was genau heißt das?“
In Karols Blick kämpfen Sorge und Entschlossenheit. „Dass mir sonst nichts gesagt wurde. Kollege Ross gilt sozusagen als nicht vernehmungsfähig.“ Er krümmt die Zeigefinger um den Begriff, dann verlieren sie sich in einer hilflosen Geste. „Im Augenblick nicht in der Verfassung, weitere Informationen zur Gesamtsituation aufzunehmen. Zu sehr privat involviert, was Adam betrifft.“
In seiner Verwirrung sucht Wiktor Marians Blick; er selbst ist doch nicht weniger privat involviert, was Adam betrifft? Marian bewegt den Kopf in einer hilflosen Geste der Entschuldigung und hebt leicht die Schultern. Wiktor glaubt, zu verstehen. Sein Hals wird eng, verwehrt ihm wieder die Worte.
„Ich habe darum gebeten, informiert zu werden, wenn sich etwas ergibt.“ Karol verbirgt die Hände wieder in den Hosentaschen. „Und bis dahin können wir jetzt nur abwarten und unseren Teil dazu beitragen, dass sich die Situation entspannt. Wir sind eine Familie und Familie ist füreinander da. Die beiden brauchen uns jetzt.“
Tränen brennen Wiktor im Hals. Er braucht sie doch auch, diese Familie! Aber klar, Karol weiß das nicht. Und Wiktor kann es ihm nicht sagen. Seine Brust wird eng, sein Herz zieht und die Worte brennen ihm auf der Zunge. Aber sie wagen sich nicht, ausgesprochen zu werden. Er kann es nicht. Er kann einfach nicht für diese Beziehung einstehen, nicht mal, wenn er sie zu verlieren droht. Scham frisst sich durch jede Faser seines Seins und sticht in der Wunde am Oberarm.
Bevor sein Schweigen auffällt, klopft es wieder. Doch diesmal ist es weniger eine Frage, als eine Vorwarnung bevor der junge Pfleger den Raum betritt.
Karol nickt zum Abschied. „Ich halte dich auf dem Laufenden.“ Marian klopft Wiktor im Vorbeigehen noch einmal die Schulter. „Cześć.”
Der kernige Mann in den mintgrünen Klamotten sieht ihnen mit skeptisch erhobenen Augenbrauen nach: „Sie sollten sich erstmal bisschen Ruhe gönnen, Panie Komisarzu.“ Halbherzig hebt Wiktor die gesunde Schulter, während er die Beine wieder aufs Bett schwingt „Berufskrankheit“, seufzt er nur. Der Pfleger betrachtet den Monitor neben dem Bett, dann Wiktors Verbände und schließlich hängt er einen neuen durchsichtigen Beutel mit klarer Flüssigkeit in das Gestell auf der anderen Seite. Er grinst leicht. „Wir können das Schmerzmittel auch so hochfahren, dass es Sie ausknockt.“ „Ne, danke. Ich entscheide gerne selber, wann ich mich ausruhe.“ „Versteh ich.“ Mit geübten, sanften Handgriffen prüft er den Zugang in Wiktors Handrücken bevor er den dünnen Schlauch wieder anschließt. „Wie gehts Ihnen?“
Beschissen. Ganz okay. Beides. Nichts. „Sagen Sie’s mir.“
Trotz bäumt sich in ihm auf gegen das Zögern des Anderen. „Also… Ihre Werte sind soweit… gut, aber–“ „Gut genug, dass ich aufstehen und meinen Kollegen suchen kann?“ Sein Blick ist dem von Karol eben sehr ähnlich. „Meinen Sie nicht, Ihr Körper verdient mehr Ruhe?“ „Wie viel Ruhe würden Sie bekommen, wenn Sie nicht wissen, wie schlecht es einem Ihrer engsten Freunde geht?“ Für einen Moment keimt die Furcht auf, dass der andere in seinem Blick sieht, dass Adam mehr als das ist. Wiktor zwingt sich, trotzdem nicht auszuweichen.
Der Pfleger seufzt milde, dann hält er Wiktor einen Arm hin. „Na dann, stehn Se mal auf. Ob Ihr Kreislauf das mitmacht.“ Immerhin war das vorhin ja auch kein Problem mehr. Dennoch greift er nach dem kräftigen Unterarm und rutscht zögernd vom Bett, bis seine Zehen den Boden berühren. Tatsächlich dreht sich der Raum wieder leicht, aber seine Beine tragen ihn sicher.
Ein letzter prüfender Blick aus freundlichen, braunen Augen. „Na gut.“ Vorsichtig lässt er Wiktor los. „Aber Sie versprechen mir, dass Sie langsam machen! Und nich überschätzen! Wenn Sie wacklig werden, machen Sie Pause und holen sich Hilfe, is das klar?“ Nun kann Wiktor sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Versprochen.“
Der Pfleger nickt und drückt Wiktor den Rollständer für den Tropf in die Hand. „So, darf ich vorstellen? Ihr neuer bester Freund. Ohne den gehts nirgendwo hin!“ Wiktor nickt nachgiebig. „Alles klar.“ Der junge Mann lächelt ihm aufmunternd zu. „Wie finde ich meinen Kollegen denn am besten?“ „Sie fragen meine Kollegen an der Information. Direkt eine Etage tiefer. Soll ich Sie zum Aufzug bringen?“ „Danke, geht schon.“ Grinsend hält ihm der Pfleger noch die Zimmertür auf, dann überlässt er Wiktor seiner Mission.
Um den großen, halbrunden Tresen im Erdgeschoss ist es recht ruhig, als Wiktor aus dem Fahrstuhl schlappt. Sein Körper bewegt sich seltsam schwerfällig, obwohl er sich nicht müde fühlt. Nur erschöpft. Für alles andere brennen Sehnsucht und Angst viel zu sehr und treiben ihn voran.
Dankbar lehnt er sich gegen das hohe, helle Holz. „Cześć.”
Das leise Klackern der Tastatur hält inne. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich suche Adam Raczek. Er wurde vor ein paar Stunden eingeliefert.“ Die Stimme wird nicht unfreundlich, nur wachsamer. „Und wer fragt?“ „Ich bin…“ der Lebensgefährte! „sein Teampartner.“ Er verbirgt das Zittern seiner Hände, indem er seinen Dienstausweis aus der Tasche der Trainingsjacke fischt und ihn über die schmale Barriere reicht. „Wir waren zusammen im Einsatz, als… das alles passiert ist.“ Ihr Blick wandert von der kleinen Chipkarte langsam über seine frischen Verbände. „Kleinen Augenblick.“ Sie reicht ihm die Karte zurück und klickt ein paar Mal mit der Maus. Notiert etwas und schiebt dann einen kleinen gefalteten Zettel über die Holzplatte. „Melden Sie sich bitte nochmal bei den Kollegen auf dem Etagenzimmer. Die müssen Sie rein lassen.“ „Dziękuję.“
Seine Finger zittern wieder oder immer noch, als er im Fahrstuhl einen Knopf drückt, dessen Plakette neben der Etagennummer auch eine Abkürzung zeigt - OIT*
In der Stille des verspiegelten Raumes mit dem Geländer auf halber Höhe stellt ihm sein Spiegelbild die Frage, warum er nicht auch gleich nach Vincent gefragt hat. Immerhin will er sie genauso dringend sehen wie Adam, auch, wenn es ihr hoffentlich wesentlich besser geht. Er verspricht sich selbst, nach Vincent zu suchen, unbedingt gleich nachdem er Adam gefunden hat. Sie will sicher auch wissen, wies ihm geht. Der Gedanke, dass sie vielleicht gerade aneinander vorbei laufen, weil sie sich in der riesigen Klinik gegenseitig suchen, zeichnet kurz ein Lächeln in sein erschöpftes Gesicht. Dann hält der Fahrstuhl mit einem freundlichen Klingen.
In einer Nische im ausgestorbenen Flur begrüßt Wiktor wieder ein Tresen. Ein leises Gespräch wabert ihm entgegen, dass sich unterbricht, als er grüßt und den Zettel mit der Zimmernummer über den Tresen schiebt. „Zu Herrn Raczek?“ Wiktor nickt. Der junge Mann zögert, sieht sich nach einer Kollegin um, die hinter ihm einige Aktenordner in ein Regal sortiert. An ihrem Handgelenk blitzt ein kleines Tattoo. Ein Herz, durchzogen von einem Unendlichkeitszeichen. Sie scheint den Hilferuf ihres Kollegen nicht zu bemerken, also versucht der es allein: „Tut mir leid, ich kann Sie nicht zu ihm lassen.“ „Aber…“ Der Blick des Pflegers bleibt zwar freundlich, aber abweisend und wieder ist es Scham, die Wiktors Stimme abschneidet. Sein Herz zieht frustriert und drängt diesmal mutig gegen seine Rippen. Wiktor räuspert sich: „Ich bin sein Partner!“ Er streckt die Schultern und hebt die Brust, will sich dem Zittern der Angst nicht beugen. Der Pfleger hebt die Augenbrauen und klingt noch etwas hilfloser als zuvor. „Also… sein Partner ist schon da…“
Ein Hüpfer seines Herzens, nur ganz klein.
Über den akribisch gestylten dunklen Schopf trifft Wiktor schließlich der Blick der Kollegin. Sie mustert ihn kurz, dann tritt sie heran und unterbricht den zögerlichen Protestversuch. „Links den Gang runter, das mittlere Zimmer auf der rechten Seite.“ Ihr Tattoo verschwindet wieder unterm Ärmel, als sie einen kleinen Schalter auf dem Schreibtisch drückt. Die schwere Doppeltür neben dem Tresen summt. „Danke.“ Sie blinzelt ihm zu. Erleichterung leitet seine Schritte, als die breiten Flügeltüren vor ihm aufschwingen.
Der linke Gang ist nicht lang und schon an der Ecke entdeckt Wiktor jemanden in Uniform auf einem Stuhl neben der mittleren Tür. „Cześć, Wiktor. Dobrze cię widzieć.“ Hey, Wiktor, gut dich zu sehen. „Cześć Pawel. Danke, dass du aufpasst.“ „Na selbstverständlich.“ Sein Handschlag ist wirklich erleichtert. Er klopft Wiktor leicht auf die Schulter, dann setzt er sich wieder. Und versucht, den sorgenvollen Blick zu verbergen.
Angst bremst Wiktors Griff um die Klinke. Angst vor dem, was er gleich sehen wird. Er atmet tief durch, zählt bis fünf. Es kann eigentlich nicht mehr schlimmer werden als im Wald. Leise öffnet er die Tür.
Das dämmrige Halbdunkel versinkt im Chor rhythmischer Laute verschiedener Geräte, die sich um das Bett drängen. Das technische Flüstern macht die Luft mächtig und schwer. Winzig kommt man sich da vor. Im stillen Weiß von Bettwäsche und Verbänden sieht er verloren aus. Adam. Hüllt sich in Stille, die so fremd für ihn ist. Eine Linie auf einem der viel zu vielen Monitore schlägt regelmäßig aus. Klein sind sie, diese Zacken. Viel zu zart. Und ein mechanisches Ächzen erfüllt den Raum, wie es sein Schnarchen tun sollte. Ein dünner Schlauch hält seine Lippen leicht geöffnet, die Haut unterm Bartschatten violett und grün und dunkel angelaufen. Über seinen geschlossenen Augen durchzieht langer, dunkelroter Schorf seine Augenbraue; verliert sich im dunklen Haar. Kaum zu erkennen, wie weit die weiße Bettdecke seine verbundene Brust bedeckt.
Sein rechter Arm ist dick vergippst bis zu den Fingerspitzen. Die linke Hand ruht auf seinem Bauch. Schlanke Finger sind drunter geschlüpft, umschließen seine sanft. Der Schmerz in Wiktors Herz wird ein wenig leichter.
Dunkle Locken liegen weich auf der weißen Wäsche. Zumindest die, die nicht von dem dünnen Netz des weißen Verbandes eingefangen werden. Tiefe Atemzüge bewegen Vincents Schultern leicht, ihr Gesicht bleibt halb verborgen von Adams Körper und doch ließt Wiktor Anspannung hinter geschlossenen Augen.
Das leise Klappern des Desinfektionsspenders neben der Tür weckt ihn nicht; fällt in der traurigen Symphonie der Maschinen wahrscheinlich nicht auf. Umständlich verteilt Wiktor die scharf riechende Flüssigkeit zwischen seinen Fingern. Dann zieht er leise einen kleinen Rollhocker neben Vincent. Feine Gänsehaut fließt von ihren Schultern über die Arme und den Rücken runter, zwischen den gekreuzten Trägern aus feinem Stoff. Wiktors Herz zieht. Leise streift er die Jacke ab und legt sie behutsam über die kühle Haut. Vincent zuckt aus dem Schlaf, noch bevor Wiktor sanft seine Schulter streichelt. Die Schärfe im dunklen Blaugrün bleibt eine Sekunde, bevor sie in Erschöpfung verblasst.
„Wikusz“, sein Flüstern spricht von Schuld und Erleichterung. Sofort richtet sie sich auf und zieht ihn an sich. Instinktiv schmiegt er sich an, so gut es im Sitzen eben geht. „Die wollten mich nich zu dir lassen.“ Leises Schluchzen warm und dumpf an Wiktors Schulter. „Keine Verwandtschaft…“ Er vergräbt die Nase an ihrem Hals; versucht das Zittern mit Streicheln zu beruhigen. „Und ich wusst’ nich“, das kehlige Flüstern überschlägt sich fast und auch Wiktors Murmeln kann es nicht stoppen. „Schhhh, hey, już dobrze…“ Alles ist gut. „Obs okay für dich is, wenn ich sage, dass wir Partner sind…“ Das weiß er selber nicht, ob das vorhin für ihn okay gewesen wäre. Aber jetzt ist es egal. Er zieht Vincent noch mehr an sich, will ihn nicht loslassen. „Jetzt habe ich euch ja gefunden…“ Beim Nicken kitzeln die Locken und doch sickern ein paar heiße Tränen auf seine Haut. „Mir gehts gut…“, flüstert er gegen ihren Hals; spürt, wie ihre Finger in den Saum seiner Hose krallen. Wiktor drückt die Nasenspitze sanft gegen ihre Schulter, nimmt hin, dass auch ihm Tränen über die Wangen rollen. Akzeptiert, dass er keine Worte hat, die der geliebten Stimme dieses tiefe Leid nehmen könnten. Spürt nur für eine kleine Weile nach, wie das Beben ihrer Schultern unter seinem Arm in leichten Wellen irgendwann abebbt. Und stimmt ein in Vincents immer tieferes Atmen, während sich Dunkelheit um sie legt. Und Adam so herzzerreißend still neben ihnen bleibt.
Mit jedem Atemzug sickern Ruhe und Fassung in Vincents Körper zurück. Schließlich streichelt er behutsam Wiktors Flanke rauf, während er sich langsam löst und die Stirn an seine legt.
Wie ein dünnes Netz fühlt der Verband sich an. So fremd.
„Is dir nich kalt?“ Da ist wieder Kraft im sanften Flüstern. Und ein Lächeln.
Wiktor schüttelt leicht den Kopf, was wieder Schwindel wie einen Stich durch seinen Kopf zucken lässt. Das eklige Gefühl legt sich in dem warmen Glühen in seiner Brust, als Vincent seine Wange vorsichtig in ihre Hand bettet. Seufzend lehnt er sich in die Berührung und spürt den prüfenden, sorgenvollen Blick auf der Haut schon bevor er ihn sieht.
Einen Moment sehen sie einander nur an. Versuchen, zu begreifen.
Der dünne Verband auf den Locken soll den Druck auf dem linken Ohr erhalten. Dunkle Schatten lauern unter den funkelnden Augen. Und das Jochbein rechts sieht Adams Kiefer sehr ähnlich. Erschöpfung und Sorge zeichnen ihre Miene, aber zum Glück kein Blut mehr wie im Wald. Als Wiktors Blick am Ohr hängen bleibt, murmelt Vincent: „Halb so wild. Leichte Verbrennungen aber das war nicht mal n richtiger Streifschuss.“ „Dafür hat es aber ziemlich geblutet…“ Sie sah furchtbar aus, so viel Blut überall in den Locken und am Hals runter. Jetzt sind da nur noch dunkle Flecken auf dem Träger, der unter Wiktors Jacke hervorguckt. Er blinzelt die Erinnerung fort und konzentriert sich auf ihr mildes Lächeln. „Nich so doll wie beim Piercen damals…“ Er will ihm keine Sorgen bereiten, schon klar. Wieder so etwas, das sie alle drei gemeinsam haben und immer wieder versuchen, es sich gegenseitig abzugewöhnen. „Versprochen?“ Er nickt: „Obiecuje.“
Wohlig schmiegt sein Herz sich an das Wort; wie immer, wenn Vincent Polnisch spricht. Wiktor dreht den Kopf, bis er mit den Lippen sanft über ihre Handfläche streichen kann. Es genügt ihm, denn im Moment hat die Sorge um Vincent auch schon keine Kraft mehr, jetzt, da sie einander wiederhaben. Vincent streicht mit dem Daumen über seine Wange, dann wandern seine Finger behutsam über die Schlinge bis zu seinen Fingerspitzen. „Und du?“ Sein Blick bleibt kurz an dem Zugang im Handrücken hängen. Wiktor antwortet so unaufgeregt wie sie eben. „Glück gehabt. Sie haben die Kugel schnell gefunden und gebrochen ist nichts, nur zwei Muskelrisse.“ Leise zieht Vincent die Luft durch die Zähne. „Wird schon wieder.“ In ihrem Nicken findet Wiktor sein eigenes Zögern von eben wieder. Doch sie sagt nichts weiter dazu, als ihr Blick seinem folgt. Zu ihrer anderen Hand, die noch immer Adams hält.
Die Angst vor den Antworten ist zu schwach geworden, um die Fragen länger zurückzuhalten. Der Schmerz lässt sich nicht ändern, also warum noch weiter zögern? Sie waren lange genug in den Klauen der Ungewissheit gefangen.
„Co wiemy?“ Was wissen wir?
Vincent schluckt die Tränen herunter, deren Anpirschen er nicht bemerkt hat. „Sie… haben mir nicht viel erzählt. Nur, dass er viele schwere Verletzungen hat, deshalb war die OP kompliziert. Und sie mussten ihn ins Koma versetzen, bevor sein Körper das von alleine macht. Aber sie wissen nich, obs dafür schon zu spät war.“ Wiktors Finger zittern, als sie sich sanft um seine und Adams legen. Der Schmerz in seinem Blick sticht tief, als auch er erkennt, wie kühl Adams Hand ist. Adam hat nie kalte Hände. „Weißt du, warum genau?“ „Sie hoffen, dass sein Körper so ne Chance kriegt, zu gewinnen. Wenn er die Nacht schafft…“
Die blauen Augen werden glasig, als Wiktor nur stumm nicken kann.
„Mehr konnten sie nicht sagen. Und selbst darum musste ich kurz streiten.“ „Was meinst du?“ „Als ich selber aus der Behandlung raus war, wollte mir erst keiner sagen, ob ihr überhaupt auch hier seid. Das mit der OP hab ich an der Info erst mit Dienstausweis erfahren und als sie dann endlich ne Zimmernummer wussten, wollten sie mich hier auch erst nich rein lassen. Ich hab dann gesagt, dass wir zusammen sind und dann durfte ich zu ihm.“ „Weißt du, dass Karol hier war?“ „Und bei dir hab ich auch nur erfahren, dass du operiert werden musst und – Wann?“ Wiktor hebt die Schulter. „Kurz bevor ich hier war. Er meinte, er durfte nicht zu dir.“ „Da muss ich schon hier gewesen sein. Vielleicht deswegen…“ „Vielleicht…“ Vincent betrachtet ihn. Irgendwas ist da zwischen den Zeilen. Aber Wiktor geht nicht weiter darauf ein und ihn zu drängen, bringt nichts. Er betrachtet Adams schlafendes Gesicht und streichelt abwesend über ihre Hände. Dabei gleitet sein kleiner Finger zwischen ihre Handflächen und streift feine Kettenglieder. Überrascht hebt er die Augenbrauen.
Vorsichtig zieht Vincent nun doch die Hand zurück und öffnet die Finger. „Lag auf dem Nachttisch. Die Schwester sagt, sie mussten sie ihm vor der OP aus der Hand nehmen. Er wollte nich loslassen, obwohl er nen gebrochenen Daumen hat, nich mal bewusstlos.“
So wie Wiktor guckt, war ihm die Kette im Wald auch nicht aufgefallen. Vorsichtig streift er mit dem Daumen das Bisschen dünner Kruste vom Gold. Nur einer von mehreren Blutflecken; auch in der Kette hat sich was verfangen. Adams Blut auf einem Teil seiner Selbst. Diese zufällige Tatsache nicht als eine Art böses Omen zu sehen, ist auf einmal gar nicht mehr so einfach.
Langsam schweben die feinen Goldglieder nach oben, bis sie auch den Ring aus ihrer Handfläche lösen. Scharfes Kribbeln im Nacken. Sie könnte Wiktor aufhalten. Aber will sie das? Mit einer Hand nicht minder geschickt als sonst, schließt er schließlich den feinen Verschluss auf Vincents Haut.
Als suche er gezielt nach seinem rechtmäßigen Platz, gleitet der Ring unter den Ausschnitt des Kleides und kommt warm auf ihrer Brust zur Ruhe. Vertreibt ein physisches Gefühl von Leere, das die letzten Tage immer mehr oder weniger präsent war. Und sich immer noch nicht vollständig vertreiben lässt. Noch immer… fehlt etwas. Denn noch immer bleibt etwas, das einfach nicht richtig ist.
Adams Finger bleiben so scheiß reglos. Liegen einfach auf der Bettwäsche, ein bisschen abgeknickt zwischen seinem Körper und der Bettkante. Er würde sich so nie wohlfühlen. Aber das merkt er ja gerade nicht.
Wiktor streckt die Hand gleichzeitig mit ihr aus, um diese unbequeme Haltung zu ändern. Vincent bettet ihrer beider Hände in seine, haucht einen Kuss darauf. Wiktors warm an seinen Lippen, Adams so verdammt kalt. Wenn die Maschinen keine deutlicher Beweis für seinen Herzschlag und eine unnachgiebige Hilfe zum Atmen wären…
Verzweifelter Wutschmerz gräbt die Klauen in sein Herz, zieht ihren ganzen Körper zusammen und kann sich nur fort atmen lassen, denn wohin sonst damit?
Wiktor legt den Kopf auf ihre Schulter, seine Knie drücken sanft gegen Vincents Beine. Und irgendwie hilft das. Wenn sie vielleicht gar nicht mal so tief in ihrem Gedächtnis graben würde, könnte er sich das sicher auch wieder erklären. Will er jetzt aber nicht. Er will nur Wiktors Haar weich an der Wange spüren und ihre Hände in seinen.
Worte bleiben ihnen fern, wagen sich nicht durch die tiefen Gedankenkreise, die in dröhnendem Schweigen jeden für sich gefangen halten. Erschöpfung legt sich schwer um sie und die Klauen ziehen sich ein wenig aus Vincents Herzen zurück, weil sie beisammen sind. Wenigstens das. Wiktor summt leise eine Weile. Die Melodie vibriert leicht gegen ihre Schulter. Und wieder mal sind ihre Stimmen nur zu zweit, wo sie eigentlich zu dritt sein sollten. Trotzdem werden Vincents Augenlider allmählich schwer.
Als Wiktor blinzelt, ist die Nacht durchzogen von kleinen Lichtern der Maschine. Vom sanften Flimmern der Monitore. Vincents Schulter ist warm an seiner Wange. Ihr Daumen streicht über seinen Handrücken. Adams Finger sind kühl unter seinen. Sein Nacken zieht ein bisschen, als er den Kopf hebt und Vincent ansieht. „Is was passiert?“ Sie schüttelt stumm den Kopf. Erleichterung und Enttäuschung sind sich wieder uneinig. Es geht Adam nicht schlechter. Aber eben auch nicht besser.
Vincent schält sich aus seiner Jacke und hilft ihm hinein, bevor Wiktor klar geworden ist, dass er friert. Sie streckt die Arme über den Kopf und dehnt sich kurz, dann finden seine Hände von allein wieder zurück. Der Blaugrüne Blick bleibt tieftraurig auf Adams Gesicht liegen. „Ich will ihn nich alleine lassen…“, flüstert er auf die Frage, die unausgesprochen in der Luft lag und eigentlich keine ist. Wiktor schüttelt zustimmend den Kopf.
Sachtes Klopfen an der Zimmertür unterbricht seine Gedanken.
Ohne Antwort neigt sich die Klinke herunter und auf leisen Sohlen huscht die junge Frau mit dem Tattoo am Handgelenk rein. Wiktor gewinnt gegen den Instinkt, Adam loszulassen und von Vincent abzurücken. Das milde Lächeln vertreibt sie nicht von ihren Plätzen. „Ist das nicht etwas unbequem?“, murmelt sie sanft, bevor sie mit leisen, geübten Handgriffen die Geräte und Adams Verbände überprüft. Statt einer Antwort steht nur die selbe Frage in ihrer beider Blick, denn sie flüstert nach einem Augenblick: „Es geht ihm unverändert. Alles andere weiß er nur selbst.“
Vincent schluckt gegen die Enge, die auch Wiktor im Hals spürt. „Was, wenn er die Nacht nicht schafft?“ Das sanfte Lächeln bleibt voller Verständnis und nach kurzem Zögern nickt sie schließlich und zaubert aus einem schmalen Schrank in der Ecke eine dünne, weiße Decke hervor. „Dann werden Sie bei ihm sein.“ Ihre Schritte sind leise um Adams Bett herum. Vincent nimmt den weichen Stoff entgegen. „Kann er uns eigentlich hören?“ „Das weiß man nie so genau. Aber es schadet nicht, wenn Sie ihm zeigen, dass sie da sind.“ „Dziękuję.“ Leise öffnet sie die Tür. „Dobranoc.“ Die Decke ist groß genug für sie beide, als sie sich aneinander kuscheln. Vorsichtig legt Wiktor das Kinn aufs Bett; spürt die Locken weich an seiner Wange. Die Nacht verspricht sehr lang zu werden.
Die Tage fließen ineinander. In der Klinik, in ihren Wohnungen, im Büro, überall.
Adam bleibt still.
Ihre eigene Heilung fließt an ihnen vorbei; die unterliegende stumpfe Leere bleibt auch als Wiktor und Vincent nach ein paar Tagen entlassen werden. Zu Besuch zu sein, ändert kaum etwas. Nur nachts dürfen sie nun nicht mehr bleiben. Zuhause ist es kalt und leer. Bei ihr, bei ihm, bei Adam. Jeden Abend wieder sitzt der kalte Schlangenleib auf Vincents Schultern. Jeden Abend piesackt sie der Gedanke, dass Adam in diesem Moment aufgeben muss. Jeden Abend zieht sich Wiktors Herz vor Schuld und Angst zusammen. Weiterhin nagt die Ungewissheit, frisst sich gnadenlos durch ihre Herzen. Zwischen ihnen bleibt es oft still, denn es gibt keine Worte mehr für all das. Doch in jedem Blick, in jeder flüchtigen und jeder bewussten Berührung liegt tiefes Verständnis. Fürs Schweigen, für das Starren ins Nichts, für Tränen, für die Wut und fürs Vermissen. Und das Versprechen, einander beizustehen. In Angst, in Hoffnung, in Sehnsucht, in Frust.
Wie naiv sie doch waren, zu glauben, all das wäre endlich vorbei, sobald Adam wieder auftaucht. Er ist da und doch ist er es nicht. Sie haben ihn immer noch nicht wieder. Er bleibt fern, fehlt noch immer jedes Mal, wenn sie zu zweit viel zu viel Platz im Bett haben. Am Tisch in der Küche. Auf der anderen Seite hinter Vincents Bildschirm im Büro. Diese Wunde in ihrem Leben klafft noch immer weit offen. Und niemand weiß, ob sie je heilen kann.
Nichts hat sich geändert. Ihre Angst hat sich nur ein neues Gesicht gegeben. Behält den Würgegriff um ihren Alltag, ihr Leben und ihren Schlaf. Hält diesen Schleier zwischen sie und die Welt, der sie kaum noch Teil davon sein lässt. Nur Vincents Hand ist es, die Wiktor durch den Schleier erreicht. Wiktors Stimme, die durch dröhnende Gedanken brechen kann und Vincent erinnert, dass sie einander haben. Dass sie jeden Tag gemeinsam kämpfen und nur gemeinsam gewinnen können. Oder verlieren. Gemeinsam abwarten müssen.
Gedankenverloren sortiert Vincent die Unterlagen auf dem Schreibtisch; ignoriert Pawlaks Blick, bis sie sein resignierendes Seufzen hört. Sie weiß, dass sie mit Krankschreibung nicht ins Büro gehört. Aber alles andere macht nur wahnsinnig.
Wie diese Anflüge von Hoffnung, die sie dazu bewegt, Adams Wohnung auf seine Rückkehr vorzubereiten. Nur damit es sich dann wieder vergebens anfühlt, wenn sie bis abends an seinem Bett sitzen und nicht mal wissen, ob er sie überhaupt hören kann. Seine körperlichen Wunden heilen zwar, sein Allgemeinzustand bessert sich nicht ausreichend, als dass man ein Aufwachen initiieren könne. So hieß es gestern noch. Und zwei Tage vorher auch. Und letzte Woche. Und– Der Tacker knirscht widerwillig unter seinen Fingern. Sie legt ihn weg und schiebt den Papierstapel in einen Pappordner. Eigentlich arbeiten Wiktor und sie ja auch gar nicht. Marian schaut nur nach Wiktors Arm und Vincent wartet auf Edyta. Er will wissen, wie es Speedy geht. Aber die Unordnung hier auf dem Schreibtisch muss ja auch nich sein. Sie lässt den Blick durchs Büro schweifen; vielleicht kann es den Gedankensturm abmildern.
Im Gegensatz zu seiner und Wiktors Realität hat sich die Stimmung hier verändert. Ist fröhlicher. Als solle manifestiert werden, dass es Adam bald besser gehen wird. Nicht mehr getrieben von Angst und der Zeit, die ihnen im Nacken sitzt. So… zuversichtlich.
Dieses fiese Stechen im Herzen, dass er das nicht teilen kann. Sie wissen alle nicht, wie schlimm Adam aussieht. Verstehen nicht, was dieser Zustand bedeutet. Und deswegen schnürt ihnen die Angst nicht die Kehle zu. Sie wissen nicht, dass noch nichts gewonnen ist. Dass Wiktor und er alles noch verlieren können.
Seine Beine zittern. Der Stuhl fängt ihn auf, bevor es den anderen auffallen kann.
Solche Gedanken fühlen sich nach Verrat an. Gerade er darf Adam doch nicht jetzt schon aufgeben. Aber… woher soll sie denn andere nehmen? Alles spricht gegen ihr Glück. Und vielleicht wird der Moment dann leichter, wenn er sich jetzt schon damit beschäftigt?
Tief durchatmen.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Einatmen. Und wieder aus.
Die Tür geht auf und vor Edytas dunklen Absatzschuhen klingt das leise Tappsen von vier Pfoten übers Parkett. Sofort werden sanfte, erfreute Stimmen laut und können einen Hauch ihrer Leichtigkeit auf Vincent übertragen, während er die Begrüßung beobachtet.
Er steht auf und noch bevor sie die Tür erreicht, drängen sich die pelzigen Schultern zwischen seine Waden. Der ganze Hund wackelt vor Freude. Wieder hockt er sich hin und streicht mit beiden Händen kräftig durch das gefleckte Fell. Spürt mehrere Narben zwischen den kurzen, weichen Haaren. Edyta lächelt auf sie herunter und zieht Vincent schließlich wieder auf die Beine, bevor sie ihn umarmt. „Dziękuję“, flüstert er. Was anderes braucht es nicht. Er spürt Edytas Nicken an der Schulter bevor sie sich wieder von ihm löst. „Wie schlimm wars?“ Edyta winkt leicht ab. „Ein paar Bisse hat sie abbekommen. Aber Speedy ist hart im Nehmen. Am Hals und einmal am Bein mussten genäht werden und sie bekommt noch Antibiotika, aber das ist alles.“
Die Hündin tappt zu ihrer Decke unter Wolles Schreibtisch und holt sich auch dort eine Portion Streicheleinheiten ab. Als sie aufsieht, entdeckt Vincent den langen Schlitz im linken Ohr. Wolle kichert: „Jetzt müssen wir ja aufpassen, dass wir euch beide nich verwechseln.“ Gegen das kleine Lachen kann Vincent sich dann doch nicht wehren. „Wir können uns ja Namensschilder auf die Stirn kleben.“ Speedy schnaubt und steht wieder auf, um sich zu schütteln. Edyta grinst von der anderen Seite der Schreibtische: „Oder wir geben uns einfach mehr Mühe.“
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch zurück, unterdrückt Vincent das plötzliche Bedürfnis, sich das heilende Ohr zu kratzen. Immerhin lässt sich das Jucken meistens gut ignorieren. Speedy folgt ihm nach einem Moment und bleibt dann kurz vor Adams leerem Platz sitzen. Sie winselt leise, dann tappt sie neben Vincents Stuhl und drückt den Rücken gegen seine Finger. „Ich weiß. Tut mir leid, Kleines…“ Brummelnd legt sie sich neben seinen Stuhl. Seufzend krault er weiter und betrachtet die Unterlagen genauer. Zwischen anderen Dokumenten finden sich auf Kopien von Adams Verletzungsprotokoll. Nichts davon ist Vincent neu, nur diesmal weckt es wieder diese lodernde Wut auf Tanja Doroshenko. Wie so viele Dinge in letzter Zeit.
Wie jeden Tag hat Wiktor auch heute vor allem eins getan: die Stunden gezählt, bis er endlich pünktlich zur Besuchszeit durch die große Schiebetür tritt und mittlerweile nur noch mit einem grüßenden Nicken bedacht wird, wenn er an dem großen, runden Tresen vorbei zum Fahrstuhl geht. Und jedes Mal wieder an der Türklinke zögert, bevor der Kampf zwischen Erleichterung und Enttäuschung wieder losgeht, wenn sich nichts geändert hat. Wenn Adam und sein Zimmer aussehen, als seien nur Sekunden vergangen. Und das mittlerweile vertraute Stechen im Herzen, wenn seine Finger wieder nur kühl in Wiktors Handfläche gleiten.
Neben dem Licht im Zimmer ändern sich sonst nur die Worte, denn trotz des Schleiers gibt es doch jeden Tag etwas anderes zu erzählen. Weil es Adam hoffentlich zeigt, dass sie da sind. Weil Schweigen mit Adam noch viel mehr wehtut. Mehr als bei jedem Wort vergeblich auf eine Regung in dem geliebten Gesicht zu warten. „Edyta hat Speedy heute wieder mitgebracht. Es geht ihr gut, sie hat jetzt nur ein paar Narben.“ Wiktor muss lächeln bei der Erinnerung. „Aber das stört sie nicht, sagt Edyta. Und ich glaube, die anderen finden das alle ziemlich cool, dass sie jetzt so verwegen aussieht. Wegen dem Schlitz im Ohr.“ Es kommt kein schiefes Grinsen, kein alberner Vorschlag, der Hündin einen neuen Spitznahmen zu geben. Es kommt gar nichts. Nur kühle, reglose Stille. Wiktor atmet die Traurigkeit weg. Er wüsste gern, wie Adam auf Vincents neue Narbe am Ohr reagiert, denn tatsächlich sieht das Speedy nun fast ähnlich. Sobald der Wundschorf richtig abgeheilt ist, sieht der Schlitz wahrscheinlich sogar wie eine modische Entscheidung aus. Immerhin sitzt er fast auf der selben Höhe wie das Helix auf der anderen Seite. Wiktor schluckt und schafft es kaum, die bösartige Stimme im Hinterkopf abzuschütteln, die ihm einredet, dass Adam das gar nicht mehr mitbekommen wird. Er legt die andere Hand über Adams, um sie ein bisschen zu wärmen.
„Vince kommt dann auch bald. Pawlak mags nicht, dass wir im Büro sind aber ich glaube, er weiß, dass sie gar nich anders kann. Außerdem gehts ihr ja soweit gut. Ich komm mit meinem Arm noch nich so richtig klar aber bisschen Papierkram geht auch.“
Kein schnaubendes Kopfschütteln, kein mildes Lächeln. Nicht mal Adams Augenlider zucken. Er gibt Wiktor keinen Rat, den er selber kaum befolgen könnte. Muss bei dem Argument nicht lächelnd einlenken und er nimmt dabei auch nicht Wiktors Hand, um einen Kuss darauf zu hauchen. Wie kann man etwas so sehr vermissen, das man noch gar nicht lange in seinem Leben hat? Zumindest im Vergleich. Diese kleinen Eigenarten, die sie sich einander so lange verboten haben. Jeder für sich, ohne es zu wissen. Soll das jetzt schon wieder vorbei sein? Vielleicht zur Strafe, weil sie sich Jahre lang belogen haben. Vielleicht wäre all das nicht passiert, wenn sie sich nicht so lange voreinander versteckt hätten. Obwohl es jeder Logik entbehrt, scheint es doch manchmal so, als sei Tanja Doroshenko nur ein Werkzeug des Schicksals. Früher hätte Wiktor es vielleicht Gott genannt.
Unwillig schüttelt er den Kopf, als ließen sich seine Gedanken nur dadurch in andere Richtungen lenken.
„Tanja ist endlich in U-Haft. Wollte sich absetzen, aber in Berlin haben sie sie noch am Flughafen erwischt. Das war hauptsächlich Alex’ Verdienst, ich soll dir liebe Grüße sagen. Sie kümmert sich jetzt auch weiterhin, wir dürfen ja immer noch nicht. Und offiziell ist das auch nich mehr unser Fall…“ Was ihm jetzt auch egal ist. Es geht ja nicht mehr darum, Adam zu finden. Und was Tanja betrifft… sie interessiert Wiktor in dieser Hinsicht nicht. Noch nicht, nicht jetzt. Er hat wichtigere Sorgen. Aber da ist auch diese Glut tief in seinem Inneren, die sich gnadenlos gegen Tanja richten wird, wenn Adam sterben sollte. Die blinde Wut, die sich noch im Hintergrund hält. Die nur lauert und nicht verrät, was sie aus ihm machen wird, sobald die Glut in ein Inferno entflammt.
Vincents tiefer Atemzug glüht ein letztes Mal orange auf hinter seinen Fingern. Er drückt die schwarze Kruste auf dunkles Glas, bevor er langsam die helle, zarte Wolke wieder in den feinen Nieselregen entlässt. Seine Finger zittern nicht mehr, als er den Filter in die frische Asche drückt. Aber sein Herz hat sich nicht beruhigt. Ein gemeiner Wind streicht über die wunde Haut am Ohr und treibt ihn dann doch zurück in Adams Wohnung. Die Balkontür klickt leise unter seinen Händen und das Glas kühlt kurz seine Stirn, hinter der die Gedanken wirbeln.
Um Tanja Doroshenko einer Strafe zuzuführen, die sich auch nur ansatzweise gerecht anfühlt, braucht es Beweise für alles, was sie Adam angetan hat. „Aber seine Verletzungen wurden dokumentiert, ist das nicht genug?“ Sie erinnert sich an die unterdrückte Wut in Pawlaks Blick, als er widerwillig den Kopf schüttelte. „Eine Aussage von Adam wäre das Beste…“ Das Unausgesprochene zog wieder den eiskalt glühenden Knoten in ihrem Bauch zusammen. Und beendete das Gespräch. Auf dem Heimweg drängte sich der aussichtslos trotzige Gedanke auf, dass sich vielleicht doch in Adams Wohnung noch versteckte Hinweise finden würden. Nur, worauf eigentlich? Dass er in eine Falle gelockt wurde? Vielleicht erpresst? Gestalked? Alles möglich, aber die Entführung und die Folter beweist das trotzdem nicht.
Und doch – vielleicht auch nur, um irgendwas zu tun – hat sie sich nochmal gründlich umgesehen. Ein bisschen Ordnung gemacht. Und im kleinen Regal am Schreibtisch in der Nische im Wohnzimmer bei den anderen wichtigen Unterlagen immer noch nicht gefunden, was sie sucht. Aber dafür was viel Schlimmeres.
Seine Finger beginnen wieder zu zittern, als er die dünne Mappe auf dem Schreibtisch betrachtet. Aus Reflex hat er sie eben sofort wieder zugeklappt, als ließe sich das Schriftstück so vergessen. Keine Chance, natürlich. Sogar durch die Balkontür hat es sie förmlich angeschrien. Es hilft nichts. Er kann dieses Wissen nicht alleine tragen. Und begreifen, was das bedeutet, erst recht nicht. Wiktor muss es erfahren. Er braucht ihn. Bevor sie die Mappe wieder öffnet, greift Vincent nach ihrem Handy.
Das rhythmische Vibrieren in der Hosentasche unterbricht Wiktors Gedanken. Er muss Adam loslassen, um das Handy herauszufischen. Aber nur solange, bis er den grünen Button zur Mitte geschoben und sich das Gerät zwischen Ohr und Schulter geklemmt hat. Es ist Vincent, das Gespräch sollte nicht so lange dauern, dass er Nackenprobleme bekommt. Bestimmt will sie nur sagen, wann sie da ist. „Serce, was gibt’s?“
Vincent schluckt schwer und trotzdem verschwimmen die Buchstaben vor seinen Augen ein wenig. „Ich… ich hab was gefunden.“
Wiktors Lächeln erlischt beim belegten Klang ihrer Stimme. „Was gefunden?“
„Im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten beschließe ich – Adam Raczek, geboren am 31.August 1976 –, dass ich keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünsche, sollte ich in einen Zustand geraten, in dem mein Körper nicht mehr allein lebensfähig ist. Diese Verfügung soll gelten, für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann, auch, wenn noch kein unmittelbarer Sterbeprozess begonnen hat und/oder der konkrete Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Es ist dabei irrelevant, ob dieser Zustand als Folge eines Unfalls, einer einzelnen Erkrankung oder eines medizinisch indizierten sogenannten Künstlichen Komas auftritt.“
Tränen landen auf der Klarsichtfolie.
Das Streicheln über kühlen Fingern erstarrt. Adams regloses Gesicht verschwimmt mit jedem gepresst zitierten Satz mehr. Die wenigen Sekunden eine stundenlanges Martyrium.
Bebend sucht Wiktor nach Worten, als Vincent verstummt: „Ich… ich wusste nicht, dass er…“, ein tiefer Instinkt hindert ihn daran, das Wort Patientenverfügung in diesem Zimmer auszusprechen, „dass er sowas hat.“
„Ich auch nich. Aber ich habs gerade gefunden.“
„Seit wann?“ Wiktor muss schlucken.
„Laut Datum knapp vier Jahre…“
Eiskalte Schauer zucken über Wiktors Rücken. Er weiß genau, wann das war. Diese Zeit war Adams absoluter Tiefpunkt und er selbst hat sich ewig nicht getraut, damals auf ihn zuzugehen. Schuld frisst sich in sein Herz. Vorsichtig drückt er Adams Hand. Hofft verzweifelt, dass er es spürt. Wie sehr es ihm leid tut.
„A teraz?“ Und jetzt? Eigentlich unmöglich, dass Vincent sein Flüstern durchs Telefon hört.
„Ich bin aufm Weg zu euch!“ Im Hintergrund klirrt der Wohnungsschlüssel. Wiktor kann Vincents Schritte plötzlich hören, als er die Schuhe anhat.
„Kocham cię.“ Ich hab dich lieb.
„Ja ciebie też. Już idę, serce!” Ich dich auch. Ich bin gleich da!
Langsam rutscht das Handy von seiner Schulter in den Schoß. Adams Finger bleiben kühl an Wiktors Lippen, bevor die weiße Bettwäsche seine Tränen auffängt.
Die dünne Mappe im Stoffbeutel zieht tonnenschwer an Vincents Schultern, als er durch die Klinik eilt. Der Mantelsaum flattert gegen ihre Beine, als wolle er sie noch schneller zu Wiktor und Adam treiben. Niemand hält sie auf; er ist hier mittlerweile bekannt. Viel zu oft gesehen.
Sein Herz krampft, als er Wiktor über Adam weinen sieht und für eine Sekunde erzählt ihm die Angst, dass er in all der Aufregung nun doch endgültig zu spät kommt.
Aber die Geräte piepsen und schnaufen. Wie immer, denn die Tage sind eine Ewigkeit. Und Adam hat sich nicht verändert.
Leise landet der Stoffbeutel auf dem Boden neben Adams Bett, als Vincent die Arme um Wiktor legt und das Gesicht sanft in seinem Haar vergräbt. Mit einer Hand findet sie die der anderen. Und jetzt erst kann sich sein Herzschlag wieder beruhigen. Er ist nicht zu spät, es ist nichts passiert. Die Welt ist nicht ohne ihn zusammengebrochen. Er atmet tief ein; den vertrauten Duft des Shampoos. Langsam sickern die Tränen in feine rotblonde Strähnen, während Adams Körper das Schluchzen dämpft. Vincent verliert sich in Adams reglosem Gesicht. Und sie ist sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er nicht doch viel mehr gequält als friedlich aussieht. Schuld hüllt ihr Herz in einen Mantel aus Blei.
Wiktor gehen die Tränen aus. Als er sich langsam wieder aufrichtet und die Schultern an Vincents Brust schmiegt, formen sich die Fragen klar durch Angst und Schuld und Schmerz. Sanft drückt Vincent die Arme noch einmal um ihn, bevor er sich behutsam löst. Weiches Mitternachtsblau streichelt Wiktor, als sie den Mantel abstreift und über ihren Schoß legt, bevor er sich zu ihnen setzt. Ganz unwillkürlich greift Wiktor nach der Taschentuchbox auf dem kleinen Tisch neben dem Bett und hält sie Vincent hin, bevor er sich selber ein Tuch raus zupft. Gemeinsam atmen sie tief durch. Wiktor spürt, wie er Vincent nicht in die Augen sehen kann. Stattdessen fällt sein Blick auf den Stoffbeutel, der in Form einer Aktenmappe auf dem Boden liegt. Vincents Kinn sinkt zart auf seine Schulter, als er nach dem Grund für all diesen Schmerz greift und mit zitternden Fingern die Mappe öffnet.
Steht alles da. Schwarz auf weiß. Mit Adams Unterschrift und einer Beglaubigung. Die Worte kleiden sich in die Erinnerung an Vincents Stimme. „Warum hast du nichts gesagt?“ Er kann das Flüstern nicht unterdrücken.
Adam schweigt. Natürlich.
Vincent hebt den Kopf, auch ihr Blick sucht nach Antworten in stiller Gleichgültigkeit. „Vielleicht… wusst er nich… wie…“ Sie schluckt und ihr Flüstern wird etwas kräftiger. „Ich mein, es is kein Thema, über das wir regelmäßig sprechen. Was wir offensichtlich tun sollten…“
Mit einem Sturm an bitteren Messerstichen in Herz und Geist überfällt Wiktor die Schuld. Er muss aufstehen, kann Adam nicht mehr berühren; die beiden nicht ansehen. Er hat das alles zu verantworten. Dass die Bereiche, in denen bevollmächtigte Personen angegeben werden könnten, leer sind. Dass Adam ihnen nichts gesagt hat. Dass Vincent jetzt von Schmerz zerfressen wird.
„Ich bin Schuld“, gesteht er dem Regenschleier vorm Fenster gepresst.
„Was?“
„Ich hätte ihm damals schon zeigen müssen, dass ich ihm helfen will. Ich hätte ihm beweisen müssen, dass er nicht alleine ist. Ich hab ihm nicht gesagt, dass er mir genau so vertrauen kann, wie du. Ich bin Schuld, dass er diese Dokumente so ausgefüllt hat!“ Das Grau draußen wird stetig dunkler. „Ich wusste schon, dass er damals sterben wollte. Er hat es nie ausgesprochen aber es war so offensichtlich. Und trotzdem hab ichs nicht geschafft, auf ihn zu zu gehen. Ich war zu feige, weil ich immer noch Angst hatte, dass dabei rauskommt, was ich fühle.“
Vincents Schritte sind kaum hörbar; seine Nähe ein sanfter Überfall. Behutsam schließt er die Mappe und zieht sie Wiktor aus der Hand; ersetzt die Leere zwischen seinen Fingern mit ihren. Blinzelt langsam, besänftigend, als er zusammen zuckt. „Es war nichts falsch daran, dass du dein Herz beschützen wolltest.“ Die Worte warm auf Wiktors Wange, als sie die Stirn an seine legt. „Wie hättest du denn wissen sollen, dass er genauso fühlt? Wir konnten doch alle nicht ahnen, dass sich das alles mal zwischen uns entwickelt.“ „Aber wenn ichs ihm gesagt hätte, wüssten wir von… diesen Unterlagen. Und wir würden sogar drin stehen.“ „Wenn wir mal über all diese Dinge gesprochen hätten. Es war einfach noch nicht wieder Thema, dafür kannst du nichts.“ Die Bitterkeit will nicht von ihm ablassen. „Ich hätte dran denken müssen und–“ „Hör auf damit!“ In der Ruhe seiner Worte liegt so viel Kraft. „Kannst du dir bitte dafür verzeihen, auch nur ein Mensch zu sein? Und nicht in die Zukunft sehen zu können?“ Sie streicht mit der Nasenspitze zärtlich über seine. Wiktor schluckt. Bitterkeit ist es nicht mehr, nur Angst. „Kannst du mir verzeihen?“
Tränen stehen im bezaubernden Blaugrün. „Serce“, seufzt Vincent erstickt und zieht ihn fest an sich, webt die Finger sanft in sein Haar. Wiktor vergräbt das Gesicht an ihrem Hals, spürt, wie das Zittern aufkommt und schafft es, es zurückzudrängen. „ Dzięki…” Vorsichtig sieht er ihm in die Augen. Und spürt dem sanften Glühen nach, als er ihre Lippen zärtlich an der Stirn spürt. Und wie sie sich in seine Berührung schmiegt, als er ihr eine Träne von der Wange streicht. Gemeinsam atmen sie durch. Dann zieht ihn die Sehnsucht zu Adam zurück.
Diesmal greift Vincent zuerst nach Adams kühlen Fingern. Diesmal sticht die Schuld ohne Bitterkeit, aber sie lässt sich nicht vertreiben. „Wir müssen uns entscheiden…“ Auf einmal sind sie nicht mehr hilflos. Aber es fühlt sich in dieser Art nicht besser an, als alles vorher. Vincent nickt unwillig. „Wir machen uns strafbar, wenn wir das unterschlagen. Jetzt, da wir es wissen…“
„Außerdem wäre es wie… Verrat.“ Adam hatte seine Gründe, dieses Dokument zu schreiben. Die Frage ist nur: Dürfen sie sich auf seine Entscheidung verlassen, die fast vier Jahre her ist? Ihr Leben, sein Leben hat sich so sehr verändert seit dem. „Aber… will er das wirklich? Immer noch?“
In Vincents tiefem Durchatmen liegt so unendlich viel Last, dass es Wiktor im Herzen wehtut. Zögerlich flüstert sie dann doch: „Ich will das nich…“ „Ja też nie…“ Ich auch nich…
Es fühlt sich an wie Aufgeben. Und viel schlimmer noch; es verwehrt Adam jegliche Chance. Was, wenn sie seinen stillen Kampf einfach nur nicht sehen können? Vielleicht will er gewinnen und braucht nur mehr Zeit? Vielleicht sehnt er sich aber auch danach, endlich den Qualen zu entfliehen und schafft es nicht alleine. Ist es egoistisch, ihn hier zu halten? Einfach nur, damit er nicht endgültig weg wäre?
Der Wirbelsturm an Gedanken glüht im Kopf, drückt in stechendem Pochen in den Schläfen, laugt so sehr aus. Macht Herz und Kopf so unendlich schwer. Vincent senkt die Stirn aufs Bett, spürt Adams Flanke leicht am Kopf. Seine Haare verfangen sich zwischen ihren Fingern. Wiktor legt sanft den Arm um sie. Seine Erschöpfung so klar spürbar, wie ihre eigene. Ihre Lider werden immer schwerer. Und was solls, die paar Minuten mehr, bis sie Bescheid sagen? Ein paar Minuten noch Ruhe. Und Frieden. Ein paar Minuten noch zu dritt. Das darf nicht zu viel verlangt sein.
Ganz leicht streichen Wiktors Fingerspitzen durch die Locken. Vincent streichelt mit dem Daumen seine Hand. Wiktor streichelt beruhigend ihren Rücken.
Moment!
Kühle Finger bewegen sich zaghaft zwischen ihren. Vincent sieht auf.
Der grüne Blick ist dunkel und schläfrig im regnerischen Zwielicht. Langsames Blinzeln. Zersprengt den Bleischleier um Vincents Herz.
Das Piepsen im Raum wird kräftiger, schneller, regelmäßiger.
Wiktor steht auf. „Adas!“
„Kochanie!“
Ihr gemeinsames Flüstern bebt.
Adam greift schwach nach Vincents Streicheln. „Czy w końcu przegrałem?“ Hab ich endlich verloren?
Notes:
*Oddział intensywnej terapii – Intensivstation in Polen
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As usual, feel free to share thoughts if you want.
Chapter Text
„Gut, wenn Sie sich sicher sind – “ „Ich bin mir sicher.“ Sein Hals kratzt bei jedem Wort, der Kiefer spannt widerwillig aber nichts ist so unaushaltbar wie dieses ständige, latente Panikgefühl im ganzen Körper. Doktor Rotkiewicz gibt nach, aber nur mit tief zusammengezogenen Augenbrauen. „Ich bereite Ihre Unterlagen vor. Ohne Unterschrift komm Sie hier nicht raus, klar? Und ich will Sie zu regelmäßigen Kontrollen sehen, bis ich entscheide, dass es nicht mehr nötig ist.“ Adam nickt gehorsam. „Melden Sie sich in einer Viertelstunde am Empfang unten.“
Scharfes Stechen in den Lenden, als er sich zu schnell gedreht hat, raubt ihm die Kraft zu einer Antwort.
„Machen wir.“ Doktor Rotkiewicz nickt Vincent zu, dann verlässt sie das Zimmer.
Adam versucht, den Schmerz weg zu atmen; ignoriert wie seine Haut auf der Brust dabei spannt. Als er die Füße auf den kühlen Boden stellt, zittert das linke Bein wieder. Zweifel daran, ob sein Körper sich tragen kann. Eigentlich Quatsch, denn er darf das Knie schon lange wieder vorsichtig belasten; steht nicht zum ersten Mal wieder auf. Sonst hätte seine Entlassung gar nicht zur Debatte gestanden. Trotzdem… sein Körper wurde kaputt gespielt. Das Ziel war, ihn wirklich zu vernichten. Über kurz oder lang. Steht wirklich fest, dass sie das nicht geschafft haben soll? Dieser ätzende Selbstzweifel. Einfach Angst, ob er überhaupt noch irgendwas kann.
Die Matratze sinkt leicht ein, als Vincent sich neben ihn setzt.
Adam sieht sie nicht an; bekämpft das Bedürfnis, sich zu verstecken. So kaputt und widerlich wie er grade ist. Seit Wochen hat er nicht mehr richtig geduscht. Und jetzt, da Vincent ihn so sieht, wird sie merken, dass sie und Wiktor ohne ihn besser dran wären.
Keiner von beiden hat ihm den Kopf gewaschen für all diese Scheiße. Sie hätten allen Grund dazu. Aber wahrscheinlich kommt das noch. Hoffentlich. Es fühlt sich nicht richtig an, wie erleichtert und liebevoll sie mit ihm umgehen. Dass sie jeden Tag da waren – meistens sogar zusammen – und ihm regelmäßig frische Klamotten gebracht haben. Sogar ihre eigenen. Wo er es doch verdient hätte, seine Tage alleine zu verbringen. Nie wollte, dass sie ihn so schwach sehen müssen. Aber er hatte auch nicht den Mumm, sie abzuweisen. Denn feige wie er ist, sehnt er sich nach ihrer Nähe. Greift nach jedem Funken Zuneigung, den sie ihm geben, obwohl er nichts davon verdient.
Behutsam legt Vincent die Hand auf seinen Oberschenkel.
Adams Haut kribbelt warm unterm dicken Stoff der grauen Jogginghose. Eigentlich eine von Wiktor. Wo bleibt der überhaupt? Telefoniert schon ne Weile draußen.
Mit dem Daumen streicht Vincent sanft über den Stoff. Adam schafft es jetzt doch, ihn anzusehen. Das geliebte Spiel aus Blau und Grün, das sein Geist in all der endlosen Dunkelheit doch nie vergessen konnte. Sorge steht darin. Doch ihr Lächeln ist warm, macht ihm irgendwie Mut. Das Zittern im Bein hört auf.
„Ich würde dich wirklich gerne in den Arm nehmen, Kochanie.“ Ihre Stimme ist weicher als vorhin.
Mit sinkendem Blick schüttelt Adam den Kopf. Sein Körper ist ihm so fremd, wie Kleidung in der falschen Größe. Und einfach nur eklig.
„Okay.“ Kein Vorwurf, keine Enttäuschung, nur Verständnis in seinem Flüstern und doch zieht Adams Herz vor Schmerz, der nichts mit seinen Wunden darüber zu tun hat. Zögernd lehnt er die Schulter gegen Vincent. Will ihm irgendwie zeigen, dass er nicht sie ablehnt, sondern sich selbst. Ganz leicht lehnt sie dem Kopf an ihn; Adam spürt die Locken weich an der Schläfe.
„Ich will nachhause…“ Keine Ahnung, was er sonst sagen soll.
Vincent nickt leicht. Sie bietet ihm den Arm an und muss die Frage nicht aussprechen. Adam winkt ab und glaubt es sich auch.
Sein Knie protestiert nicht wirklich, dafür zieht die Bewegung scharf unter dem schweren Gips um Handgelenk und Ellenbogen, als sein Körper instinktiv nach Balance sucht. Aber er steht sicher auf seinen eigenen Beinen, schneller als befürchtet.
Die Tür geht auf und die tiefe Sorge auf Wiktors Gesicht weckt ein mulmiges Gefühl.
Und sein freudig überraschtes Lächeln, als er Adam sieht, kann das Gefühl nicht mildern. „Adas…“ Auch auf seine offenen Arme geht Adam nicht ein.
Denn auch Wiktor wollte er sowas immer ersparen. Aber er greift nach seiner Hand – die ohne Schiene – und verwebt ihre Finger miteinander.
„Alles in Ordnung?“ Vincent stellt die gepackte Sporttasche aufs Bett und nach einem kurzen Blick, den Adam mit einem Nicken beantwortet, packt sie sein Handy, die Grußkarte des Teams und das Buch vom Nachttisch noch dazu. Wiktor zögert, dann seufzt er: „Nicht so richtig… ich muss nochmal ins Präsidium und dann schaffe ich es vor der Physio nicht mehr mit nachhause.“ Vorsichtig hilft er Adam in die Jacke.
Zwischen dichten Augenbrauen taucht eine senkrechte Falte auf. „Warum?“
Wiktor hebt die gesunde Schulter. „Pawlak möchte mich sprechen, heute noch.“ „Ist was passiert?“ „Das hat er nicht gesagt.“
Während Adam sich in die Schuhe kämpft, tritt Vincent ums Bett herum und wie von allein legt Wiktor ihr den Arm um die Taille. Sie legt die Stirn an seine. Adams Herz kribbelt.
„Es wird schon nichts schlimmes sein, das hätte er mir gesagt. Und euch bestimmt auch informiert.“ „Ich finds trotzdem schade.“ „Ich auch.“
Innen am Knie zieht es scharf, als Adam sich wieder aufrichtet. Sofort, offenbar unbewusst, streckt Vincent den Arm nach ihm aus. Adam lässt sich zu ihnen ziehen. Unendlich sanft legt Wiktor den anderen Arm um ihn und lehnt sich zu ihm, zögert. Adam rührt sich nicht und schafft sogar ein Lächeln, dann spürt er den Kuss an der Schläfe. „Jetzt muss ich aber los.“ Wiktor dreht sich zu Vincent und sie berühren einander sanft mit der Nasenspitze an der Wange. Seine Finger gleiten widerwillig über Adams Hand, als könne er den Abschied so hinauszögern. „Zum Abendessen bin ich da, obiecuję.“ Versprochen. Adam blinzelt langsam. Und spürt ein paar Tränen. Die auch nicht verschwinden wollen, als Vincent sich den Gurt der Tasche über die Schulter legt und grinsend zur Tür deutet: „Nach dir.“ Er schnaubt nur, kann die Tränen aber weg blinzeln, bevor Vincent sie sieht. Unwillkürlich streckt er die Hand hinter sich aus und atmet tief durch, als Vincent sofort zugreift. Ab nachhause.
Als die Wohnungstür hinter ihr klickt, atmet Vincent tief aus. Adam steht vor ihm im Gang, die Wohnung ist ruhig und hell. Sicher.
Die Schlüssel klimpern leise, als er sie in die Schale auf der Kommode legt, bevor sie Adam die Jacke abnimmt, aus der er sich raus geschüttelt hat. Ihr Herz wird warm, als er sich leicht an sie lehnt. Vincent unterdrückt den Drang, die Arme um ihn zu legen; erinnert sich an seine Anspannung und die ausweichende Haltung in der Klinik. Wahrscheinlich hat er immer noch Schmerzen. Sie schiebt die brodelnde Wut beiseite und verlegt die Frage, ob sich das je legen wird, auf später. Sie können nicht ändern, was passiert ist und es ist die Energie im Moment nicht wert, die zu verfluchen, die Adam das angetan hat. Viel wichtiger ist, dass er es geschafft hat. Dass er hier ist und sich an Vincent lehnt. Behutsam legt sie das Kinn auf seine Schulter; spürt den wilden Bart rau an der Wange.
Adam bekämpft das Gefühl von Ekel gegen sich selbst und atmet tief durch. Ein frischer, leicht süßlicher Duft irritiert vorher Vertrautes. So stark duftende Blumen sind eigentlich nicht Wiktors Stil. Oder sie waren es nicht. Wer weiß schon, was er alles verpasst hat. Vincent bemerkt seine Verwunderung und hebt den Kopf wieder. Die Haut an der Stirn spannt schmerzhaft, als Adam die Augenbrauen fragend zusammenzieht. Vincent lächelt und deutet mit dem Blick Richtung Küche, wo der Duft herkommt.
Auf dem kleinen Tisch, an dem sie zu dritt immer nur gerade so Platz gefunden haben, steht ein bunter Strauß. Daneben zwei Klappkarten, eine in schlichter Farbe und verschlungener Schrift: Schön, dass du da bist.
Irgendwie ist es albern. Aber auch… schön?
„Willkommen zuhause“, murmelt Vincent. „Ihr habt mir Blumen geholt?“
Er nickt, ein bisschen irritiert.
„Aber… ich hab gar nich Geburtstag. Oder?“ Es soll ein Witz sein, auch wenn sein Zeitgefühl tatsächlich immer noch nicht wieder so recht funktioniert. Sie lächelt milde. „Naja… schon, irgendwie…“ Adam nickt nur, denn er hat Angst vor dem, was in den schönen Augen schimmert. „Danke.“
„Eigentlich wollten wir dich zusammen ordentlich begrüßen.“
„Aber nich in dem Zustand…“
Vincent nickt wieder; natürlich kann sie ihn verstehen.
„Hast du Lust auf ein Schaumbad?“
Die Frage überfordert, wenn er ehrlich ist. Seit Jahren hat er sowas nicht mehr gemacht. Irgendwie war es das nie Wert, nur so für ihn selbst. Aber wenn Vince es vorschlägt… es wär schon angenehm. Adam nickt vorsichtig und folgt ihr ins Bad.
Es ist größer als bei ihm oder bei Vincent. Eben groß genug, dass eine Badewanne bequem reinpasst. Irgendwie hat er noch nie hier gebadet, nur geduscht…
„Sind wir deswegen hier?“
Vincent versteckt etwas hinterm Grinsen: „Is auf jeden Fall bequemer als ne Dusche.“ Das kräftige Rauschen lässt keine Widerworte zu, die Adam eh nicht hat. Obwohl er das viele Liegen und Sitzen satt hat, kann er nicht leugnen, dass sein Körper nicht bereit dazu gewesen wäre, die ganze Zeit zu stehen. Aus schwungvoller Höhe lässt Vincent die duftende, kräftig violette Flüssigkeit direkt aus der formschönen Flasche ins Wasser fallen.
Ein Geschenk an Wiktor vor ein paar Monaten – für besondere Momente. Ein bitterer Stich, der nichts mit seinen Schmerzen zu tun hat.
Eifrig wirbeln die Schaumwölkchen auf. Vincent hilft ihm aus der Strickjacke; instinktiv dreht Adam ihm den Rücken zu. Will ihr den Anblick seiner Brust ersparen. Hinfällig, als der Ärmel am Gipsarm hängen bleibt. „Das wird ja jetzt auch spannend…“
„Wir könnens mit Frischhaltefolie und Tape versuchen.“
Das könnte wirklich klappen. Nach einem Moment kehrt Vincent zurück mit einer Rolle Folie, Tape und einem Gefrierbeutel. Wie einen Handschuh zieht Adam den über seine nur wenig beweglichen Finger und hält ihn mit der anderen Hand fest, während Vincent die Folienrolle mehrmals um den Gips führt. Zum Schluss fixiert sie die Ränder mit dem Tape um den Beutel und Adams Oberarm. Für einen Augenblick flackert etwas Positives in seinen Gedanken auf. Eine Erinnerung, denn eigentlich hat das Tape normalerweise einen anderen Sinn.
Behutsam streicht sie das schwarze Band glatt. Das vertraute Gefühl gibt ihm den Mut, seine Gedanken auszusprechen. „Das sieht auch aus, als hätten wir was anderes vor.“
Vincent grinst tatsächlich. „Das läuft uns ja nich weg…“ Und ihr Blick meint es so. Ohne Abscheu, ohne Ekel. Adam will hoffen.
Dann wird sie wieder ernster. „Kommst du zurecht?“
Adam zögert. Es würde schon gehen. Aber… nur in Erschöpfung und vielen dunklen Gedankenwirbeln. Unwillig schüttelt er den Kopf; erschlagen von seiner Schwäche. Kann es nicht aussprechen.
Vincents Stimme bleibt sanft aber da ist zum Glück kein Mitleid. „Einmal Schaumbad all inclusive?“ Adam schluckt. „Bitte…“ Er lächelt warm. „Bin gleich wieder da.“
Adam versucht, vorsichtig in die Wanne zu steigen, ohne seinen schmerzenden Körper mit beiden Händen zu stützen. Das warme Wasser brennt leicht auf seiner geschundenen Haut, doch die dichten Schaumberge verstecken seine Wunden gut. Als Vincent wiederkommt, lehnt er die Badezimmertür an und verteilt ein paar Kerzen im Raum. Außerdem entdeckt Adam aus dem Augenwinkel das lederne Rasuretui.
Dann zieht sie sich aus und nach einem fragenden Blick rutscht Adam ein Stück vor, sodass sie hinter ihm Platz hat. Langsam sinkt sie ins warme Wasser und schmiegt den Körper sanft an ihn. Das entspannte Seufzen überträgt sich auf Adam und ganz langsam lehnt er sich an Vincents Brust.
Spürt den Ring sanft zwischen den Schulterblättern.
Und sein Kinn wieder leicht auf der Schulter.
Ihre Nähe, das warme Wasser und der zarte Geruch nehmen allmählich die Anspannung von seinem Geist. Und seinem Körper. Langsam lässt er sich tiefer ins Wasser sinken, bis die kleinen Wellen sich über seinem Gesicht schließen.
Verlockend einfach hier unten zu bleiben.
Doch an den Schultern spürt er Vincents Beine; seine Füße an der Hüfte. Und auch vor seinen geschlossenen Augen kann er ihr Gesicht sehen. Das hat sie nicht verdient. Und der Tod wollte ihn ja auch nicht. Noch nicht.
Also atmet Adam tief aus und taucht wieder auf.
Schaumwellen streicheln seine Brust, lassen seinen provisorischen Verband leise knistern.
Vincent öffnet die Shampooflasche und einen Augenblick später liegen seine Hände sanft auf Adams Haar. Als sie mit leichtem Druck die Finger kreisen lässt, fließt lang vermisstes, wohliges Kribbeln von der Kopfhaut über den ganzen Körper. Er kann gar nicht anders, als das einen Augenblick nur zu genießen.
Dann funktioniert sein Hirn langsam wieder und er greift nach dem großen, weichen Schwamm auf der Ablage. Tränkt ihn mit dem warmen Wasser und schrubbt Ekel, Schmerz und Schuldgefühle von der Brust, von den Beinen und allem anderen, was er erreichen kann. Nicht so viel, wie ihm lieb wäre. Der blöde Gefrierbeutelhandschuh macht das alles nicht leichter. Er kann mit dieser Hand so gar nicht zugreifen.
Vincent haucht warm auf seine kühle Schulter: „Du darfst dich auch einfach entspannen, wenn du willst…“
Adam seufzt einsichtig und lehnt sich dann nur wieder ins Wasser, um das Shampoo auszuwaschen.
Unendlich behutsam führt Vincent den Schwamm über seinen Körper. Nacken, Rücken, die gesunde Schulter und den Arm herunter. Adam bleibt ganz still und versucht, nicht zu denken. Hält sich fest im Moment. An dem angenehm leicht rauen Streicheln, am Wabern von Wasser und Schaum, an Vincents tiefer Ruhe. An all den vertrauten Dingen, die er im Raum sehen kann: Die Farben und schlichten Muster der Handtücher, der flauschige kleine Teppich vorm Waschbecken, der praktische schmale Sims um die Wanne herum direkt unterm Fenster. Bis sein Spiegelbild ihn dort schließlich aufhält. Ihn nur widerwillig ansieht.
Er sieht furchtbar aus. Zerstört. Und… schwach.
Schaumwasser tröpfelt von dicken Strähnen aus seinem Bart. Und doch fühlt es sich dreckig an. Als hingen die letzten Wochen dort fest, egal wie gründlich er sich wäscht. Er sieht aus, wie der, der so dumm war, sich in eine Falle locken zu lassen. Der, der sich nicht wehren konnte. Der, der weder seinen Job, noch seine Beziehung richtig machen kann. Der, der sich nicht erklären kann, wie er überhaupt noch am Leben ist.
Vincent drückt den Schwamm vor ihm aus und entdeckt seinen Blick. „Woran denkst du?“
„Der Bart muss weg.“
„Ganz weg?“
„Na, ich seh aus wien Strauchdieb.“ Das Ch rutscht wie Sandpapier durch seine Kehle und zwingt ihn zu schweigen.
„Ein bisschen Form wär ganz gut, stimmt.“
Entschieden schüttelt Adam den Kopf. „Muss alles ab.“
„Okay… Willst dus selber machen?“
Er seufzt. Ja. Nein.
Vincent versteht ihn, ohne, dass er es aussprechen muss.
„Darf ich?“ Adam nickt wieder nur.
Die Wanne quietscht dumpf, als Vincent sich weit über den Rand lehnen muss, um nach dem Etui zu greifen. Um sich ein bisschen weniger hilflos zu fühlen, schnappt Adam sich wenigstens den Rasierschaum. Ihre Blicke treffen sich in dem kleinen Spiegel in seiner Hand, als Vincent sich hinter im ganz gerade hinsetzt und vorsichtig über seine Schulter greift.
Adam hebt das Kinn leicht an und beobachtet, wie Vincent das Rasiermesser an seiner Wange anlegt. In aller Ruhe gleitet die Klinge über nasse Haut und mit jedem Zug verschwindet mit dunklem Haar auch eine Last von ihm.
Es beruhigt und erleichtert, ein paar Minuten einfach diesem Ablauf zu folgen. Erst die eine Seite, dann die andere.
Bis Vincent absetzt und wieder das Kinn auf seine Schulter legt. Diesmal aber, damit ihre Blicke sich wieder im Spiegel treffen. „Kannst du bisschen mehr rechts und etwas höher halten?“ Stimmt. Sie muss sehen, was sie macht. Nich er selbst. „Gewohnheit…“, murmelt er scheu. Vincent grinst nur, dann macht er weiter. „Du siehst eh gleich nix mehr.“
Adam versteht, als sie nochmal absetzt und seinen Kopf sanft dirigiert. Er lehnt sich wieder an Vincent und legt den Kopf leicht auf seine Schulter. Das Messer streicht ein paar Mal behutsam und sicher über seinen Hals und wieder rauf zum Kiefer.
Adam kann das Zucken unterdrücken, atmet aber scharf ein, als unter dem sanften Druck auf der rechten Seite wieder Schmerz aufflammt. Das Wasser verrät, wie Vincent zurückzuckt. „Sorry“, flüstert sie kehlig und Adam öffnet die Augen.
Das hatte er nicht bedacht. Im Spiegel wird ihm klar, was der Bart bisher verbergen konnte: Das deutliche dunkle Farbenspiel aus noch ein bisschen Violett, aber vor allem Grün seinen Unterkiefer entlang. Nur die Schwellung hat sich zurückgezogen.
„Is okay“, winkt er ab und konzentriert sich aufs Stillhalten für die letzten drei zögerlichen Züge der feinen Klinge. Sobald Vincent fertig ist, stellt er den Spiegel ab und schöpft sich mit einer Hand Wasser ins Gesicht. Die glatte Haut unter den Fingern fühlt sich besser an und auch sein Spiegelbild sieht wieder anders aus. Ein bisschen mehr wie er selbst. Der, von heute. Der, der nunmal überlebt hat und diese zweite Chance aufs Leben annehmen will.
Draußen schieben sich Wolkenberge weiter und lassen die Sonnenstrahlen durch, die sich über die ganze Länge der Wanne legen. Ein ganz sanfter, warmer Hauch auf ihren Gesichtern und sogar durchs Wasser. Immer wieder bisschen Luxus, wenn das passiert.
Adam dreht sich ein Stück um; will Vincent ansehen. Sie hat die Augen geschlossen und das Gesicht zum Fenster gedreht, ein genussvolles Lächeln auf den Lippen.
Vorsichtig rückt Adam näher und lehnt sich wieder richtig an ihn; schließt die Augen gegen das direkte Sonnenlicht. Das Wasser flüstert, als Vincents Finger unter der Oberfläche nach seinen suchen und ihre Hände sich schließlich auf Adams Oberschenkel finden.
Sie atmen gemeinsam durch und schweigen eine Weile. Wie Adams Gedanken auch endlich. Er nimmt nur wahr. Die Sonnenwärme, das Wasser, Vincent. Könnte eindösen, wenn das nicht in einer Badewanne grundsätzliche eine schlechte Idee wäre.
„Fühlst du dich besser?“ Das Murmeln huscht sachte über Adams Schulter.
„Mhm.“
Vincents Nasenspitze sanft an seiner Schläfe. „Gut.“
Ihre Stimme bricht, obwohl sie es verhindern will. Adam spürt ein Zittern in ihrer Brust und ihre Finger drücken seine kurz. Mit der anderen Hand streichelt sie das kurze Stück von seiner Schulter bis zum Folienverband. Dann seine Flanke herunter; zögerlich nur. Als wollten ihre Finger weiter zu seiner Brust und wagen es nicht.
„Bisschen kalt langsam, oder?“ Er spürt, wie Vincent schluckt und dann nickt. „Lass uns aufstehen.“
Adam löst sich von ihm und steigt genauso vorsichtig aus der Wanne, wie er es vorhin beim Einsteigen machen musste. Aber diesmal fühlt sich sein Körper besser an. Seine Muskeln lockerer und nicht mehr so wund. Und auch sein Knie macht keine Probleme. Vincent ist trotzdem schneller aus der Wanne und legt Adam das große Handtuch über die Schultern, als er sicher steht.
Der Abfluss blubbert leise vor sich hin, während sie sich abtrocknen.
Adam hüllt sich das Handtuch wieder um die Schultern und nutzt die Gelegenheit zum Zähne putzen. Noch nie war der künstliche Minzgeschmack so befriedigend wie heute. Als er mit nur noch einem Hauch davon dann wieder in Wandspiegel schaut, ist der Ekel endlich verschwunden.
Er sieht immer noch, was sein Körper ertragen musste. Ein gesunder Anblick ist was anderes. Aber dieses dringende Bedürfnis, aus seiner Haut auszusteigen, ist fort. Die Schmerzen sind immer noch da. Aber sie beschimpfen ihn nicht mehr; blocken ihn nicht mehr aus seinem eigenen Körper. Sein Spiegelbild kann ihn wieder ansehen. Und es ist okay, was er sieht.
Vincent sieht aus, als würde er sich verzweifelt die Haare raufen, als er die Finger mehrmals ins Handtuch um seinem Kopf krallt, um das Wasser aus den Locken zu drücken. Ist schonender für die Haare, hat sie Adam mal erklärt. Dann richtet sie sich wieder auf und schlingt das Handtuch locker um die Hüfte. Und als er Adam ansieht, lässt sich diese Sehnsucht im blaugrünen Blick nicht mehr abstreiten. Er weiß, dass sie die ganze Zeit da war. Auch wenn er es nicht glauben wollte. Und er selbst fühlt ja genauso. Er wollte Vincents Nähe; jede Berührung war zu wenig, weil sie nicht so richtig ankam. Weil sein Körper ihm Feind war. Aber jetzt nicht mehr.
Er nimmt Vincents Hand und zieht sie an sich. Überraschung und Erleichterung in ihrem Blick. Tränen. Das Handtuch um seine Hüfte gibt auf aber das ist grade völlig egal. Adam spürt eine Hand am Rücken, die andere liegt sanft um seinen Kopf als er das Gesicht an Vincents Hals vergräbt und den gesunden Arm um seine Mitte legt. Spürt, wie sein Körper sich ganz von allein an ihren schmiegt, wo immer sie sich berühren können. Ihre Wange am Ohr, dann die Locken als er die Stirn auf seine Schulter senkt und ihn noch näher an sich zieht.
Unwirklich.
Unwirklich fühlt sich das an. Nach all den Wochen. Selbst, nachdem er wieder aufgewacht war… irgendwie konnte sie nicht glauben, konnte nicht hoffen, dass das je wieder Wirklichkeit sein darf. Dass er Adam je wieder in die Arme nehmen darf. Er kann die Tränen nicht mehr aufhalten. Will es auch gar nicht. Nur mit ihnen kommt die Panik, die nicht weiß, dass es keinen Grund mehr für sie gibt. Die Angst, die sich zurückgehalten hat, weil er funktionieren musste. Diese überwältigende Vorstellung, ohne Adam sein zu müssen, von der er dachte, sie vor Wochen schon einordnen und aushalten zu können. Falsch gedacht. Jetzt, da sie weiß, dass sie nicht wahr wird, trifft sie ihn ein letztes Mal mit aller Kraft. Vincent spürt, dass er zittert. Und dass er Adam nicht loslassen kann. Nur so weit, dass Adam den Kopf hebt und mit dem Daumen über seine Wange streichelt. „Hey, ich bin doch da. Ich bin hier, alles is gut.“
Vincent nickt; ringt um Atem und Ruhe. „Ja aber ich… ich dachte so lange, wir hätten dich wirklich verloren. Dass das Leben mir wieder wegnimmt, was wir hatten, verstehst du? Zur Strafe…“
Adam blinzelt gegen eigene Tränen. „Zur Strafe wofür?“ Der grüne Blick so tief erschüttert, dass es Vincent leid tut, aber die Tränen lassen ihm keine Luft zur Antwort. Adam zieht sie wieder an sich und streichelt ihm mit zitternden Fingern den Kopf, als Vincent die Stirn an seine Schulter legt. „Wofür solltest du bestraft werden, hm?“
„Bisher hat sich immer ein Grund gefunden…“
Sie erdet sich mit seiner Nähe, jeder Berührung, seinem Geruch. Worte, Erklärungen wirbeln in ihrem Geist aber sie hat nicht die Kraft, all das jetzt zu sagen. Will dem auch keinen Raum geben, denn es bringt nichts. Und sein Flüstern hat auch nicht die Kraft dazu.
„Es tut mir leid“, flüstert Adam rau und bettet das Kinn in ihr Haar.
Vincent streichelt beruhigend seinen Rücken.
„Tut mir leid, dass ich so scheiße leichtsinnig war. Ich wollte dir… euch sowas nie antun.“
Sein Griff fühlt sich an, als suche er Halt. Vincent hebt den Kopf, bis er die Stirn an Adams legen kann. „Du hast uns das nicht angetan. Die Schuld liegt nur bei Tanja und ihren Leuten.“ „Aber ich–“ „Adam, nich. Bitte…“ Sie löst sich und sieht ihm in die Augen. „Tanja hat sich für diese maßlose Racheaktion entschieden. Du hast damals nur deinen Job gemacht; es gab keinen Grund für diese ganze Scheiße. Es gibt so viele Menschen, die Schlechtes durchleben müssen durch unseren Job und trotzdem kommt niemand auf sowas. Dieser ganze Hass, das ist nicht deine Schuld.“ Wieder lauern da Tränen im Hals. Es tut so weh, dass Adam sich die Schuld gibt. „Okay…“, flüstert er. Und legt die Stirn an ihre. „Aber dann war das auch keine Strafe für dich, okay? Du kannst nichts dafür.“ Vincent nickt langsam. Gemeinsam atmen sie die Tränen weg.
Die Sonne wandert am Fenster vorbei und schließlich spürt Vincent Gänsehaut unter den Fingern. Und dünnes Plastik auf der Haut, als Adam beide Arme um ihn legen will. Der Verband knistert albern. Vincent muss lachen. Ganz leicht nur. Aber Adam lässt sich anstecken. Sie sind sich einig, dass das Sofa bequemer ist und ohne den extra Schutz um den Gips umarmt es sich auch besser.
Während Adam sich von Tape und Folie befreit, verschwindet Vincent im Schlafzimmer, um ihnen frische Klamotten zu holen. Ob die hellgraue Jogginghose ihre oder seine oder doch Wiktors ist, kann Adam nicht zuordnen, als sie sich im Wohnzimmer wiedertreffen. Nur das schwarze Tanktop, das kennt er ausschließlich von Vincent. Ächzend sinkt Adam aufs Sofa und fängt die dunkelblaue Trainingsjacke auf, die ihm aus kurzer Entfernung sanft entgegen fliegt und sehr nach Wiktor aussieht. Als sie sich zu ihm setzt, hat sie eine Jeans in der Hand, die definitiv Adam gehört.
Und er muss lächeln. Dankbar.
Denn er musste ihr nicht sagen, dass er sich damit gerade besser fühlt. Wochenlang hat er in Jogginghosen gelebt. Als er sich damit endlich von den dünnen Klinikhemdchen verabschieden konnte, war das auch ein gutes Gefühl. Aber im Moment hat er Jogginghosen einfach satt. Wahrscheinlich nur für ein paar Tage, denn sie sind nunmal bequemer aber der kräftige, blaugraue Stoff mit den dicken Nähten fühlt sich gerade so viel besser an auf der Haut, als alles andere. Nach weniger Schwäche, obwohl sein Körper immer noch müde und geschwächt ist.
Adam lehnt sich zurück und legt den Arm auf die Lehne neben Vincent. Zögernd rutscht er näher und lehnt sich zu ihm. Bevor Verunsicherung in Adam aufflackern kann, flüstert sie: „Ich will dir nich wehtun.“ Die wunderschönen Augen suchen seinen Blick. „Tust du nich.“ „Okay.“ Sie nickt langsam und ihr Blick gleitet immer wieder zu Adams Lippen.
Dieses süße Glühen erwacht in seiner Brust und sein Bauch kribbelt wie viel zu lange nicht mehr. „Willst du mich küssen?“ Behutsam webt er die Finger im Nacken in feuchte Locken. Schalkhaftes Lächeln. „Den ganzen Tag schon, ehrlich gesagt.“ Sie lässt sich näher ziehen und stützt sich mit der Hand auf der Lehne ab, um sich über ihn zu beugen. „Worauf wartest du dann?“ Adam hat kaum ausgesprochen, da legen sich weiche Lippen unendlich sanft auf seine. Einen Augenblick lang genießt er nur dieses Gefühl, von dem er so lange dachte, es nie wieder zu spüren. Lässt sich davon überwältigen wie beim ersten Mal. Denn es ist wie ein erstes Mal. Nur noch viel schöner, weil alles so wunderbar vertraut ist. Langsam, zart und so unendlich liebevoll. Vincents Küsse tasten nach seinen Lippen, als sei ihr all das neu. Zaghaft und doch so wunderbar fordernd und selbstsicher. Das Bauchkribbeln huscht sanft durch seinen ganzen Körper und erfüllt Adam mit Ruhe. Behutsam zieht Vincent sich schließlich zurück. Ihr Lächeln spricht Bände, als sie einander nur ansehen und wieder Luft holen.
„Ich hab dich vermisst.“
„Ich bin ja wieder da.“ Vincent nickt bedächtig. „Schön, dass du da bist.“
Eine ganz alte Erinnerung flackert durch Adams Geist; wie immer mit einem Hauch des schlechten Gewissens. Vincent lächelt gutmütig und streichelt mit dem Daumen über seine Wange. Eine Weile betrachtet sie ihn einfach nur und Adam spürt, wie ihr Blick erst an der Platzwunde inne hält, dann über seinen Kiefer wandert und schließlich die Wunden auf der Brust streift. Jede einzelne.
Da liegen viele Dinge im wunderschönen Blaugrün. Wut, Bedauern, die Ahnung über seine Schmerzen – ganz viel Empathie. Eine vorsichtige Neugier. Fragen. Erkenntnis. Wahrscheinlich kennt er die Berichte aus der Klinik sowieso schon.
Adam wird klar, dass es gar keinen Sinn hatte, irgendwas verbergen zu wollen. Er kann die beiden nicht mehr vor diesem Wissen schützen. Höchstens vor den Details, wie genau das alles passiert ist. Je nach dem, was in irgendwelchen Gutachten steht oder von Tanja zu erfahren war. Aber sie wissen einfach, wie zerstört sein Körper ist. Und sind trotz allem nie von seiner Seite gewichen. Adam blinzelt schnell, will sich nicht schon wieder Tränen überlassen und hofft, dass seine Stimme nicht zittert.
„Hilfst du mir?“
Er deutet mit dem Blick auf die Waschtasche auf dem flachen Wohnzimmertisch. Da drin ist alles, was er für die Wundversorgung braucht.
Vincent blinzelt kurz, als sei er in Gedanken gewesen. Dann lächelt er und greift nach der Tasche; stellt sie zwischen ihnen auf dem hellen Polster ab. „Ich hol uns noch Handschuhe.“ Adam nickt abwesend und öffnet den schmalen Reißverschluss.
Unter den Salben und sterilem Verbandsmaterial taucht ein kleiner Zeitplan auf. Wiktors Handschrift ist nicht zu verkennen. Er muss sich mit Doktor Rotkiewicz noch besprochen haben, bevor sie die Klinik verließen. Unter dem Zettel verbergen sich mehrere Packungen von Tabletten. Einige, viel zu viele, kommen ihm bekannt vor. Adam zuckt unwillkürlich zusammen; spürt, wie sein Herzschlag sich unangenehm beschleunigt.
Sofort pulsiert Schmerz an mehreren Stellen seines Körpers im hektischen Klopfen. Adam zwingt sich, tief durchzuatmen und deckt die Packungen mit dem Zettel wieder zu. Die brauchen sie jetzt nicht! Er greift nur nach den kleinen Salbentuben und der Wunddesinfektion, dann stellt er die Tasche zurück auf den Tisch und schiebt sie von sich.
„Alles okay?“ Die dichten Augenbrauen sind tief zusammen gezogen, als Vincent sich wieder setzt. Adam winkt ab. „Schmerzen. Geht schon.“
Sie sieht nicht überzeugt aus, sagt aber auch nichts weiter. Adam kämpft gegen die Unruhe an und hält sich mit dem Blick an Vincents Handgriffen fest. Seine Finger zittern sogar, als er die Verpackungen der Wundkompressen aufreißt.
Vincent tränkt eine davon in dem Desinfektionsmittel und tupft damit die nässenden Bläschen ab, die sich in den kleinen Bahnen über seine Brust verteilen, in denen sich die Flüssigkeit in seine Haut gefressen hatte. Die Berührung brennt trotz aller Vorsicht und Adam zuckt unwillkürlich, obwohl es lange nicht so schlimm ist, wie die eigentliche Verletzung.
Vincent verzieht das Gesicht.
„Is schon okay, mach weiter.“
Drei etwa Handteller große Stellen sind es noch, die in kleineren Blasen nässen. Sie werden mit einer speziellen Salbe versorgt, dann drückt Vincent sanft die Kompressen darauf. Als alle drei bedeckt sind, setzt Adam sich auf, sodass sie sie mit einer Mullbinde um seinen Oberkörper fixieren können. Vincents Berührungen bleiben behutsam aber bestimmt, als er sich systematisch um die Verbrennung, verschiedene Schnitte und OP-Wunden kümmert.
Doch egal, wie sehr Adam sich in der Gegenwart festhalten will, die Unruhe lässt sich nicht mildern. Sie lässt die Schmerzen wieder lauter werden, auf der Haut und in jedem wunden Muskel. Weckt Bilder und Empfindungen; Erinnerungen, die viel zu frisch sind. Steigen an wie das Wasser in der Wanne, aber Adam kann nicht entscheiden, wieder aufzutauchen; muss hinnehmen, dass er drin versinkt. Und Vincent irgendwann nur noch dumpf wahrnimmt. Die schönen Augen verschwimmen, die Stimme verblasst hinter seinem panischen Herzschlag; für Berührungen bleibt seine Haut taub in einem Panzer aus Schmerz. Vincent verschwindet.
Bis sie ihm sanft in die Augen pustet.
Adam zuckt zurück, blinzelt automatisch. Und sieht sie wieder vor sich. Kann verstehen, dass er mit ihm spricht. „Kochanie, hey.“ So viel Sorge im Blick, in der Stimme. „Hast du Schmerzen?“ Im sanften Streicheln an seiner Wange.
„Ja“, krächzt er. Aber plötzlich sind sie nicht mehr so überwältigend, wie noch vor einer Sekunde.
„Ich hol dir was zu Trinken.“
Auf dem Tisch liegt Wiktors Zettel im Kreise von Tablettenblistern.
„Warte!“ Adam bekommt seine Hand zu fassen, bevor er geht. Völlig kraftlos aber er kann es ja sehen. Er weiß, dass Vincent sich behutsam neben ihn ins Polster kniet; weiß, dass sie ihm durchs Haar streicht. Aber er spürt es kaum.
Ein furchtbarer Gedanke drängt sich auf. Er bildet sich das alles ein. Er träumt. Und gleich wacht er auf. In einer Welt, in der Vince tot ist. Zurück in diese scheiß flackernde Dunkelheit, in den verdammten Käfig. Nur, weil sie es so will. Weil sie spielen will und er noch immer nicht kaputt ist. Weil sie ihn zum Spielzeug gemacht hat. Nein. Bitte. Er kann das nicht. Dann lieber hier bleiben. Im verzweifelten Hirngespinst. Lieber nur ein Trugbild von Vincent, als die beschissene Realität.
„Adas.“
Festhalten an der geliebten Stimme. An sanftem Blaugrün.
„Du hast es geschafft. Du bist Zuhause.“ Sie führt seine Hand auf ihren Brustkorb; sanft umschlossen von ihren Fingern.
„Niemand kann dir irgendwas tun.“
Herzschlag unter seinen Fingern. Kräftig. Aufgeregt. Real.
„Ich bin bei dir, okay?“
Warme Haut schmiegt sich an seine Hand. In steten, tiefen Atemzügen. Adam fokussiert sich auf seine Lungen und zieht tief die Luft ein. Warm, vertraut, ein Hauch von Shampoo. Und Schaumbad. Frisch.
„Bist du bei mir, Kochanie?“
Hier. Auf dem Sofa, neben dem Bücherregal, schräg vor der Balkontür. Rechts ist die Tür zur Küche. Hinter ihnen die zum Schlafzimmer.
Das eiskalte Gefühl von Lähmung zieht sich zurück.
Adam nickt und streift mit dem Daumen über feine, glänzende Kettenglieder. Der Ring zieht sie angenehm schwer nach unten. Vincent lehnt den Kopf an seine Stirn und streichelt seine Wange.
Adam lehnt sich in die Berührung. „Dzieki, Zrebię.“
Sie atmet zitternd ein und sieht Adam in die Augen. Schenkt ihm einen sanften Kuss. Einer, der nach Sehnsucht schmeckt, nach Erleichterung und Dankbarkeit.
„Hast du oft Flashbacks?“
Adam seufzt tief. Natürlich weiß sie, was das war. Er hebt die Schulter. „Keine Ahnung. Manchmal?“ „Hängt es mit den Schmerzen zusammen?“ Wieder kann er nur die Schulter zucken. Er wollte darüber noch nicht nachdenken. In der Klinik hat ihn niemand gefragt. Da waren es nur Träume, nie, wenn er wach war. Vincent nickt langsam. Behutsam streicht er ihm eine Locke hinters Ohr; streift einen… Riss? Eine Kerbe? im Ohrbogen. Die Haut ist rosig, an den Rändern ein bisschen knorpelig. Narbengewebe. Sie lehnt sich leicht in die Berührung; bemerkt die Fragezeichen in seinem Blick. „War ein Streifschuss, nich weiter schlimm.“
Wie viel hat er verpasst? „Wann?“
Sie zögert. „Als… ich Tanja in die Waffe gegriffen hab.“
Im Wald. Die Waffe, die auf seine Stirn gezielt hat. „Als der Hund…?“
„Mhm. Um den hat Speedy sich gekümmert.“
Abwesend streicht Adam mit dem Daumen über die Stelle.
„Wo kam die eigentlich her?“
Sie schließt die Augen, scheint seine Berührung zu genießen. „So genau weiß ich das auch nich. Edyta hat erzählt, dass sie sich im Wald irgendwann losgerissen hat. Und dann…“
„War sie einfach da.“
Vincent nickt. „Übers Tracking hat sie uns dann gefunden. Speedy wollte uns nich alleine lassen.“ Wieder frisst sich Schuld in sein Herz. „Hat das Vieh sie böse erwischt?“
„Sie war wohl in der Klinik, weil ein paar Bisse operiert werden mussten. Und am Ohr hat sie auch einen Riss jetzt.“ Adam kann das Grinsen nicht teilen.
„Ich glaub, ich muss mich bei Edyta entschuldigen…“
„Sie nimmt dir das doch nicht übel.“
„Ich aber.“
Vincent nimmt seine Hand und streichelt mit dem Daumen über seine Finger. Sagt aber nichts dazu.
„Magst du jetzt was trinken?“
„Wäre sicher besser.“
Sie nickt und haucht ihm einen Kuss auf die Stirn. „Bin gleich wieder da.“
Das Wasser streicht angenehm kühl durch seinen rauen Hals.
„Vielleicht helfen die Schmerzmittel auch dabei, wenns daran liegt…“ Vincent ließt die Tablettenschachteln und den Plan aufmerksam durch. Entschieden stellt Adam das Glas auf die dunkle Holzplatte. „Ich nehm keine Schmerzmittel mehr. Und auch keine Schlaftabletten.“
Diese kleine, senkrechte Falte blüht auf zwischen Vincents Augenbrauen.
„Flashbacks hin oder her. Die sind nicht echt. Und dann erleb ich lieber das als wieder…“ Zittern; vor Angst, vor Wut schnüren ihm wieder die Kehle zu. Seine rechte Hand im Gips kribbelt stechend; ein Gefühl, was mit dem Bruch nichts zu tun hat. Vincents Gesicht verschwimmt in Tränen. Sein Hals.
Adam ringt nach Luft. „Das is genau das verdammte Zeug von damals, verstehst du?“
Die Falte verschwindet wieder.
Sie rückt näher und legt den Kopf auf seine Schulter. Schließt die Hand um seine Fingerspitzen aus dem Gips. „Ich versteh dich. Aber ich seh das anders.“
Adam schließt die Augen, lehnt die Wange an weiche Locken. „Ich will dir nie wieder wehtun…“ Spürt sein Flüstern mehr als dass er es hört.
„Wirst du nich.“
Vincent hebt den Kopf und beugt sich über ihn; hält Adams Blick fest. „Kannst du gar nich.“ Er nimmt Adams Hand und legt sie an seinen Hals, streichelt mit dem Daumen über seinen Handrücken. Und lächelt.
„Weil ich zu schwach bin?“
„Weil du dich geändert hast.“ Seine Stirn warm an Adams. „Ich versteh, dass du Angst vor neuer Abhängigkeit hast. Aber dein Körper entscheidet das nicht alleine. Die Dosis ist eine andere, die Situation ist ne ganz andere. Alles ist anders als damals. Und du bist du.“
„Und wenn ich mich wieder verändere?“
„Tja. Dann muss ich dir die andere Hand auch brechen. Oder so. Uns wird schon was einfallen.“
Adam muss schnauben. „Super Plan.“
Er bettet Adams Gesicht in seine Hände. „Glaubst du wirklich, dass das passiert?“ „Ich weiß es nich…“ „Wenn es dich beruhigt: du kannst mich nicht mehr so überraschen wie damals. Wir müssen keine Angst vor dir haben. Und du verdienst es nich, dich von Schmerzen so sehr quälen zu lassen. Gesteh dir das zu.“
„Ich denk drüber nach.“
„Gut.“ Vincent wühlt die Finger in sein Haar und streift lockend seine Lippen. Adam lässt die Finger wandern und lässt sich auf den Kuss ein. Nicht so unschuldig, wie eben.
Statt weicher Locken streifen seine Finger dünnen Wundschorf. Adam stutzt.
Vincents Handy klingelt. Sie lösen sich sanft.
Ein Blick aufs Display und Vincents Lächeln wird ganz weich. Warmes Kribbeln im Bauch. „Wiktor?“
Adam hört seine Stimme dumpf am anderen Ende.
„Cześć Serce.“ „Was gibt's?“
„Ich mache mich jetzt auf den Heimweg und wollte wissen, ob wir noch etwas brauchen. Fürs Essen oder aus der Apotheke vielleicht?“ Während er redet, lehnt Adam sich an Vincent, die dem nachgibt, bis sie gemeinsam auf der Couch liegen. Adam fühlt ihren Herzschlag am Ohr und ihre Fingerspitzen zart im Haar bis zur Schulter runter. Vincent legt das Handy auf seine Brust, um beide Hände in Adams Haar zu wühlen, während sie überlegt. Durchs Handy sind Autoschlüssel zu hören. „Fürs Essen haben wir alles da.“ „Gut. Kochanie, jak się masz Potrzebujesz czegoś?“ Wie geht’s dir? Brauchst du was?
Adam brummt zufrieden, denn das zarte Kribbeln kann die Schmerzen zurückdrängen. „Cię. Tu. Wtedy byłoby bardzo dobrze.” Dich. Hier. Dann wärs sehr gut. „Aber du bist doch bei Vince.“ „Ja. Deswegen geht's mir gut. Aber ich brauch dich trotzdem hier.“ Sein Lächeln ist hörbar. „Ich beeile mich. Soll ich was mitbringen? Schmerzmittel?“ „Ich nehm keine Schmerzentabletten.“
Stille am anderen Ende. Adam sieht in Vincents Blick, dass auch sie sich Wiktors Gesicht genau vorstellen kann. „Verstehe...“
Adam verbirgt das Gesicht an Vincents Körper. Scham. Schuld, weil er wieder Probleme macht. Ihnen Sorgen bereitet.
„Ich bringe dir was anderes mit, okay?“ Daran hat Adam noch gar nicht gedacht. „Meinst du, das funktioniert?“ „Möglich ist es“, murmelt Vincent. „Mir genügt das.“ Wiktor klingt überzeugt.
Adam hebt die Schulter. „Ja, vielleicht…“ „Zur Feier das Tages, hm?“ Wiktor klingt, als hätte er selber was davon. „Okay…“ Adam weiß nicht mal, warum er zögert.
„Ach klar, warum nich. Gerne.“ Vincent nickt entschieden.
„Alles klar, dann dauert es einen Moment länger.“ „Das schaff ich jetzt auch noch.“ „Ich bin stolz auf dich, Kochanie.“ „Naw.“ Vincent grinst, als Adam Hitze in den Wangen spürt. „Bis dann, kocham was.“ Ich liebe euch. Das ist auch neu.
„Bis gleich.“ Vincent lächelt wieder.
Adam senkt die Stirn auf ihre Brust und wartet darauf, dass die Hitze in den Wangen schwindet. Vincent wühlt die Finger in sein Haar und seufzt zufrieden. Bis Adams Magen knurrt. „Oh. Sollten wir mit dem Kochen schonmal anfangen?“ Adam seufzt schwer. „Wenns sein muss.“ „Ich will nich, dass du verhungerst.“ Schwerfällig setzt Adam sich wieder auf. Sein Körper protestiert nicht. Oder zumindest nur ein bisschen. Vincent steht auf, streckt sich und bietet ihm die Hand an. Gerne lässt er sich auf die Beine ziehen und in die Küche entführen.
Im Vorbeigehen klaut Vincent sich ein Stück Möhre vom Holzbrett unter Adams Fingern, das er eben erst mühsam zurecht geschnitten hat. Dann beeilt sie sich, in dem dampfenden Topf auf dem Herd zu rühren, bevor die Soße überkocht.
Adam schiebt die orangenen Stückchen zu dem anderen Gemüse in den Topf und atmet das scharfe Stechen im Daumen weg. Immer wieder flammt der Schmerz scharf durch das Gelenk, wenn er etwas mehr als das Messer nur halten will. Er hat ewig gebraucht für das bisschen Schnippeln, aber Vincent einfach tatenlos zuzusehen, hätte er nicht ertragen. Genügt schon, dass er es nicht mal geschafft hat, ein paar Minuten am Herd zu stehen, bevor er sich wieder setzen musste. Vincent sagt nichts dazu, dass er ewig braucht. Natürlich nicht, wahrscheinlich macht es ihr wirklich nichts aus. Adams eigene Ungeduld piesackt ihn die ganze Zeit.
Vincent stellt den Soßentopf neben der Auflaufform auf dem Tisch ab und unterbricht Adams Blick auf die zweite Grußkarte neben der Vase. Die Handschrift hat er vorhin erkannt, bevor er die drei Namen und die kleine Zeichnung überhaupt lesen konnte.
„Wie viel weiß Lidia eigentlich?“
Vincent dreht an dem schwarzen Knopf, um die Platte unter dem Gemüsetopf einzuschalten. „Dass du einen Unfall während eines Einsatzes hattest und lange nicht ansprechbar warst in der Klinik. Aber sie wissen keine Details. Das wollten wir... abwarten.“
Adam nickt langsam.
„Wir mussten sie eh kontaktieren, weil sie und die Mädchen vielleicht gefährdet waren. Also Alex hat das übernommen. Und wir... ich wollte es ihnen nicht erst sagen, wenn du gestorben wärst. Das wäre nicht fair gewesen.“
„Ich weiß.“
Vincent setzt sich auf die andere Seite der Auflaufform.
„Weiß sie, dass ich raus bin?“
„Bisher nicht. Wiktor hat sie angerufen, als du aufgewacht warst und einmal zwischendurch, glaub ich. Sie wollte dann warten, bis es dir besser geht. Dass du dich selber melden kannst.“
„Und die Mädchen? Was wissen sie?“
Vincent zeichnet das Muster am Rand der Keramikform mit dem Finger nach. „Ich weiß nich, wie viel Lidia ihnen erzählt hat. Wahrscheinlich wissen sie, dass du nicht mehr in Lebensgefahr schwebst. Alles andere kann ich nich einschätzen. Wiktor vielleicht.“
Adam dreht die Karte in den Fingern. Die Schrift beginnt zu flimmern.
„Es ist sicher, dass ihnen nichts passiert ist?“
„Ganz sicher. Alex sagte, dass es Beweise dafür gibt, dass sie ein Mal beobachtet wurden. Aber die Kolleg*innen in Berlin passen auf sie auf.“
Also hat Tanja nicht geblöfft. Ein eiskaltes Zittern überkommt seinen ganzen Körper. Die Angst, für die sein Körper damals keine Kraft mehr hatte. Krallt sich von innen scharf in seine Wunden, pulsierend im Takt seines fliehenden Herzens. Fesselt seinen Körper in starrer Spannung.
Adam hält sich fest an Vincents Streicheln über seinen gesunden Handrücken. Warm legt sie die Finger um sein Zittern.
„Ich... Sie hat es mir gezeigt. Ein Foto der Mädchen. Sie weiß, wo meine Kinder sind. Und ich konnt sie nich beschützen.“ Heiß lassen die Tränen das geliebte Gesicht verschwimmen. Seine Haut bebt; spürt den Druck schwerer Stiefel, das Reißen von Muskeln. Sein Unterleib krampft sich zusammen.
Die Karte rutscht aus seinen bebenden Fingern.
„Deine Kinder sind in Sicherheit. Du hast sie beschützt, weil du Freunde hast, die dir dabei geholfen haben.“
Das Zittern lässt sich nicht aufhalten. Vincent geht um den Tisch herum und setzt sich neben Adam auf die Eckbank. Schwer lehnt er sich an sie, Tränen lassen seinen Atem stocken. Krämpfe erfassen ihn in Wellen und fesseln ihn in Stille. Vincent spürt, wie ihm Adams Geist in Erinnerungen entrinnt und hinter dem leeren Blick verschwindet. Wie er unsagbare Dinge aussprechen will, für die ihm die Worte fehlen. Wie er die Finger verzweifelt in den dunklen Stoff an ihrem Körper krallt.
Vincent versucht, weiter ruhig zu atmen. „Adas, es ist vorbei. Du bist hier, bei mir. In Wiktors Küche. Dir passiert hier nichts. Und deinen Kindern passiert auch nichts. Wir sind alle sicher.“
Sie beginnt zu Summen und immer, wenn das Lied eine Pause machen würde, spricht er diese Fakten aus. Spürt, wie Adam nicken kann, ab und zu.
Hofft, dass die Worte ihn halten können. Denn was anderes kann er nicht tun. Kann nur versuchen, Adam zu halten.
Bis das Zittern nachlässt.
Adam dreht den Kopf und blinzelt ein paar Mal. Vincent atmet mit ihm tief durch. Als er sich aus ihren Armen löst und aufsetzt, schüttelt er unwillig den Kopf. Um die Gedanken loszuwerden. „Danke“, knurrt er erschöpft und wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Vincents Herz zieht.
Sie will ihn nicht drängen, irgendwas zu erzählen. Aber es schürt auch seine Angst und den Schmerz über alles, was Adam erleben musste. Sie hat sein Verlies gesehen. Kann sich vieles vorstellen, was sie sich nie vorstellen wollte. Vielleicht würde es helfen, zu wissen, was wirklich passiert ist. Aber das kann sie von Adam nicht verlangen. Und schon gar nicht, wenn er dazu selber nicht bereit ist.
Im Aufstehen streicht er mit den Fingern über Adams Schultern und bevor sie abrutschen, greift er nach ihrer Hand. Furcht liegt in dem vertrauten grünen Blick. „Ich kann das nich.“ Das Flüstern noch rauer als seine Stimme die ganze Zeit schon ist.
„Musst du auch nicht. Wirklich nich.“ Sie legt den Arm um seinen Kopf, als er das Gesicht an ihrem Körper verbirgt. Und drückt einen Kuss auf sein Haar.
Atmet tief, um das brodelnde Toben im Inneren festzuhalten. Sie kann all die Wut jetzt nicht freilassen. Sie hätte kein Ziel und würde in Adam wohl nur noch mehr Schuld schüren.
Warm streichelt sein tiefes Seufzen durch den dünnen Stoff über ihren Bauch.
Sie lösen sich sanft voneinander und zu beiden Seiten der Auflaufform beginnen sie einfach damit, Nudelplatten, Gemüse, Käse und Soße gleichmäßig zu schichten. Finden Ruhe in den systematischen Handgriffen.
Als Vincent die große Keramikschale schließlich in den Ofen schiebt, muss Adam gähnen.
„Wolln wir uns noch ein bisschen ausruhen?“
Die Ofenklappe rastet ein wie die Vernunft in Adams Blick.
Das Bett war neu. Ein paar Tage vor… dem Unfall haben sie es noch zu dritt aufgebaut. Wiktor war glücklich, endlich auch genug Platz für sie zu haben und sie wollten die erste Nacht gemeinsam verbringen. Seitdem wurde es nicht benutzt. Vincent kann sich nicht erinnern, dass Wiktor in den letzten Wochen mal hier geschlafen hat. Sie waren eigentlich die ganze Zeit bei Adam. In der Klinik oder in seiner Wohnung. Adam zieht ihn mit sich, als er auf das sorgsam gefaltete Bettzeug sinkt.
Von allein finden sie eine bequeme Position, in der sie sich endlich wieder nah sind. So selbstverständlich, wie vor all dem. Endlich wieder richtig kuscheln. Endlich beruhigt sich Adams Herzschlag. Endlich zieht sich diese ständige Unruhe etwas zurück. „Willst du schlafen?“ Adam schüttelt den Kopf. Selbst wenn er wollte, wahrscheinlich wird sich sein Körper dagegen wehren. Aber Ruhe braucht er schon.
Er betrachtet Vincents Gesicht und findet Entspannung. Ihre Blicke streicheln ihre Körper, wo immer ihre Hände es nicht tun. Bis Adams Arm schwer wird. Und Vincent lächelt nur. Drückt die Stirn sanft an seine und streicht mit angenehm sanftem Druck der Fingernägel von seiner Flanke über den Rücken. Adam dreht sich auf den Bauch und spürt dem weichen Kribbeln seine Wirbelsäule entlang nach. Vincent setzt sich auf, um ihn mit beiden Händen zu kraulen und diese Wellen an sanften Schauern schicken Entspannung in seinen Geist und seine Wunden. Aus dem Augenwinkel beobachtet er ihren Blick.
Völlig vertieft in jede Berührung. Fokussiert und doch scheinen ihre Gedanken in etwas anderem zu versinken. Jede Berührung fühlt sich an, als wolle er ihn in diesem Augenblick festhalten. Als habe sie Angst, Adam löse sich in Luft auf, wenn sie ihn nicht berührt. Adam streckt den Hals, bis er einen Kuss auf ihr Knie drücken kann und dreht sich ein bisschen, um in die schönen Augen zu sehen. Vincent lächelt. Erleichtert, liebevoll, glücklich. Aber auch verschleierte Angst kann er sehen. Ein Spiegel seiner selbst. Er schließt die Augen, als Vincents Finger über seine Schultern wandern und sinkt zurück ins Kissen.
Sein wohliges Seufzen wärmt Vincents Herz. Adams Körper entspannt sich deutlich unter ihren Fingern. Und genau das hatte er erhofft. Wenigstens ein bisschen Linderung, wenn die Angst vor den Tabletten so groß ist. Adams Blick ist schläfrig, als er sich träge auf die Seite dreht und den Kopf in Vincents Schoß bettet. Behutsam öffnet sie seine Jacke und folgt mit den Fingern dem Lauf des Verbandes. Zeichnet unsichtbare Linien auf unverletzte Haut.
Seine Mine entspannt sich immer mehr, bis Adam tief und gleichmäßig atmet.
Gut. Er braucht den Schlaf. Vincent bewegt die Finger langsamer, streichelt nur noch hauchzart über seine Haut. Kann aber nicht ganz damit aufhören.
Will nicht aufhören, Adam zu berühren. Ihre Körper sind einander noch immer so vertraut und doch ist da dieses irrationale Gefühl, dass er ihr wieder entrissen wird, wenn ihre Fingerspitzen nicht jedes Detail nachzeichnen. Der dicke Verbandstoff ist rau an den Fingern. Was er verbirgt sind kleine Stiche in Vincents Herz. Jede einzelne Verletzung. Schon beim Lesen der Klinikprotokolle. Den geliebten Körper so geschunden zu sehen, entfacht die Wut mit jedem schmerzenden Stich. Das Bedürfnis nach Rache.
Aber genau das ist auch der Grund allen Übels. Tanja hat sich von Rache leiten lassen und all das verursacht. Rache fragt nicht, ob sie berechtigt ist.
Mit einem tiefen Atemzug versucht Vincent, die Spannung im Körper abzuleiten. Spürt nach dem Headboard im Rücken; nach Adams Wange auf dem Oberschenkel. Seinem Haar um ihre Finger und seinem Herzschlag unter ihrer Hand.
Es hilft. Aber zeigt auch, wie schwer sich sein Kopf anfühlt. Dass der Schlaf die Hände nach ihr ausstrecken will. Vincent weißt ihn ab.
Was, wenn er ihr im Schlaf doch wieder entrissen wird?
Was, wenn Adams Schutzengel Bedingungen hat? Wenn er Adam nur da raus geholt hat, damit sie noch diese paar Stunden haben durften, weil es eigentlich unmöglich ist, dass er das gut übersteht? Wenn sie jetzt einschläft, hatte Wiktor nie die Chance auf diese Stunden.
Er schnaubt abfällig. Diese ganze Scheiße bringt sogar ihn auf so völlig irrationale Gedanken. Adam ist stabil genug, dass er sich selbst entlassen durfte. Das hätte doch niemand verantwortet, wenn er im Schlaf einfach sterben könnte.
Sie spürt, wie Adam den Kopf dreht und seine Wange nun warm am anderen Oberschenkel liegt. Vincent will trotzdem nicht schlafen. Aber das ist was anderes.
Herzklopfen, als er die Wohnungstür aufschließt. Im Flur hängt Schaumbadduft zwischen dem blauen Mantel und der dunklen Stoffjacke.
Doch die Stille ist ansteckend, als Wiktor den Schlüssel vorsichtig wieder im Schloss dreht und die Schuhe loswird. Seine Jacke findet Platz zwischen ihren.
Der blumige Duft wabert aus dem Bad und mischt sich mit den Blumen aus der Küche. Der Tisch spricht vom Kochen und es sieht ganz nach Auflauf aus, allerdings ist der Ofen dunkel. Ein Grinsen drängt sich auf, denn die große, eckige Schale steht bis zum Rand gefüllt auf dem Rost im Dunkeln. Einfach vergessen. Mit leisem Brummen erwacht das Gerät zum Leben, bevor Wiktor die beiden endlich im Schlafzimmer entdeckt.
Vincent hat den Kopf an die Wand hinter sich gelehnt, ihre Finger ruhen in Adams Haar und auf seiner Schulter. Sein Kopf in ihren Schoß gebettet. Beide atmen sie friedlich.
Weiche Wärme im Herzen. Endlich stimmt das Bild dieses Raumes. Genau da gehören die beiden hin und schon sieht das Bett nicht mehr so endlos aus.
Als er leise heran tritt, hebt Vincent den Kopf und lächelt ihm mit klarem Blick entgegen. Wiktor kniet sich auf die Matratze und spürt ihre Hand sanft an der Wange, als er die Stirn an Vincents legt. „Cześć.“ „Willkommen zuhause.“ Ihr Flüstern zart auf seiner Wange, als er mit der Nasenspitze zärtlich über ihre streicht. Sein Hals wird eng und ihre Gesichter verschwimmen ein bisschen. Diese unendliche Erleichterung. Sie sind wirklich hier. Und sie sind okay. Vincent streichelt mit dem Daumen seine Wange. „Ich… ich bin so froh, dass er hier ist.“ Sie nickt und in ihrem Blick ist alles gesagt. „Ich hatte die ganze Zeit Angst. Obwohl vorhin schon alles in Ordnung war. Aber irgendwie…“ Da passen keine Worte mehr. Weder auf Deutsch, noch auf Polnisch. Dieses Gefühl ist nicht zu beschreiben. „Ich weiß.“
Stirn an Stirn atmen sie tief durch. Und es hilft. Der Kloß im Hals verschwindet und nach ein paar Mal blinzeln sieht Wiktor auch wieder Adams Gesicht.
Behutsam streicht er ihm das Haar aus der Stirn; findet wieder Vincents Finger. „Wie geht’s ihm?“
„Okay, denk ich.“ Klar. Eigentlich kann ihm das nur Adam beantworten. Vorsichtig legt er sich neben ihn, schmiegt sich leicht an seinen Rücken und bettet das Kinn auf Vincents Knie, als er den Arm um Adam legt; vorsichtig nach seinen Fingerspitzen aus dem Gips tastet. Vincent streichelt sanft über ihre Hände. „Eigentlich wollten wir gar nich schlafen, wenn der Ofen an is…“ „Vielleicht liegts daran, dass ihr ihn vergessen habt.“ „Oh.“
Stimmen streicheln Adams Geist.
Er spürt ein Bein an der Wange. Vincent. Und eine Brust am Rücken. Das muss Wiktor sein. Ihre Hände liegen auf seinem Bauch.
„Wer hat wen vergessen?“ Seine Stimme gehorcht ihm zum Glück.
Als er sich umdreht, sieht Adam zuerst in Wiktors Lächeln. Glasig sind die blauen Augen, doch er beugt sich zu ihm und legt die Stirn an seine. Adam atmet tief ein und als er Wiktors Finger sanft zwischen seinen spürt, wird ihm klar, dass sie alle drei verbunden sind.
„Ich bin jetzt auch da, Kochanie.“ „Schön.“
Sie lösen sich und Adam setzt sich auf. „Das beantwortet meine Frage aber nich.“
„Ich hab den Ofen vorhin vergessen.“ „Achso.“ Er kommt sich albern vor, dass ihn dieser einfache Satz beunruhigen konnte.
Vincent nickt nur und lehnt den Kopf an Wiktors Schulter. Der legt kurz die Wange an die weichen Locken, dann nimmt er Adams gesunde Hand. „Wie fühlst du dich?“
Adam zögert. Sein Knie berührt Vincents.
Am liebsten wärs ihm, wenn diese Schleier von Schmerz und Sorge aus ihren Blicken verschwinden würden. Aber das schafft er nicht, wenn er lügt. Das würde das Problem nur verlagern und am Ende schlimmer machen. Aber geradeheraus zu sagen, dass die Schmerzen die ganze Zeit brennen, mal weniger und manchmal fast unerträglich – das schafft er auch nicht. Sie können ihm nichts davon abnehmen, warum soll er sie dann damit quälen? Außerdem ist er selber Schuld, wenn er die Tabletten ablehnt. Es ist ja auch so dumm. Es gibt keinen rationalen Grund, die Dinger zu verweigern. Er sollte sie einfach nehmen.
Aber schon bei dem Gedanken daran, will er vom Bett steigen und sich selbst wegsperren. Diese Angst hat nach all den Jahren immer noch viel zu viel Kraft. Wahrscheinlich bleibt ihm nichts anderes übrig. Es sei denn…
„War das dein Ernst vorhin?“
Wiktor runzelt die Stirn, doch sein Mundwinkel zieht sich in ein besänftigendes Lächeln. „Natürlich. Ich war grade noch bei Szymon.“
Vincents Grinsen spricht von Erinnerungen. „Hat er immer noch so hohe Standards?“ „Deswegen kauf ich nur bei ihm.“ Ihre Blicke spielen miteinander.
„Und ihr glaubt wirklich, dass das Zeug hilft?“
Vincent hebt die Schultern. „Mir hats damals geholfen. Und es gibt viele chronisch kranke Menschen, dies zur Schmerztherapie verschrieben bekommen. Das kann schon funktionieren.“
Wiktor nickt. „Einen Versuch ist es wert, oder? Du musst das nicht einfach ertragen, nur weil die Tabletten keine Option sind.“
Adam muss leise lachen. Wovor hat er eigentlich Angst? Früher hat ers auch gut vertragen. Also selbst, wenn es bei den Schmerzen nicht hilft, wird er sich anderweitig besser fühlen.
„Okay, wir versuchens.“
„Ich hols.“ Vincent steht auf und streckt sich genüsslich.
„Linke Jackentasche“, erklärt Wiktor noch schnell, bevor sie im Flur verschwindet und einen Daumen in ihre Richtung hebt.
Adam spielt mit seinen Fingern und kann spüren, dass Wiktor etwas in sich festhält. Als er aufsieht, schimmern die blauen Augen wieder. Adam lehnt sich zu ihm und lässt sich in seine Arme ziehen. Spürt, wie sein Körper sich von allein an ihn schmiegt, so nah es geht. Verbirgt das Gesicht an seinem Hals und atmet tief ein. Wiktor murmelt gegen seine Schulter: „Tak bardzo za tobą tęskniłam.” Du hast mir so gefehlt. Mit dem gesunden Arm zieht er ihn noch mehr an sich und spürt, wie ihn nun auch die Tränen überkommen: „Przepraszam. Nie chciałem cię zranić, Kroliczku.” Es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht wehtun, Kroliczku.
Wiktors Atem zittert, als er ihm wieder in die Augen sieht. Sein Gesicht sanft in beide Hände nimmt. „Du hast mir nich wehgetan. Das war sie und niemand sonst, okay?“ Adam schluckt erfolglos gegen den Kloß im Hals. Kann nur ergeben nicken. Die Worte sind genauso wahr wie vor ein paar Stunden schon. Wiktors Stimme klingt belegt: „Ich will nicht ohne dich leben müssen, Adas.“ Mit dem Daumen streicht er Wiktor eine Träne von der Wange und schmiegt sich in seine Berührung, als er flüstert: „Wirst du nich mehr, versprochen.“
Wiktor nickt und atmet zitternd ein. Dann legt er die Lippen unendlich sanft auf Adams. Schmeckt nach Tränen, nach Versprechen und so verdammt viel Liebe. Adam vergräbt das Gesicht an seiner Halsbeuge und spürt seine Wange warm am Ohr. Sie warten, bis die Tränen sich verzogen haben und ihre Herzen wieder ruhiger schlagen.
Als Wiktor sich die Tränen mit dem Zipfel der Bettdecke trocknet und Adam das Kopfkissen dafür nutzt, kommt Vincent auf leisen Sohlen wieder ins Zimmer und öffnet die Balkontür, bevor er sich zu ihnen setzt und das kleine Tablett mit Joints und Feuerzeug zwischen ihnen ablegt.
Der würzige Geruch hüllt sie ein wie eine weiche Decke. Adam lehnt am Kopfende des Bettes und wühlt die Finger ab und an in Vincents Locken. Sie hat sich seitlich gegen sein gesundes Knie gelehnt. Wiktor sitzt neben Adam; die Beine über Vincents angewinkelt, sodass seine Füße zwischen ihren Knien gefangen sind. Gerade lehnt er sich zu ihr und dem Feuerzeug entgegen. Der Joint glüht auf, als Wiktor einen tiefen Zug nimmt, dann spürt Adam seine Finger sanft am Kinn. Folgsam dreht er ihm den Kopf zu. Ihre Lippen streifen sich nur, Adam öffnet den Mund und Wiktor atmet aus, bevor er Adams Lippen mit seinen versiegelt. Mit dem Rauch zieht ein heißes Kribbeln durch Adams Körper, das er so lange für verloren glaubte. Er hätte nie gewagt, sich so einen Moment je wieder vorzustellen.
Während er Vincent den Kopf krault und sie sich genüsslich gegen seine Finger lehnt, beugt Wiktor sich wieder zu ihr. Sie lächeln einander an, er streift ihre Nase zärtlich mit seiner, bevor er an dem Joint zwischen ihren Fingern zieht.
Noch so eine kleine Geste, die Adam vorher nie aufgefallen war. Doch in den letzten Tagen wurde immer deutlicher, dass die beiden sich näher gekommen sind. Und es macht Adam keine Angst, sondern Herz leichter. Da war immer ein winziger Eiszapfen aus Angst. Ein Überrest aus der Zeit, als er glaubte, sich für einen von beiden entscheiden zu müssen. Dass sie sich überhaupt zu dritt finden konnten, war zu schön um wahr zu sein. Und Adam weiß, dass die beiden sich nicht auf diese Art lieben, wie er es tut. Und doch scheint da etwas zu sein. Eine liebevolle, zärtliche Bindung, die diese wunderbare Dreisamkeit erschaffen hat. Sie fühlen sich wohl miteinander. Alle drei.
Eigentlich unglaublich, dass sein Herz sich so wohlfühlen darf. Dass er Wiktor an seiner Seite hat, für den er schon immer so viel fühlte, was er nie wahrhaben konnte, bis es fast zu spät gewesen wäre. Und Vincent, der ihm von Anfang an das Herz gestohlen und nie zurückgegeben hat. Einen von ihnen zu verlieren, hätte so sehr wehgetan, dass er sich lange vor beiden zurückgezogen hat. Aber er musste sich nicht gegen einen entscheiden, sondern für sie. Im Nachhinein so einfach und doch schien diese Entscheidung so schwer.
Und sie waren drauf und dran, all das zu verlieren.
Sie spüren beide sein zittriges Einatmen.
Vincent setzt sich auf, um ihn anzusehen und Wiktor dreht sich ihm zu. Adam lehnt den Kopf nach vorn und spürt erleichtert, wie sie einander alle mit der Stirn berühren. „Ich liebe euch. Alle beide. Und es tut mir leid, dass ich so viel Scheiße gebaut hab.“ Vincents Hand sanft am Rücken, Wiktors um seine Finger. Er muss ihnen in die Augen sehen. „Ich will nicht, dass das kaputt geht.“ „Das will keiner von uns.“ Wiktor nimmt Vincents Hand.
„Ich mags sehr, was wir haben. Und mit dir ist das jetzt auch wieder richtig.“ Vincent legt ihre verschränkten Finger auf Adams.
Wiktor zieht seine Kette aus der Tasche. Wieder der Kloß im Hals, als sich das kleine Kreuz endlich wieder auf Adams Brustbein legt.
Wiktors Kuss sanft im Nacken, nachdem er die Kette geschlossen hat. Vincents Augen schimmern jetzt auch. Und sie schmiegt das Gesicht in Wiktors kurzes Streicheln.
„Ich möchte, dass wir uns was versprechen.“ Die blauen Augen wandern ernst von Adam zu Vincent: „Nie wieder solche Alleingänge. Bitte.“
Adam nickt mit bebendem Herzen.
„Versprochen“, flüstert Vincent.
„Wenn so viel auf dem Spiel steht, müssen wir ehrlich miteinander sein.“ Kurz weicht er ihren Blicken aus, fängt sich dann doch wieder. „Und ich weiß, dass wir das auch können.“
Vincent nickt; die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen ist zurück.
„Ich war ja vorhin bei Pawlak.“ Ein schweres, flaues Gefühl im Magen, aber Wiktor drückt sanft ihre Finger und spricht weiter: „Tanja Doroshenko ist aus der U-Haft geflohen.“
Eiskalte, scharfe Wut flammt in Vincent auf. Sie hört sich selbst leise fauchen. Wiktor spricht leiser, als sei die Nachricht seine Schuld, aber er hört nicht auf, bis alles gesagt ist. „Sie ist untergetaucht und es gibt keine Anzeichen dafür, dass für uns oder andere eine Gefährdungslage besteht. Pawlak will es euch auch in den nächsten Tagen sagen.“
Ihre Finger bleiben verwoben. Aber die andere Hand krallt Vincent in die Bettwäsche, als sei der Stoff Tanjas Gesicht. „Tut mir leid, aber ich musste es euch sagen.“
„Ich bin nicht wütend auf dich, Serce.“
Adam atmet tief durch. Sein Blick wirkt auf einmal ganz klar. „Dann müsst ihr mir jetzt was versprechen!“ Die Grünen Augen wandern von Vincent zu Wiktor: „Wir wissen nicht, was das für uns jetzt bedeutet. Aber egal, was da noch passiert, egal wie groß unsere Wut und unser Frust ist –Ihr werdet euch niemals von Rachegelüsten zu irgendwas verleiten lassen. Das müsst ihr mir versprechen.“ Vincent spürt Wiktors Zögern wie ihr eigenes. „Proszę!“
Vincent atmet tief aus. „Wisst ihr, was für ein scheiß Glück wir hatten? Und wir werden nicht nochmal die Chance bekommen, das zu überstehen. Ich will uns nicht verlieren. Nicht an sie und ihr verdammtes System.“ In Adams Blick eine Mischung aus Wut und absoluter Angst, die er noch nie gesehen hat. Nicht mal während seiner Flashbacks.
„Okay.“ Wiktors Stimme klingt belegt. „Keine Rache an ihr, niemals. Obiecuję“
Vincent nickt nachdrücklich. „Obiecuję“
„Ich werds auch nicht tun, das versprech ich euch.“
Adam zieht sie beide in die Arme. Sie atmen tief durch.
Und als sie alle drei die Stirn der anderen beiden auf der Haut spüren, sinkt die Erkenntnis auf ihre Schultern, was das bedeutet.
Es bedeutet, dass die Person, die Vincent das Liebste im Leben fast genommen hätte, davon kommen kann.
Es bedeutet, dass Wiktor weiß, dass dieser Mensch nie durchleben werden muss, was er ihnen angetan hat.
Es bedeutet, dass da draußen jemand weiß, dass Adam ohne ihren Tod nie mehr zur Ruhe kommen wird. Jemand, der genau daraus Vergnügen zieht.
Es bedeutet, dass es nie ein Gefühl von Gerechtigkeit geben wird. Denn selbst wenn das System, dessen Teil sie selbst sind, dann doch funktioniert, wie es konzipiert ist, wird das ihr Leid nicht ausgleichen können. All das ist ihnen entronnen.
Sie wissen, dass sie nur eines tun können, wenn sie an all dem nicht kaputt gehen wollen. Wenn sie sich selbst und ihr kleines Glück noch irgendwie beschützen wollen.
Ihre inneren Stimmen wissen es. Unabhängig voneinander.
Wenn es entrinnt, akzeptiere.
Notes:
And thats a wrap.
Eigentlich hätte das alles viel schneller gehen sollen. Aber manchmal brauchen Plotholes lange Reparatur und ich denke, das war es Wert. Jetzt bin ich damit zufrieden.Vielen Dank fürs Lesen und Durchhalten. Lasst gerne alle Gednaken da, die ihr habt.
frubeto on Chapter 1 Wed 13 Apr 2022 09:33PM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 1 Thu 14 Apr 2022 11:38PM UTC
Last Edited Thu 14 Apr 2022 11:42PM UTC
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21PilotsWithGuns on Chapter 1 Wed 13 Apr 2022 10:28PM UTC
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ErieRain (iwillbuyaflowershop) on Chapter 1 Thu 14 Apr 2022 05:32AM UTC
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MarillianFlowers on Chapter 1 Thu 14 Apr 2022 04:39PM UTC
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21PilotsWithGuns on Chapter 2 Fri 29 Apr 2022 04:28PM UTC
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MarillianFlowers on Chapter 2 Sat 30 Apr 2022 01:13PM UTC
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frubeto on Chapter 2 Sat 30 Apr 2022 03:33PM UTC
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elke (weidli) on Chapter 2 Sun 01 May 2022 02:15PM UTC
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Eleanor_Lavender on Chapter 2 Thu 05 May 2022 05:14PM UTC
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GoSherlocked on Chapter 3 Sat 29 Apr 2023 05:51PM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 3 Sun 14 May 2023 07:08PM UTC
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BrassHorse on Chapter 3 Sat 29 Apr 2023 07:57PM UTC
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stillnotmarikka on Chapter 3 Sun 30 Apr 2023 07:01AM UTC
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GoSherlocked on Chapter 4 Sat 08 Jul 2023 11:18AM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 4 Fri 11 Aug 2023 09:58AM UTC
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BrassHorse on Chapter 4 Sat 08 Jul 2023 05:47PM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 4 Fri 11 Aug 2023 10:06AM UTC
Last Edited Fri 11 Aug 2023 10:09AM UTC
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stillnotmarikka on Chapter 4 Sat 15 Jul 2023 06:11AM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 4 Fri 11 Aug 2023 10:09AM UTC
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BrassHorse on Chapter 5 Sun 15 Oct 2023 10:12PM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 5 Sun 22 Oct 2023 02:13PM UTC
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Kalinke on Chapter 7 Tue 07 May 2024 04:11PM UTC
Last Edited Tue 07 May 2024 04:15PM UTC
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Mondlicht_Schatten (MondlichtSchatten) on Chapter 7 Wed 10 Jul 2024 10:36AM UTC
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