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Murot und das Prinzip Unvorhersehbarkeit

Summary:

Im Garten der Familie Muthesius steht Magda Wächter mit einer Pistole im Nacken da und fragt sich, ob um sie herum alle den Verstand verloren haben. Und was ist das für ein Knacken im Gebüsch ...?
Und noch etwas ist zu hören: Schritte, die sprichwörtlich die Erde erbeben lassen, und ein Brüllen, das Magda durch Mark und Bein fährt.

AU zu »Murot und das Prinzip Hoffnung«. Vorsicht, Felix ist hier ganz in seiner canongetreuen Arschloch-Phase.

Kapitel 1: Zum Whumptober-Prompt für Tag 8: Held at Gunpoint.
Kapitel 2: Zum Whumptober-Prompt für Tag 11: Hidden Injury.
Kapitel 3: Zum Whumptober-Alternativ-Prompt für Tag 12: "Concussion".

Notes:

AN: Diese Geschichte stammt noch aus dem Frühjahr, als ich noch dachte, schlimmer als »Murot und das Prinzip Hoffnung« könne es bei »Wiesbaden« nicht werden. Tja, heute weiß ich, wie falsch ich damit gelegen habe … Ich habe hier mal versucht, mein „Allheilmittel“ für ungeliebte Filme auf »Prinzip Hoffnung« anzuwenden, es ist dennoch kein klassisches Fix-it für die Charaktere, sondern wohl nur für mich. Vielleicht sollte man den Text trotz des Whumps nicht allzu ernst nehmen.

Der komplette gesprochene Dialog des ersten Kapitels (und nur hier!) ist direkt aus dem Film »Murot und das Prinzip Hoffnung« (Regie: Rainer Kaufmann, Drehbuch: Martin Rauhaus. Hessischer Rundfunk, D 2021) übernommen. Mein Canon ist der »Tatort Wiesbaden« bis Folge 13, bis dahin gehört alles dem Hessischen Rundfunk. Mir gehört hier nur die Reihenfolge der Wörter mit Ausnahme des genannten Dialogs. Es handelt sich um ein Crossover, das zweite Fandom wird im zweiten Kapitel enthüllt.

Ein ganz herzliches Danke an Ceres für die damalige Beta-Arbeit!

Zum Whumptober-Prompt für Tag 8: Held at Gunpoint.

Chapter 1: 1. Murot und die große Ignoranz

Chapter Text

Murot und das Prinzip Unvorhersehbarkeit

2020

 

1. Murot und die große Ignoranz

Im Allgemeinen mochte Magda Tiere. Sie mochte Katzen und sie liebte Elefanten und sie konnte den Lebewesen, die sie mit der Fliegenklatsche verfolgte, zumindest zugestehen, dass auch sie im Ökosystem ihren Platz hatten (wenn auch nicht in ihrer Küche). Sie kraulte Diensthunde, wenn die Hundeführer*innen (und die Hunde …) es erlaubten, spendete ab und zu für den Tierschutz und einmal hatte sie sich auf einem Kindergeburtstag sogar (angeblich) unsterblichen Ruhm bei Vally und ihren Freundinnen erworben, weil sie sich ohne zu zögern getraut hatte, sich eine riesige! echte! lebende! Boa constrictor um den Hals legen zu lassen, während die andere Begleitmutter (die vom Geburtstagskind, die unbedingt diese angeberische Actiontierparty ausrichten musste) panisch in die hinterste Ecke geflohen war. Es ließ sich also nicht sagen, dass Magda etwas gegen Tiere gehabt hätte.

 

Trotzdem – es gab Grenzen.

 

Und es gab Regeln. Haustiere gehörten ins Haus, Wildtiere gehörten in die Wildnis und ausgestorbene Tiere gehörten ins Museum. Manche Dinge waren simpel und Magda konnte nicht verstehen, wieso Menschen immer und immer wieder gegen diese so einfachen Gesetzmäßigkeiten verstoßen mussten. Dass da nichts Gutes bei rumkommen konnte, hätte sich jede Person, die auch nur über ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand verfügte, denken können. Warum schien dann bei den Personen, die sich anmaßten, mit der Natur herumzuspielen, nie jemand mit Verstand dabei zu sein?

 

*

 

Magda hasste diesen Fall. Sie hasste, dass es jemand wagte, einfach so fünf Menschen umzubringen, und ihre Ermittlungen immer noch nur stockend verliefen; sie hasste dieses Philosophenpack im Allgemeinen, das sich für was Besseres hielt als normalsterbliche Menschen, sie hasste diese … diese arrogante Psychotante im Besonderen, die gerade in einer schlechten Richard Harloff-Imitation darüber schwadronierte, all die Morde nur aus Rache an Murot geplant zu haben.

 

Sie hasste diesen verdammten Neonazi, der es geschafft hatte, sie zu überwältigen, und ihr nun eine Pistolenmündung in den Hals drückte.

 

Sie hasste diesen Schauspieler, der sie gezwungen hatte, zum allerersten Mal ihre Dienstwaffe tatsächlich gegen einen Menschen einsetzen zu müssen – damit sich dann auch noch herausstellte, dass sie ihn vollkommen unnötig angeschossen hatte, weil er nur mit einer Wasserpistole ‚bewaffnet‘ gewesen war, und dieser Gedanke quälte sie so …

 

Sie hasste ihren Verdacht, dass die kleine Schwester von Madam Weiblicher-Harloff-Verschnitt und Mister Wasserpistole vermutlich auch irgendwie bei dieser ganzen Scheiße mit drin hing, denn niemand konnte wirklich so unglaublich menschenfreundlich und perfekt sein (das hatte nicht einmal Valerie in ihren ätherischsten Eins-mit-dem-Universum-Phasen geschafft).

 

Und ja, sie hasste auch die Tatsache, dass sie sich mal wieder von Murot in diese Scheiße hatte reinziehen lassen, obwohl er sie in letzter Zeit wie einen lebenden Fußabtreter behandelt hatte, dass er gerade den Täter*innen die Tatwaffe zurückgebracht hatte, dass er mal wieder seine eigene scheiß Dienstwaffe nicht dabeihatte, dass sie hier stand, draußen, im Dunkeln, mit einer scheiß Waffe an ihrem Hals, gehalten von einem scheiß Neonazi, der schon vorher klar gemacht hatte, was er von ihr, Magda, hielt, nämlich nichts, weniger als nichts –

 

Und Murot fiel es nicht einmal ein, irgendetwas zu unternehmen, obwohl er doch angeblich die Fortbildung ‚Gewaltlose Mediation bei Geiselnahmen‘ mit Bravour bestanden hatte –

 

Und wieso mussten sie alle hier draußen im Garten im Dunkeln herumstehen, umgeben von dichtem Buschwerk und hohen Bäumen, die fast schon ein kleines Wäldchen bildeten, nur von den noch immer leuchtenden Scheinwerfern ihres Autos erhellt, als würde das irgendetwas geben?

 

Von Mierendorffs Hand auf ihrer Schulter, seine Waffe bohrte sich mal in ihren Hals, mal in ihren Nacken, als könnte er sich nicht so recht entscheiden, wie er sie erschießen wollte, und sie stand vollkommen wehr- und schutzlos da, die Hände noch immer erhoben, und das Einzige, was sie tun konnte, war, Murot innerlich anzuflehen, dass er doch bitte irgendetwas tun sollte, irgendetwas Vernünftiges zur Abwechslung mal, weil sie gerade nicht mehr tun konnte, weil sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm zu helfen, weil sie ein Mensch war, der nicht einfach so erschossen werden wollte –

 

Und irgendwo war doch gerade ein Knacken zu hören gewesen, oder? Oder?

 

*

 

Vor Jahren hatten sie mal einen Wildpark bei Hanau besucht, Valerie, Martin und sie. Dort hatte es Rothirsche gegeben und Damwild, das einem Leckerlis aus der Hand fraß, riesige Elche, schnarchende Dachse, Eulen und sogar Wölfe. Eigentlich hatte Magda überhaupt keine große Lust gehabt, dorthin zu fahren, Wildtiere gehörten ihrer Meinung nach in die Wildnis und nicht eingesperrt, um von Menschen begafft zu werden. Aber dann hatte sie sich doch dazu überreden lassen und immerhin gab es dort keine exotischen Tiere, nur mehr oder weniger heimische Arten, und die meisten Gehege kamen Magda so groß und so dicht bewaldet vor, dass es den Tieren vielleicht auch egal war, dass sie dort eingesperrt waren.

 

Sie hatte sogar bedauert, dass sie bei dem dichten Wald im Wolfsgehege wohl gar kein Tier zu sehen bekommen würden, als sie auf einmal ein Heulen hörten. Es klang wie aus einem Horrorfilm oder einer Naturdoku oder so und Vally hatte Martin und sie an den Händen gepackt und war trotz der Warnung, dass man am Gehege nicht rennen sollte, losgerannt in die Richtung, aus der das Geräusch kam, hatte ihre Eltern erbarmungslos mit sich gezerrt.

Es war etwas Besonderes gewesen, diese scheuen Tiere einmal aus der relativen Nähe beobachten zu können, wie sie zu dritt beisammenstanden, die Köpfe in den Nacken gelegt, und gemeinsam heulten. Dass die Polarwölfe im Nachbargehege dann auch noch antworteten, war ein Schauspiel gewesen, das Magda bis heute nicht vergessen hatte.

 

Und trotzdem.

Wildtiere gehörten in die Wildnis …

 

*

 

Angst. Todesangst. Normalerweise half ihr das doch beim Denken: wenn ihr die Zeit davonrannte, wenn sie die Gefahr direkt im Nacken spürte.

Jetzt spürte sie die Gefahr im Nacken, aber sie konnte nicht behaupten, dass das ihrer Konzentration zuträglich war. Offenbar hatte ihr Verstand doch Grenzen, was er mitzumachen bereit war. Hilflos sah sie Murot an, hoffte inständig, dass er endlich mal irgendetwas Sinnvolles unternahm, anstatt nur blöd in der Gegend herumzustehen und sich bedrohen zu lassen, aber natürlich machte er nichts, außer Widerworte zu geben, und Magda ahnte schon, dass, wenn sie überleben wollte – und das wollte sie, verdammt nochmal, sie wollte überleben und Murot retten und ihm seine verdammten Ohren langziehen dafür, dass er sie beide so in Gefahr gebracht hatte –, sie selbst würde aktiv werden müssen … Ganz langsam ließ sie die rechte Hand ein wenig sinken; abgesehen davon, dass ihr die Arme allmählich schwer wurden, hatte sie vielleicht noch eine Chance, wenn sie –

 

Da, wieder dieses Knacken im Unterholz! Irgendetwas war doch hier, irgendetwas Großes, den dumpfen schweren Geräuschen nach, die aus der Dunkelheit kamen. Natürlich, es konnte ja nicht sein, dass diese irren Serienmörder*innen ihr einziges Problem waren – den Gedanken, dass es sich einfach nur um Wildschweine oder dergleichen handeln konnte, verwarf Magda sofort, so viel Glück hätte sie nicht, das wusste sie. Scheiße. Warum nur beachteten die anderen diesen Lärm nicht? Zu sehr mit sich selbst beschäftigt? Und warum dachten die meisten Menschen nie nach?

 

Murot hingegen hatte nun wohl genug über seinen nächsten – oder eigentlich ersten – Schritt nachgedacht. „Und jetzt?“, wollte er wissen (Magda gab ihre Hoffnung auf, dass von ihm noch irgendetwas Sinnvolles kommen könnte).

„Ich dachte schon, Sie fragen nie“, gab von Mierendorff zurück.

„Gut pariert, Jürgen!“, krähte Paul Muthesius dazwischen und für einen Moment konnte Magda nicht anders, als diesen Möchtegern-Schauspieler anzustarren und sich zu fragen, ob er das etwa ernst meinte. Diese Leute konnten offenbar noch nicht mal richtig Streitgespräche führen (was vielleicht ein Grund war, warum Murot sich bislang mit seinen super Verhandlungsfähigkeiten so eklatant zurückgehalten hatte; wenn das Gegenüber nur zu irren Monologen fähig war, war vermutlich auch verbale Vorsicht angesagt).

Aber dann fühlte sie wieder den Druck der Pistolenmündung an ihrem Hals, durch den Mantelkragen und den dicken Schal hindurch, und auf einmal fragte sie sich, was Murot wohl machen würde, wenn dieser elende Nazi jetzt abdrückte, ob ihn wenigstens das zum Handeln bewegen würde … Wieder Knacken, Rascheln, Stampfen, ganz in der Nähe. Magda wagte nicht, den Kopf zu bewegen und sich umzudrehen, sich am besten gar nicht bewegen, solange jede Bewegung ihre letzte sein konnte …

 

„Jemand bricht bei meiner Mutter ein“, begann von Mierendorff, den allgemeinen Wir-bringen-alle-um-die-uns-nicht-in-den-Kram-passen-Plan darzulegen, und das gab Magda Hoffnung, denn wenn der Nazi jetzt noch große Reden schwingen wollte, dann hatte sie vielleicht genug Zeit, um sich selbst irgendetwas auszudenken, wie sie Murot und sich aus dieser Lage befreien konnte … „Sie überrascht ihn, der Einbrecher erschießt sie. Und Sie, Herr Murott –“

„‘Murott‘“, wiederholte der Schauspieler wie ein verspäteter Souffleur und begeierte sich, als handelte es sich um einen guten Witz.

„ – und Ihre Kollegen“, – offenbar hatte von Mierendorff ebenso große Freude daran, Murots undeutschen Namen zu verhunzen, wie daran, Magdas Existenz in einem generischen Maskulinum verschwinden zu lassen –, „hatten diese irre Theorie, dass meine Mutter in Gefahr wäre. Sie beide kommen dazu und sind tot.“

Wow, was für ein überraschendes Ende, dachte Magda sarkastisch, starrte Murot an, fragte sich, was in seinem Kopf vorging, ob er an ihrer Rettung arbeitete, ob er nur den Fall lösen wollte und ihm alles andere – inklusive ihr – egal war, ob er das verdammt nochmal auch hörte …

 

„Und Sie glauben im Ernst, die lassen Sie leben?“ Anscheinend hatte Murot nun von Mierendorff als den schwachen Punkt der irren Gruppe ausgemacht, dass er mit seinem Verhandlungsversuch nun bei ihm ansetzte. Warum seine Taktik allerdings eher auf Eskalation als auf Deeskalation abzuzielen schien, während der Nazi auf ihren Nacken zielte, erschloss sich Magda beim besten Willen nicht.

Sie schloss kurz die Augen, als sie die Mündung der Waffe unter ihrem rechten Ohr spürte, so stark an sie gepresst, als wollte von Mierendorff ihr die Kugel direkt durch den Hals drücken, ohne den Abzug betätigen zu müssen.

„Sie … Sie können ja gar nicht anders“, behauptete von Mierendorff, aber Magda hörte den leisen Anflug von Zweifel in seiner Stimme, vielleicht wusste Murot ja tatsächlich, was er tat, auch wenn sie gerade nicht das Gefühl hatte, dass ihre Überlebenschancen dadurch stiegen –

Und sie hörte dieses immer lauter werdende Knacken und Stampfen und Geräusche wie von –

 

„Nein?“, entgegnete Murot spöttisch. „Ihre Partner sind ein Komiker und eine Psychopathin, die Leuten in den Hinterkopf schießt, weil sie sich mit 13 unglücklich verliebt hat.“

– Darüber, wie krank das war, würden sie noch zu reden haben, aber momentan fragte Magda sich nur, warum niemand außer ihr zu bemerken schien, dass sie hier draußen verdammt nochmal nicht allein waren – 

„14“, korrigierte Inga Muthesius ihn mit leisem Tadel, „mit 14, Felix. Immer schön bei der Wahrheit bleiben.“

„Und damit sagen Sie was?“

Na, was wohl!, schrie Magda ihn in Gedanken an, dass du für die auch nur ein nützlicher Idiot bist! Mir unterstellen, ein unterentwickeltes Gehirn zu haben, aber selber nicht eins und eins zusammenzählen können?! Wie blöd bist du? Sie ließ auch ihre linke Hand ein paar Zentimeter sinken; irgendetwas würde gleich passieren, egal, ob Murot diesen in jeglicher Hinsicht dummen Nazi dazu brachte, durchzudrehen (mit ungeahnten Folgen für Magda), oder ob sie gleich die Ursache für die immer lauter und lauter werdenden Geräusche zu sehen bekommen würden, und Magda wollte bereit sein …

 

Nur noch mit halbem Ohr hörte sie zu, wie Murot weitersprach:

„Jemand bricht bei Ihrer Mutter ein“, spann er jetzt sein eigenes Szenario. „Sie überrascht den Einbrecher. Der erschießt sie und Wächter und mich.“ – Von Mierendorff bohrte seine Waffe auf einmal so fest in Magdas Hals, dass sie dem Druck nachgeben und den Kopf zur Seite drehen musste, sie biss die Zähne fest zusammen, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben – „Und raten Sie mal, was dann passiert?“

Einen Moment herrschte Stille, wenn man das denn Stille nennen konnte bei all den nächtlichen Naturgeräuschen um sie herum … Vielleicht kam von Mierendorff ja jetzt darauf, dass die Philosophenbrut ihn nach getaner Arbeit genauso ohne zu zögern beseitigen würde, wie sie all die anderen Menschen getötet hatten, die nun wirklich unschuldige Opfer gewesen waren. Magda sah von Murot zu den beiden Muthesius-Geschwistern, überlegte fieberhaft, ob Paul Muthesius lieber Murot zum Schweigen bringen würde, auf den er ja die ganze Zeit zielte, oder ob er lieber kein Risiko eingehen und auf seinen alten Nazi-Kumpel schießen würde und ob sie nicht dann direkt in der Schussbahn stand, woran Murot anscheinend auch keinen Gedanken verschwendet hatte …

 

„Er ist schlau, Jürgen. Das war er schon immer.“ Inga Muthesius war anscheinend entschlossen, zu retten, was noch zu retten war. Dass sie dabei trotz allem klang wie eine verknallte Teenagerin, machte es nicht besser.

Murot hielt dagegen. „Die haben jetzt keine Wahl, außer alles Ihnen anzuhängen.“

Und endlich, endlich! nahm von Mierendorff seine Waffe von Magdas Hals und richtete sie nun auf Paul Muthesius und Magda spürte förmlich, wie ihr die Knie wegsacken wollten … Gott sei Dank. Erleichtert schloss sie für einen Moment die Augen, gestattete sich, einmal tief durchzuatmen. Gott sei Dank …

„Und ist das so? Paul?“, wollte von Mierendorff wissen, während Magda sich am liebsten aus seinem noch immer festen Griff winden und einfach aufs Gras niedersinken lassen wollte und einfach nur kurz sitzen oder liegen, aber das ging ja nicht; die Gefahr war ja nicht vorüber … weder die eine noch die andere …

 

Irgendwo brach etwas Großes durchs nahe Unterholz, dieses verwilderte Anwesen bot einfach einen viel zu guten Lebensraum für allerlei Viechzeug, und auch wenn Magda das normalerweise begrüßt hätte (mehr Natur war doch immer gut, oder etwa nicht?) – jetzt war es einfach nur beunruhigend.

 

„Jürgen, das ist genau das, was ich dir jetzt sagen würde an seiner Stelle, um mein Leben zu retten.“ Wie um zu demonstrieren, dass er auf von Mierendorffs Seite stand, hielt Paul Muthesius seine Waffe weiter auf Murot gerichtet.

Aber wie lange noch?, überlegte Magda hastig, okay, besser, er schießt auf den Nazi als auf Murot, aber dann schießt er auch auf mich. Scheiße. Sich darauf vorbereiten, zur Seite zu springen? Sich fallen lassen? Am Boden – sicherer, aber weniger Bewegungsfreiheit; was war wichtiger? Nur am Rande bekam sie mit, wie sich nun auch Inga Muthesius wieder in das Gespräch einschaltete:

„Es ist nur ein Trick“, behauptete sie. „Bring’s zu Ende, Jürgen!“

„Es ist genau so wie damals“, redete auch Murot stur weiter. „Sie dachten, Sie gehören dazu. Bis Sie dann nicht mehr dazugehörten.“

 

In diesem Moment geschahen mehrere Dinge gleichzeitig und Magda hätte hinterher nicht sagen können, wie sie eigentlich überlebt hatten.

 

Von Mierendorff schoss auf Paul Muthesius, der seine Waffe gerade doch lieber auf seinen Nazi-Kumpel richtete, krümmte sich dann zusammen, weil sein alter Freund zeitgleich auf ihn geschossen und offenbar ebenfalls getroffen hatte; Magda versuchte, die Gelegenheit zu nutzen und ihm die Pistole abzunehmen, aber er versetzte ihr einen heftigen Stoß, dass sie paar Schritte zur Seite stolperte, richtete die Waffe dann wieder auf sie, als – plötzlich, vermutlich aufgeschreckt durch die Schüsse, ein Stegosaurus durch die Bäume brach und von Mierendorff niedertrampelte. Magda spürte, wie das riesige Tier sie an der Schulter traf und beiseite schleuderte; es fühlte sich fast an, als wäre sie von einem Auto angefahren worden. Instinktiv rollte sie sich weg, presste sich dann auf den Boden, legte sich schützend die Hände über den Kopf, machte sich so flach wie möglich, um nicht von dem wütend umherpeitschenden stachelbewehrten Schwanz getroffen zu werden. Über ihr war panisches Brüllen zu hören.

 

… und ausgestorbene Tiere ins Museum.

Chapter 2: 2. Murot und das Glück des Idioten

Summary:

"Und noch etwas war zu hören: Schritte, die sprichwörtlich die Erde erbeben ließen, und ein Brüllen, das Magda durch Mark und Bein fuhr."

Zum Whumptober-Prompt für Tag 11: Hidden Injury.

Notes:

Ahoi, Infos zum Crossover-Fandom diesmal aus Spoilergründen unten.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

2. Murot und das Glück des Idioten

 

Seit irgendwelche Leute die grandiose Idee gehabt hatten, dass das durch den Menschen nahezu vollkommen zerstörte Ökosystem der Erde unbedingt noch geklonte Dinosaurier brauchte, um vollends zu kippen, und irgendwelche anderen Leute auf die noch grandiosere Idee gekommen waren, besagte Dinosaurier freizulassen, hatten sich die Tiere in rasender Geschwindigkeit über nahezu den gesamten Erdball verbreitet.

Magda hatte mal gelesen, dass sämtliche in Deutschland (oder gar in Europa? Sie war sich nicht ganz sicher) vorkommenden Waschbären von vier Exemplaren abstammten, die „zur Bereicherung der hiesigen Natur“ am Edersee ausgesetzt worden waren. Nun, Waschbären mochten ein – wenn auch niedliches – Ärgernis sein, wenn sie die Mülltonnen und Vogelnester ausräuberten oder sich auf dem Dachboden einnisteten, aber sie waren nichts, absolut nichts im Vergleich zu Dinosauriern.

 

Dinos in allen möglichen Größen und Arten, vom handlichen, aber immer noch gefährlichen Compsognathus über den zwar pflanzenfressenden, aber durch seine Größe immer noch gefährlichen Triceratops bis hin zu den in jeglicher Hinsicht gefährlichen Velociraptoren und dem unbestätigten Gerüchten zufolge angeblich letztens im Taunus gesichteten, definitiv gefährlichen T.rex – sie alle tummelten sich auf einmal in einer Welt und in einer Zeit, in die sie verdammt nochmal nicht gehörten.

Und das war das eigentliche Problem, wie Magda sich immer wieder dachte, seit dieser Irrsinn begonnen hatte: Es waren Wildtiere, die nicht wussten, dass sie Wildtiere waren. Ein normales wildes Tier mied die Begegnung mit Menschen (wenn auch vielleicht nicht mit ihren Mülltonnen und sonstigen fressbaren Hinterlassenschaften), aber diese Urzeitwesen bemerkten Menschen kaum, wenn diese nicht gerade Jagd auf sie machten oder sie sonst in irgendeiner Weise quälten oder bedrohten. Wenn man sie frei umherstreifen ließ und sie trafen auf einen Menschen, dann kam unter Umständen das dabei heraus, was mit von Mierendorff passiert war – Matsch. Und Magda konnte ganz ehrlich nicht begreifen, wie man diese nun allgegenwärtige Gefahr nicht auf dem Schirm haben konnte.

 

*

 

Vorsichtig hob sie den Kopf ein wenig an, um nach der allgemeinen Lage zu sehen. Von Mierendorff war einerseits keine Gefahr mehr, andererseits war ihm auch nicht mehr zu helfen. Magda sagte sich, dass sie sich später dazu zwingen würde, Bedauern darüber zu empfinden; immerhin sollte kein Mensch ein solches Ende finden, auch wenn er ein scheiß Nazi und ein Mörder gewesen war. Sie ließ ihren Blick weiterwandern. Paul Muthesius war offenkundig getroffen worden, als von Mierendorff auf ihn schoss, zusammengekrümmt stand er da und hielt schon wieder die Waffe auf Murot gerichtet, während er sich die andere Hand auf den Bauch presste. Inga Muthesius stützte ihren Bruder – oder nahm sie ihm gerade die Pistole ab? Magda konnte es nicht so genau erkennen – und Murot …

 

Murot stand, Wunder, oh Wunder, noch immer mit erhobenen Händen da, starrte abwechselnd zu den beiden Mörder*innen und in die Richtung, in der der Stegosaurus verschwunden war, und schien sehr hektisch zu überlegen. Natürlich. Er dachte gefühlt nie daran, dass die Welt inzwischen eine andere geworden war und jetzt auch wieder gottverdammte Dinosaurier auf ihr wandelten, die sich nicht um menschengemachte Pläne (oder sonst irgendetwas Menschengemachtes, sofern es ihnen weder nützte noch sie bedrohte) scherten. Vermutlich hatte er dem ständigen lauten Geknacke im Unterholz wirklich keine Beachtung geschenkt, weil er es aus welchen Gründen auch immer nicht in seinen Dickschädel bekam, dass sich draußen aufzuhalten mittlerweile vielleicht einen Hauch gefährlicher geworden war als früher.

 

Manchmal fragte Magda sich, ob dieser Unwillen, sich an die neuen Zeiten anzupassen, reinem geistigen Selbstschutz oder einem hier sinnbefreiten Konservatismus entsprang.

 

Angespannt lauschte sie. Der Stegosaurus schien sich dem Klang nach zu entfernen, aber das waren nicht die einzigen Geräusche, die zu hören waren. Noch immer knackte und krachte es zwischen den Bäumen, aber in der Dunkelheit konnte Magda nicht erkennen, was den Lärm verursachte, und noch etwas, ein regelmäßiges Rauschen, wie von Leder oder schwerem Stoff, der durch die Luft geschlagen wurde …

Ihr Mund hatte schon „Vorsicht!“ gerufen, ehe sie überhaupt bewusst begriff, was dieses Geräusch verursachte. Noch immer auf dem Boden liegend, beobachtete sie, wie ein riesiges fliegendes Ungetüm (welche waren das nochmal? Pteranodons? Irgendeins von den Viechern, die in der Frankfurter Skyline nisteten und meistens über Rhein und Main oder dem Edersee auf Fischzug gingen) von oben auf das kleine Grüppchen zustieß und Paul Muthesius erwischte, ihn ein paar Meter mitschleppte und dann wieder fallen ließ, sodass der Schauspieler rücklings auf einem Gartenstuhl landete und damit umkippte. Das mutmaßliche Pteranodon ließ ein beinahe ebenso wütendes Kreischen hören wie Inga Muthesius.

 

Magda hatte genug gesehen. Sie rappelte sich auf – warum konnte sie sich eigentlich kaum auf ihren rechten Arm stützen? – und rannte zu Murot, der durch ihren Ruf immerhin weit genug wieder in die Realität gefunden hatte, um sich zu ducken. Mit der linken Hand packte sie ihn und zerrte ihn mit sich in Richtung der Villa von Mierendorff, wo in den Fenstern noch Licht brannte. Nur weg hier. Ob das jetzt unterlassene Hilfeleistung war, darüber konnten sie später diskutieren.

„Du hast nichts begriffen, Felix!“, rief Inga Muthesius ihnen nach und Magda spürte, wie Murot ernsthaft stehenbleiben wollte.

Entschlossen zog sie ihn weiter mit sich. Über ihnen wendete der Flugsaurier und setzte erneut zum Sturzflug an, während hinter ihnen Schüsse fielen. Magda verschwendete keinen Gedanken an die Hoffnung, dass das Pteranodon ihr Ziel war; aber immerhin konnte Inga Muthesius anscheinend nur treffen, wenn sie jemanden von hinten überwältigen und aus nächster Nähe direkt in den Hinterkopf schießen konnte. Ein paar Meter noch, dann wären sie beim Haus …

„Felix, lauf doch nicht weg!“ Die Stimme der Psychopathin, pardon, Psychotherapeutin war in einen leichten Singsang verfallen, als kümmerte es sie überhaupt nicht, dass ihr Verbündeter von einem Dino zertrampelt und ihr Bruder gerade von einem Flugsaurier endgültig den Garaus gemacht bekommen hatte. „Felix!“

 

Vom Wäldchen her kam lautes Getrappel; aus dem Augenwinkel sah Magda, wie ein etwa straußgroßer Dinosaurier herausgeschossen kam und durch den Garten rannte. Und noch etwas war zu hören: Schritte, die sprichwörtlich die Erde erbeben ließen, und ein Brüllen, das Magda durch Mark und Bein fuhr. Mit einem Satz sprang sie auf die Treppe, die auf die Terrasse führte, nahm dabei mehrere Stufen auf einmal. Nicht stehenbleiben. Nicht umdrehen.

Murot blieb auf der untersten Stufe stehen und drehte sich um. „Inga! Pass auf!“

Magda dachte irgendeinen Fluch, von dem sie sich später nicht mehr erinnern wollte, ihn gedacht zu haben. Die Treppe schon halb hinaufgesprintet, hielt sie an und wandte sich um.

Was sie sah, würde sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen, da war sie sich sicher.

 

In Filmen sah es immer so … amüsant aus, wenn Dinosaurier jemanden fraßen. Weil lebende Dinos heutzutage nicht mehr echt sein sollten, sondern nur Themenparkmonster oder computergenerierte Spezialeffekte, da konnte man sich über solche Szenen freuen, wie sich vermutlich der Straußen-Dino gerade darüber freute, dass es nicht ihn erwischt hatte. In der Realität waren panisches Schreien des Opfers, spritzendes Blut und das Geräusch von Zähnen, die Knochen zermalmten, weitaus weniger unterhaltsam. Mehr brechreizerregend. Instinktiv tastete Magda nach ihrer Waffe – purer Anstand hätte es ihrer Meinung nach trotz allem geboten, Inga Muthesius den Gnadenschuss zu geben –, aber ihre Dienstpistole lag irgendwo da hinten im Gras, wo von Mierendorff sie hingeworfen hatte. Also beschränkte sie sich darauf, Murot erneut bei der Hand zu nehmen und auffordernd zu ziehen. „Kommen Sie“, zischte sie ihm zu, als er sich im ersten Moment nicht rührte, „für sie können Sie nichts mehr tun. Murot, bitte!“

Endlich erwachte er aus seiner Schockstarre und rannte mit ihr ins Haus.

 

*

 

Sie warfen die Tür hinter sich zu, lehnten sich daran und ließen sich dann gemeinsam zu Boden sinken. Schwer atmend pressten sie ihre Rücken gegen die Tür. Von draußen drangen undefinierbare Geräusche. Magda wollte nicht darüber nachdenken, was sie da hörte.

„Scheiß Dinosaurier“, brachte sie schließlich hervor, als sich die schweren Schritte draußen wieder zu entfernen schienen. Nur langsam hörte das Kältestechen in der Lunge auf.

„Ich denke, wir könnten die Gerüchte jetzt bestätigen“, sagte Murot. Er klang wie in Trance, sein Blick, wie Magda feststellte, als sie zu ihm herübersah, war in sich gekehrt.

„Ja.“

Sie schwiegen einen Moment.

 

„Jetzt fressen diese scheiß Viecher uns nicht nur die Leichen an, sondern auch noch die Tatverdächtigen weg“, stellte Magda dann fest.

„Ja.“ Wieder klang es, als würde es ihn äußerste Mühe kosten, nicht in hysterisches Lachen oder Weinen auszubrechen.

„Wie erklären wir das der Staatsanwaltschaft?“

„Na ja, sagen wir eben die Wahrheit …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern.

„Dass Sie, ohne jemandem Bescheid zu sagen, den Täter*innen die aus der Asservatenkammer entwendete Tatwaffe zurückgebracht haben, nachdem Sie in dem Fall bereits Beweise unterschlagen haben?“

„Na ja … Das vielleicht nicht?“

„Aber dass Sie ohne Dienstwaffe unterwegs waren, das wollen wir erwähnen oder auch nicht?“

„Nun …“

Frustriert ließ sie den Kopf gegen ihre angezogenen Knie sinken, mochte ihren Kollegen, der einen Großteil dieser ganzen Scheiße – bis auf die Dinosaurier – zu verantworten hatte, momentan nicht ansehen.

 

„Warum züchten Leute Dinos?“, murrte sie, sah nicht auf dabei. Vorsichtig streckte sie das rechte Bein aus, das Knie tat angewinkelt zu weh. „Ich versteh’s einfach nicht. Sie passen nicht ins Ökosystem, wir brauchen sie nicht als Nutztiere, wozu die Scheiße?“

„Na ja, sie schmecken ganz in Ordnung …?“, probierte Murot sich an einer Erklärung.

Abrupt hob Magda den Kopf, starrte ihn entgeistert an. „Sie haben Dinofleisch probiert?“, fragte sie entsetzt und aufs Neue fühlte sie Brechreiz in sich aufsteigen.

„Ja, jungen Triceratops. Meine Begleitung wollte unbedingt und ich wollte wissen, wofür ich da so teuer Geld gezahlt habe“, erzählte er, schien dankbar für die Ablenkung von dem, was sie gerade erlebt und vor allem überlebt hatten. „So schlimm war es nicht, es schmeckt eigentlich wie –“

„Sagen Sie jetzt nicht ‚wie Hühnchen‘“, warnte sie ihn.

„Doch“, gab er kleinlaut zu.

Entnervt schüttelte sie den Kopf, auch wenn sie spürte, wie gerade ein mörderischer Kopfschmerz sich bereitmachte, ihr Probleme zu bereiten. „Dann essen Sie Hühnchen, wenn Sie etwas wollen, das wie Hühnchen schmeckt! Gott, wie krank können Menschen eigentlich sein?!“

 

Erneut lehnte sie den Kopf ans Knie, mittlerweile tat ihr nicht nur der rechte Arm, sondern ihre ganze rechte Seite weh, wo der Stegosaurus sie getroffen hatte. Vorsichtig bewegte sie die Finger der rechten Hand; immerhin funktionierten sie noch, wenn auch nur unter Schmerzen. „Diese ganze Scheiße nur, weil paar Leute sich für was Besseres halten und meinen, Gott spielen zu dürfen“, murmelte sie; immerhin war Murot anständig genug, einfach nichts dazu zu sagen. „Gott, ich hab so genug davon –“

Zum wiederholten Mal an diesem Abend ließ ein Geräusch sie innehalten. Diesmal kam es von drinnen, nicht von draußen, irgendwo von oben aus dem ersten Stock, und sie erinnerte sich dunkel, dass vorhin die Fenster hell erleuchtet und die Tür offen gewesen und sie folglich nicht alleine waren.

„Scheiße“, war alles, was ihr dazu noch einfiel.

Er schloss die Augen. „Wir haben nichts gehört“, schlug er vor.

„Das können wir nicht machen.“

Murot verzog das Gesicht, atmete tief durch, dann, ohne ihre Hand loszulassen, die er noch immer festhielt, wie Magda erst jetzt auffiel, stand er auf und zog sie mit sich nach oben. Resigniert seufzte er. „Dann gehen wir mal nachschauen.“

 

*

 

Sie kamen gerade rechtzeitig nach oben, um Krach und lautes Kreischen (dem Klang nach sowohl menschlichen als auch animalischen Ursprungs) zu hören. Wie oft denn noch heute?, fragte Magda sich entnervt, wollte automatisch nach ihrer Waffe greifen, nur um sich dann wieder daran erinnern zu müssen, dass sie sie nicht mehr hatte und dass ihr rechter Arm momentan lieber nicht benutzt werden wollte. Sie sah zu Murot, der ihr mit einer knappen Geste bedeutete, hinter ihm zu bleiben. Dankbar machte sie einen Schritt zurück, auch wenn sie normalerweise ein Problem damit hatte, ihn in Gefahrensituationen vorgehen zu lassen. Es konnte sonst zu schnell passieren, dass man zwei Probleme vor sich hatte.

Er stieß die Tür auf, hinter der der Lärm fröhlich weiterging.

Magda warf einen Blick ins Zimmer und bereute es sofort.

 

Eine der ungeschriebenen Regeln in dieser neuen Welt voller Dinosaurier besagte, sich niemals und unter gar keinen Umständen an ein hell erleuchtetes Fenster zu stellen, das nicht aus Sicherheitsglas bestand (und auch dann nur, wenn man sein Schicksal herausfordern wollte). Sonst erteilte einem ein Flugsaurier eine Lektion, die nur noch den Umstehenden etwas nutzte.

In diesem Fall hatte die alte Frau von Mierendorff die Lektion erteilt bekommen und auch sie würde nicht mehr in der Lage sein, daraus eine Lehre zu ziehen.

Später schämte Magda sich für diesen Gedanken, aber in diesem Moment war sie einfach nur dankbar, dass die alte Frau erkennbar schon tot war und sie keine Rettungsaktion mehr starten mussten. Der Schnabel des Pteranodons hatte sie auf Brusthöhe einmal komplett durchbohrt und ragte blutverschmiert aus ihrem leblosen Körper. Der Flugsaurier mühte sich nun ab, sie durch das Fenster, durch das er gebrochen war, ins Freie zu ziehen.

 

Laura Muthesius, das noch fehlende Mitglied der Muthesius-Bande, lag auf dem Boden, starrte mit schreckgeweiteten Augen auf von Mierendorffs Leiche, die nun wütend hin und her geschüttelt wurde, weil sie nicht durch die nur teils zerstörten Fenstersprossen passen wollte, und krabbelte rücklings von dem Schauspiel weg. In einer Hand hielt sie eine Pistole umklammert.

Ah, ja. Was für eine Überraschung.

„Laura, hierher!“ Murot duckte sich, kroch zu ihr und zog sie durch die Tür in Sicherheit.

Hinter ihnen drückte Magda die Tür wieder zu, um dieses grausige Schauspiel nicht länger mitansehen zu müssen, dann nahm sie Laura die Pistole ab. Zum Glück leistete die jüngste Muthesius-Tochter keinen Widerstand.

 

Magda komplett ignorierend, warf Laura sich Murot an den Hals. „Sie haben mich gerettet! Schon zum zweiten Mal!“

Warum auch immer verursachte dieser Satz Magda einen größeren Schmerz als der Stegosaurus, der sie umgerannt hatte. Er erinnerte sie daran, dass Blut an ihren Händen klebte, weil sie die Anscheinswaffe nicht als solche erkannt hatte, daran, dass sie seit Tagen Drecksarbeit um Drecksarbeit und Sünde um Sünde auf sich nahm, ohne dass es jemanden scherte, wie es ihr damit ging, und daran, dass nichts von alledem je passiert wäre, wenn Murot sich einmal an die Vorschriften gehalten hätte.

Irgendetwas in ihr drin machte ein schlimmeres Geräusch als das Pteranodon, das dumpf durch die Tür zu hören war und das mit versperrtem Schnabel vor sich hin wütete. „Ach, ja?“, fauchte sie Laura an und hätte ihr am liebsten mal mit der Waffe an den Kopf getippt, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, aber sie beherrschte sich. Geladene Waffen richtete man nicht auf Menschen, egal, wie sehr sie einem gegen den Strich gingen. „Und mit der hier hatten Sie was vor?“ Ihr erster Impuls war es eigentlich, das Magazin rauszuholen, andererseits waren Murot und sie momentan unbewaffnet und umgeben von Dinosauriern, sodass sie sich darauf beschränkte, die Pistole außer Lauras Reichweite zu halten.

 

Auch Murot schien nun zu begreifen, dass es alles andere als angemessen war, wenn eine Mittäterin sich ihm an den Hals hängte, umfasste Lauras Handgelenke mit beiden Händen und löste sie von sich. „Laura, warum das alles?“, wollte er wissen.

„Inga und Paul … sie … sie haben mich gezwungen“, schluchzte Laura wie auf Kommando los. „Ich wollte das alles nicht!“

„Und das sollen wir Ihnen glauben?“ Magdas Geduld war am Ende. „Womit sollen die Sie gezwungen haben?“ Ihr fiel wieder ein, was von Mierendorff vorhin gesagt hatte, als er darüber sprach, seine Mutter, Murot und sie zu beseitigen. „Wir wissen, dass irgendjemand Frau von Mierendorff, Murot und mich umbringen sollte, und jetzt finden wir Sie hier bei Frau von Mierendorff mit einer geladenen Waffe und Sie wollen uns erzählen, Sie wären hier das Opfer?“ Wieder Lärm, der nach splitterndem Glas klang, und ein dumpfes Krächzen fast wie von einem Vogel. „Du mich auch“, gab Magda entnervt zur Tür gewandt zurück, auch wenn der Flugsaurier sie hoffentlich weder hören noch sie intellektuell verstehen konnte.

 

„Wir nehmen Sie mit aufs Revier“, kündigte Murot entschieden an, „dort können Sie dann einen Anwalt kontaktieren und … Sie müssen nichts sagen, womit Sie sich selbst belasten würden.“ Auch er zuckte zusammen, als aus dem Zimmer ein schriller tierischer Schrei erklang. „Wenn Sie das verstanden haben, sollten wir zusehen, dass wir hier wegkommen.“

Immerhin hatte Laura Muthesius nichts dagegen einzuwenden, sich vom Ort des Geschehens zu entfernen. Magda wartete, bis Murot aufgestanden war, dann reichte sie ihm die Pistole; solange sie nur eine Hand wirklich gebrauchen konnte, war es besser, wenn er die Waffe nahm. Im ersten Moment schien er protestieren zu wollen; auf einen warnenden Blick hin beließ er es dann aber bei einem unbegeisterten „Na schön.“

Ganz ehrlich, merkt der überhaupt noch irgendwas?!, fragte Magda sich entgeistert, als Murot sich rechts von ihrer Gefangenen positionierte. „Warten Sie, lassen Sie mich auf die Seite.“

Fragend sah er sie an, aber Magda drängte ihn wortlos beiseite, packte Laura fest mit der linken Hand und zerrte sie ein, zwei Meter mit sich.

„Gut, dann schieße ich eben mit links“, grummelte er unzufrieden und begab sich endlich auf die andere Seite.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach unten und nach draußen.

 

*

 

Auf der Terrasse blieben sie stehen, bereit, sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr wieder ins Haus zurückzuziehen, momentan war jedoch keine akute Bedrohung erkennbar. Die Autos standen viel zu weit entfernt, aber das ließ sich jetzt nicht ändern. „Ich kann auch alleine gehen und dann mit dem Ro vorfahren“, bot Murot halbherzig an, Magda konnte ihm anhören, dass er von seinem eigenen Plan alles andere als begeistert war.

„Und mich lassen Sie mit unserer Tatverdächtigen allein?“, gab sie daher zurück, wies ihn lieber nicht darauf hin, dass sie mit ihrem verletzten Arm und ihrer angeschlagenen rechten Seite gerade deutlich gehandicapt und es deswegen eine ziemlich beschissene Idee war, ihr die alleinige Aufsicht über Laura Muthesius zu überlassen. „Vergessen Sie’s.“

 

Also machten sie sich zu dritt auf den Weg die Treppe hinunter, sich ständig nach allen Seiten wachsam umsehend, welche tierischen Überraschungen noch auf sie lauerten. Kam etwa der T.rex zurück? Wollte wieder irgendeiner von den großen Pflanzenfressern hier durchlaufen? Was gab es hier noch? Während hinter ihnen noch immer das Pteranodon im Fenster hing und mit Frau von Mierendorffs Leiche kämpfte, sah Magda unweigerlich zu den Stellen hinüber, wo, wie sie wusste, die Überreste von Lauras Geschwistern und von Jürgen von Mierendorff liegen mussten. Gewusel im Gras und aufgeregtes Tschirpen sagten ihr, dass mittlerweile eine Compsognathus-Familie die Toten entdeckt hatte. Noch so ein allgegenwärtig gewordenes Problem in der Polizeiarbeit: Leichen waren bei ihrem Fund häufig schon von aasfressenden Dinosauriern angeknabbert worden, und sie bei ihrer Arbeit beobachten zu können, war etwas, auf das Magda gut und gerne verzichten konnte. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen.

 

Sie waren auf der letzten Stufe angelangt, als ihre Gefangene Magda plötzlich einen heftigen Stoß versetzte. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, als ihr verletzter Arm gegen das Treppengeländer knallte, die Luft blieb ihr weg. Sie krümmte sich zusammen, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Unterdrückte einen Schrei. Nur am Rande bekam sie mit, wie Laura sich losriss und davonrannte.

„Laura, bleib hier!“, rief jemand, rief Murot ihr nach.

 

Magda blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen geschossen waren, mühte sich, ihren Weg aus dem Land des Schmerzes zurück in die Realität zu finden. Hilflos umklammerte sie ihren nun doppelt lädierten Arm und sah zu, wie ihre letzte verbliebene Verdächtige (die sie aber ohnehin höchstens wegen versuchten Mordes drankriegen würden) quer durch den Garten floh, an den Überresten ihrer Geschwister vorbei, Richtung Wäldchen, was Magda ehrlich gesagt für eine äußerst beschissene Idee hielt – ehe sie noch irgendetwas rufen oder tun konnte, stolperte Laura Muthesius und fiel der Länge nach hin.

Der Schmerz in ihrem Arm war noch stark genug, damit Magdas erster Gedanke in diesem Moment einfach nur lautete: Ah, ja. „Die kleine Laura, die kaum laufen konnte“ … Hat sich wohl nicht geändert. Relativ emotionslos sah sie zu, wie besagte Laura versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und wie sich dunkle Schatten über den Rasen bewegten. Erst, als ein spitzer Schrei erklang und Murot plötzlich sehr hektisch wurde, drang zu ihrem Verstand durch, was sie da beobachtete. Oh, fuck.

 

Automatisch wollte sie nach ihrer Waffe greifen, nur, um sich zum dritten Mal bewusst werden zu müssen, dass sie sie nicht mehr hatte. Neben ihr leerte Murot das Magazin von Lauras Waffe in Richtung der Compys. Eins der Tiere brach zusammen, seine Artgenossen stoben auseinander, aber Lauras Kreischen war schon verstummt.

 

Murot lief zu ihr hinüber und kniete sich neben sie, soweit Magda das in der Düsternis erkennen konnte (irgendwie war sie dankbar, dass sich das alles nicht im Lichtkegel der Autoscheinwerfer abspielte). Magda hielt ihren Arm umklammert, versuchte erfolglos, irgendwie eine Position zu finden, in der er nicht scheißweh tat, versuchte anschließend ebenso erfolglos, eine Haltung zu finden, in der nicht ihre ganze rechte Seite scheißweh tat, dann ging sie, so schnell sie im Moment vermochte (also im Schneckentempo, wenn sie ehrlich war) zu den beiden hinüber.

Ihr Kollege stand auf, bevor sie ihn und Laura – oder wohl vielmehr, Lauras Leiche – erreicht hatte. Er schüttelte den Kopf. „Genau die Halsschlagader getroffen“, sagte er und blickte bedrückt auf die Tote hinab, „Scheiße auch.“

 

Magda konnte nur nicken. Was sollte sie auch dazu sagen? Dass es ihr leidtat, auch wenn Laura Muthesius wie der Rest ihrer Familie eine vollkommen durchtriebene, menschenverachtende Person gewesen war, die sich an einem total kranken Mordkomplott beteiligt hatte? Dass sie immerhin nicht lange hatte leiden müssen? Alles kein Trost, und wenn sie ehrlich war, hatte sie momentan auch herzlich wenig Lust, Murot zu trösten. Daher beschränkte sie sich auf ein hoffentlich professionell klingendes „Wir sollten die Kolleg*innen informieren.“

Abrupt wandte Murot sich ihr zu, als wäre ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen oder als wollte er protestieren, doch dann nickte er. „Sie haben recht“, stimmte er leise zu, zuckte (wie Magda) zusammen, als aus dem Gebüsch hinter ihnen das ihnen mittlerweile vertraute Tschirpen von Compys erklang. „Gehen wir zu den Autos, da dürfte es am sichersten sein.“

Wortlos nickte sie. Immerhin schien ihm durch den heutigen Abend bewusst geworden zu sein, dass verlassene Grundstücke mit vielen Bäumen und Büschen kein guter Ort waren, um sich draußen aufzuhalten.

 

Murot hob einen toten Compsognathus auf, den er wohl erschossen hatte, hielt ihn am Hals hoch und nahm ihn mit.

Was soll denn der Scheiß? „Wird das Ihr Sonntagsessen?“, kommentierte Magda bissig.

„Haben Sie sich nicht letztens aufgeregt, dass Sie in einer bunten Zeitschrift ein Rezept für gebratene Compy-Schenkel gesehen haben?“, entgegnete er unschuldig.

„Und weil die private Jagd auf die Tiere verboten ist, sacken Sie hier Beweismittel ein?“ Sie sog scharf die Luft ein, als ihr Griff anscheinend zu fest wurde und heißer Schmerz durch ihren Arm fuhr. „Manchmal frage ich mich, was bei Ihnen nicht stimmt.“

„Ich bitte Sie, Wächter, der ist doch kein Beweismittel“, behauptete er.

Eigentlich wollte sie etwas erwidern, aber ihr fehlte gerade die Luft zum Atmen und es wäre ja ohnehin sinnlos gewesen, daher schüttelte sie einfach nur den Kopf und marschierte stur weiter zu ihrem Auto. Im Licht der Scheinwerfer sah sie, dass seine Hände rot vor Blut waren.

 

Ihr linker Fuß stieß gegen etwas. Sie sah nach unten. Vor ihr lag ihre Dienstwaffe. Na, immerhin. Sie zögerte, warf einen kurzen Blick zu Murot, der aber vollauf auf den toten Dinosaurier in seiner Hand konzentriert schien und nichts bemerkt hatte, dann biss sie die Zähne zusammen und kniete sich hin, versuchte, irgendwie ihren rechten Arm auf ihrem ebenfalls schmerzenden rechten Knie abzulegen, während sie mit links die Waffe aufhob und in ihre Manteltasche stopfte.

„Ach, Wächter, warum sagen Sie denn nichts?“

Magda sah auf. Murot stand bei seinem Ro und verpackte den Compy gerade in eine Plastiktüte; die Kofferraumklappe war geöffnet. Echt jetzt? „Es geht schon“, murmelte sie, viel zu leise, als dass ihr Vorgesetzter es hätte hören können, und obwohl ihr der Versuch, wieder aufzustehen, alles an Selbstbeherrschung abverlangte, das sie noch aufbieten konnte – am liebsten hätte sie vor Schmerz einfach nur noch geschrien. Sie quälte sich hoch, stolperte mehr, als dass sie ging, die letzten paar Meter zu ihrem Auto hinüber, riss entschlossen die Fahrertür auf (auch wenn sie ihren verletzten Arm kaum für diese Sekunde alleine hochhalten konnte) und ließ sich auf den Sitz fallen. Für einen Moment schloss sie einfach nur die Augen und bemühte sich, sich nicht zu übergeben.

 

Das Geräusch einer zufallenden Kofferraumklappe ließ sie aufsehen.

Murot – nun ohne den erlegten Compy – kam zu ihr herüber. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte er sich.

„Ja“, brachte Magda zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wie denn auch nicht?“

Irritiert runzelte er die Stirn, zuckte dann mit den Schultern. Stützte sich auf ihre geöffnete Autotür und richtete sich wieder auf, sodass sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.

Wirklich?, dachte Magda bitter. Mehr kommt nicht von Ihnen? Aber hatte sie denn ernsthaft etwas anderes erwartet? Es hatte keinen Sinn, ihn darauf hinzuweisen, dass bei ihr gerade herzlich wenig in Ordnung war.

Es war ihm nicht eingefallen, das zu fragen, nachdem sie heute Abend als Geisel genommen worden war. Er hatte nicht bemerkt, dass sie von einem Stegosaurus umgerannt und verletzt worden war, und dass sie trotz ihrer langjährigen Erfahrung als Kriminalbeamtin es doch nicht so einfach wegsteckte, wenn mehrere Menschen vor ihren Augen gefressen oder zertrampelt wurden, schien ihm ebenso wenig in den Sinn zu kommen, wie dass es sie belasten könnte, wegen einer verdammten Anscheinswaffe einen Menschen angeschossen zu haben. Genauso, wie er ihr die ganze Zeit über nicht beigestanden hatte, als nahezu sämtliche an dem Fall beteiligten Personen (die Opfer ausgenommen) ihr zu verstehen gegeben hatten, dass sie, Magda, ganz unten in der Hackordnung stand. Vermutlich noch unter den Kellerasseln, kam es ihr in den Sinn, als sie nun darüber nachdachte, und je länger sie über all das nachdachte, umso stärker wurden Wut und Schmerz in ihr. Eigentlich mehr der Schmerz, der körperliche und der seelische und auch da eher der seelische, dass ihr bester Freund sie so im Stich gelassen hatte, bis die Wut immer kleiner wurde und schließlich ganz verlosch. Übrig blieben nur Verletztheit und die stille Frage nach dem Warum.

 

„Rufen Sie jetzt mal die Kolleg*innen?“, hörte sie sich fragen. „Wär gut, wenn die Spusi käme, solange es noch Spuren zum Sichern gibt.“ Von den Überresten her drangen wieder die unverkennbaren Geräusche glücklicher Aasfresser; Magda beging den Fehler, den Kopf in die Richtung zu wenden; im Licht der Autoscheinwerfer sah sie, wie sich zwei Compys um eine schwarze Stiefellette balgten, die einmal Inga Muthesius gehört hatte und in der vermutlich noch ihr Fuß steckte. Wieder spürte Magda Übelkeit in sich aufsteigen. Der Geruch nach frischem Blut und … Schlachthaus, den der Wind zu ihnen herüberwehte, tat sein Übriges. Sie presste die Lippen fest zusammen und schluckte die Galle hinunter. Drehte sich dann mühsam zur Seite und hievte ihre Beine ins Auto, damit sie sich richtig im Sitz zurücklehnen konnte.

 

In einiger Entfernung verkündete lautes Kreischen, dass das Pteranodon zumindest seinen Schnabel wieder freibekommen hatte. Es krächzte ein paar Mal und drehte eine kleine Runde über dem Garten, wobei es immer wieder mit dem Schnabel klapperte (Murot duckte sich hinter die Autotür), dann flog es eilig in Richtung Frankfurt davon. Offenbar hatte auch der Flugsaurier genug für heute und wollte nur noch nach Hause. Vielleicht war er wirklich einer von denen, die auf dem Maintower nisteten.

 

„Ja, Sie haben recht.“ Langsam richtete Murot sich wieder auf und zog sein Handy aus der Tasche. „Wissen Sie was, Wächter, fahren Sie doch schon mal nach Hause“, schlug er dann allen Ernstes vor. „Ja? Sie haben doch genug durch für heute.“

Sein Angebot war so verlockend und doch … „Das geht nicht, ich muss noch meine Aussage machen und …“ Sie erinnerte sich daran, dass er gerade das Gleiche durchgemacht hatte wie sie (wenn auch minus den Stegosaurus), dass er zumindest zu den Muthesius-Schwestern einen engeren Bezug gehabt zu haben schien und sie beide vor seinen Augen Dinosauriern zum Opfer gefallen waren, und dass alle Nachkommen seines geliebten Professors seinen Tod geplant hatten. „… ich lasse Sie nicht allein.“

„Schon in Ordnung, Wächter, machen Sie sich deswegen keine Sorgen …“

 

Und mal wieder alles nur wegen ihm, kam es ihr in den Sinn, als sie sich an das Geständnis der irren Psychotante erinnerte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Der hat das doch schon damals so schlecht verkraftet, als der Original-Harloff sich seinetwegen durch Wiesbaden gemordet hat, und was jetzt erst mit dieser billigen Kopie? „Ich kann Sie doch nicht einfach …“, begann sie entschlossen, auch wenn ihr Schädel mittlerweile dröhnte, als wäre er in einem Schraubstock gefangen.

„Ich komme zurecht“, entgegnete er schroff, dann schien er sich merklich zusammenzureißen. „Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken, ja?“, winkte er ab. „Fahren Sie einfach nach Hause.“

„Das geht nicht.“ Sie schluckte die Übelkeit herunter, die auf einmal in ihr aufgestiegen war. „Nicht bei all den Dinos, die hier rumlaufen. Was wollen Sie alleine gegen die ausrichten?“

„Kein Problem, dann setz ich mich eben ins Auto.“ – Entweder hatte er die Gefahr noch immer nicht verinnerlicht oder er musste von allen guten Geistern verlassen sein – „Sie haben doch heute schon genug getan, machen Sie Feierabend.“

Irgendetwas kam ihr auf einmal merkwürdig vor, aber der stechende Schmerz in ihrer rechten Seite lenkte sie ab und ließ nicht zu, dass sie sich mal für ein paar Sekunden richtig konzentrieren konnte.

„Alles gut, ich übernehm das hier. Ruhen Sie sich aus, machen Sie sich vielleicht einen netten Abend …“

Etwas in ihr machte klick und mit Magdas Selbstbeherrschung war es endgültig vorbei. „Wollen Sie mich verarschen?“ Und als er nicht sofort antwortete – „Welche Beweise wollen Sie denn jetzt verschwinden lassen? Reicht Ihnen der eine Dino im Kofferraum nicht?“

„Sie sollten doch ohnehin nicht hier sein“, entgegnete er scharf. „Das braucht auch niemand zu erfahren, dass Sie dabei waren, also ersparen Sie sich den Ärger und fahren Sie nach Hause. Wenn was ist, kann ich immer noch Wendrich anrufen.“

 

Eigentlich wollte Magda protestieren.

Eigentlich wollte sie ihm ganz deutlich sagen, was sie davon hielt. Von seinem Plan, von seinem Verhalten im Dienst in letzter Zeit, von seiner Missachtung ihr gegenüber.

Eigentlich hatte sie sich mal geschworen, ihn nie im Stich zu lassen, komme, was wolle.

Eigentlich.

„Wendrich“.

Wendrich.

Wendrich …

 

„Wie Sie wollen“, brachte sie nur verletzt hervor. „Ahoi.“ Sie wartete nicht ab, ob er ihren Gruß erwiderte, schlug stattdessen die Autotür zu. Mit etwas Mühe drehte sie den Schlüssel mit der linken Hand, startete den Motor. Erwiderte Murots zum Abschied gehobene Hand nicht. Wie denn auch? Rollte rückwärts davon, bis der Weg an einer Stelle breit genug war, damit sie mit etwas mehr Mühe wenden konnte. Die Augen ohnehin blind vor Tränen, sah sie nicht zurück.

Notes:

AN: Wie man vermutlich unschwer erkennen kann, ist das Crossover-Fandom die »Jurassic World«-Reihe. Diese Geschichte wurde geschrieben, bevor Teil 4 rauskam, weswegen die Dinos sich hier noch fröhlich auf der Erde tummeln. Und ich liebe diese Vorstellung einfach viel zu sehr, um von ihr abzurücken. :o)

Der Vollständigkeit halber:
»Jurassic World« (OT: »Jurassic World«): Regie: Colin Trevorrow; Drehbuch: Colin Trevorrow, Derek Connolly, Rick Jaffa, Amanda Silver; Produktion: Frank Marshall, Patrick Crowley; USA, 2015.
»Jurassic World - Das gefallene Königreich« (OT: »Jurassic World - Fallen Kingdom« ): Regie: J. A. Bayona; Drehbuch: Derek Connolly,
Colin Trevorrow; Produktion:Frank Marshall, Patrick Crowley, Belén Atienza; USA, 2018.
(Teil 3 und 4 wurden für diese Fic nicht berücksichtigt.)

Chapter 3: 3. Murot und die Unvorhersehbarkeit des Schicksals

Summary:

Zum Whumptober-Alternativ-Prompt für Tag 12: "Concussion".

Chapter Text

3. Murot und die Unvorhersehbarkeit des Schicksals

„… bitte Vorsicht auf der A5 Gambacher Kreuz Richtung Kassel zwischen Pohlheim und der Anschlussstelle Fernwald, da hält sich eine Ankylosaurus-Herde im Bereich der Fahrbahn auf, bitte umfahren Sie diesen Bereich möglichst weiträumig, und nochmals bitte Vorsicht auf der A661, Oberursel Richtung Egelsbach zwischen Frankfurt-Ost und Offenbach-Kaiserlei, dort gibt es 3 Kilometer Stau nach einem Unfall, das Stauende befindet sich hinter einer Kurve und jemand hat dort Raubsaurier gemeldet, fahren Sie also bitte äußerst langsam und verlassen Sie nicht Ihr Fahrzeug.“ Der Radiomoderator holte tief Luft und ergänzte: „Und denken Sie bitte daran, dass das vorsätzliche falsche Melden der Sichtungen von Raubsauriern seit letzter Woche unter Strafe steht, also machen Sie bitte keinen Blödsinn. Zum Wetter –“

 

Magda bog in ihre Straße ein. Irgendwie hatte sie es nach Hause geschafft, auch wenn sie selbst nicht hätte sagen können, wie sie das mit ihrer verletzten Hand vollbracht hatte. Jetzt wollte sie nur noch –

Ihr Parkplatz war mal wieder belegt. Zwischen dem Geländewagen ihres Nachbarn von oben und der Familienkutsche ihrer Nachbar*innen von gegenüber hatte sich schon zum dritten Mal in dieser Woche der kleine Dino, der wie ein gerupfter Papagei aussah, zum Schlafen hingelegt (die anderen Tage hatte es jemand anderen getroffen). Vermutlich strahlten die Autos noch eine Weile Wärme ab, dass er es hier so gemütlich fand.

Magda stöhnte auf, dann ergab sie sich in ihr Schicksal und setzte den Wagen wieder ein Stück zurück, parkte am Straßenrand. In der Broschüre vom BUND hatte es geheißen, dass man Dinosaurier auf keinen Fall anhupen oder gar anfahren sollte (ganz ehrlich, auf diese Idee kamen wohl nur die allerbescheuertesten Geländewagenbesitzer*innen), und Magda konnte dem Tier, das hier einfach so komplett fehl am Platze war, auch nicht böse sein, dass es sich jetzt, da es allmählich wirklich auf den Winter zuging, einen warmen Platz suchte.

 

Sie schaltete den Motor aus, nahm sich nicht die Zeit, sich zu sammeln, ehe sie ausstieg, weil sie wusste, dass sie sonst heute nicht mehr die Kraft finden würde, um aufzustehen. „Au, Scheiße“, wisperte sie, als sie sich aus dem Auto quälte und sämtliche verletzten Körperteile zu protestierten schienen. Der Dino hob den Kopf, sah sie traurig an.

„Gott sei Dank weiß ich, dass du nur Pflanzen frisst“, murmelte Magda, schloss ihr Auto ab und ging in einigem Abstand zu dem ungebetenen Besucher zur Haustür (es hatte sie einige Mühe gekostet, das herauszufinden, weil die Art weder in der Broschüre vom BUND ‚Die neuen Nachbarn – Die häufigsten Dinosaurier-Arten in Ihrer Umgebung‘ noch in der vom Tierschutzbund ‚Begegnungen der urzeitlichen Art – Häufige Dinosaurier und wie man sie erkennt‘ noch in der vom Umweltministerium ‚Dinosaurier – Die allgegenwärtige Gefahr. Verhaltensregeln für den Ernstfall‘ verzeichnet war; immerhin war sie dann auf einer Seite mit dem einprägsamen Namen ‚welcherdinoistdas.de‘ fündig geworden). „Gute Nacht, Sunny“, wünschte sie dem Helioceratops, wie sie es jeden Abend tat, und tatsächlich legte sich das etwa hundsgroße Tier wieder hin und beachtete sie nicht weiter.

 

Mit letzter Kraft quälte sie sich die Treppe rauf, schloss die Wohnungstür auf und lehnte sich dann von innen dagegen, um sie wieder zuzudrücken. War dankbar, dass schon Licht leuchtete. Gratulierte sich innerlich zu der Entscheidung, Manfred vor zwei Wochen ihre Wohnungsschlüssel gegeben zu haben. War dankbar, dass sie nicht alleine war.

 

Aus dem Wohnzimmer kam Manfred, ein Buch in der unverletzten Hand. „Da bist du ja, ich hab mir schon Sor– was ist passiert?“

„Nichts. Also, nicht viel“, behauptete sie.

„Magda.“

Sie erinnerte sich, dass sie ihm gegenüber – mehr oder weniger – ehrlich sein konnte. „Ein Stego hat mich angerempelt“, gab sie dann zu, was immerhin die Ursache für ihre Schmerzen war. Zumindest für die körperlichen. „Manche Dinos sind schlimmer als Radfahrer“, versuchte sie sich dann an einem Scherz, um den Vorfall herunterzuspielen, auch wenn ihr eigentlich nicht nach Scherzen zumute war.

„Und der Stegosaurus muss als Synonym für was herhalten?“ Offenbar glaubte er ihr nicht.

„Für einen Stegosaurus“, antwortete sie müde, zog sich, so gut es eben ging, den Mantel aus, ließ ihn einfach fallen, wo sie gerade stand.

Manfred legte das Buch beiseite und hob den Mantel auf. „Und hat das irgendetwas damit zu tun, dass Felix heute Abend in der ›hessenschau‹ ‚Töten Sie mich! Töten Sie mich!‘ gebrüllt hat?“ Behutsam wickelte er ihr den Schal vom Hals, ehe sie sich bei dem Versuch, das selbst zu tun, aus Versehen strangulieren konnte. Hängte beides an die Garderobe.

 

Magda kniff die Augen zusammen, einerseits vor Schmerz, andererseits, weil sie bei allem, was in der Zwischenzeit geschehen war, an diesen verdammten Fernsehauftritt von Murot gar nicht mehr gedacht hatte. „Du kennst doch Murot“, sagte sie nur, was eine Antwort so gut – oder schlecht – wie jede andere war.

„Ja“, antwortete er und ein scharfer Ton schlich sich in seine Stimme, „und wenn Felix sich in Gefahr begibt, bedeutet das, dass er die Zielscheibe dir auf den Rücken malt.“ – Sie wollte widersprechen, ließ es dann – „Du bist doch noch gar nicht versorgt worden, oder? Soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“

„Nein, so schlimm ist es nicht“, behauptete sie, fragte sich auf einmal, ob es nicht einfacher gewesen wäre ohne ihn, wenn sie heute Nacht hätte alleine sein und einfach im Stillen hätte daliegen und weinen können, vor Schmerz und vielleicht auch vor was anderem …

 

„Manni, ich kann heute einfach nicht mehr“, gestand sie ihm ehrlich, streifte sich die Schuhe ab, hielt sich an Manfred fest, als sie dafür das rechte Bein belasten musste.

„‘Manni‘?!“, wiederholte er irritiert, leise, mehr zu sich selbst, als hätte sie ihn noch nie so genannt (gut, hatte sie wohl auch nicht, wenn sie es recht bedachte).

„Was macht deine Hand?“, erkundigte sie sich mit Blick auf seinen Verband.

„Ist schon besser“, winkte er ab, bewegte wie zum Beweis die Fingerspitzen seiner verletzten linken Hand.

„Das ist gut“, murmelte Magda, dachte daran, dass er von Glück sagen konnte, dass der Compy-Biss allmählich heilte – und dass die Fritzen von der Spusi ebenso von Glück sagen konnten, ihr noch nicht wieder begegnet zu sein, seit sie Manfred einen lebenden Compsognathus in einem Pappkarton (immerhin mit Luftlöchern) ins Labor geschickt hatten, damit er die Textilfasern zwischen den Dino-Zähnen als Beweismittel sicherte, weil sie sich selbst nicht trauten.

 

Dann dachte sie an den Compy, der wohl als Murots Sonntagsessen enden würde, was er trotz allem nicht verdient hatte (auch wenn er ursprünglich aus Bayern kam und sie dieses Compy-in-Lederhosen-Meme einfach nicht mehr sehen mochte), an seine Artgenoss*innen, wie sie sich über die Überreste der Muthesius-Geschwister und von Jürgen von Mierendorff hermachten, an das Pteranodon, wie es die aufgespießte Frau von Mierendorff hin und her schleuderte … an den zertrampelten Jürgen von Mierendorff, der ihr nur Sekunden zuvor noch eine Waffe an den Hals gehalten hatte … an Murot, wie er sie fortschickte … an Wendrich … an den gottverdammten T.rex, wie er Inga Muthesius fraß …

 

Aufs Neue stieg Übelkeit in ihr auf und diesmal hatte sie nicht mehr die Kraft und den Willen, sie zu unterdrücken. Magda stürzte ins Bad und übergab sich.

 

*

 

Als sie wieder denken konnte, merkte sie, dass Manfred neben ihr auf den kalten Fliesen saß und ihr die Haare aus dem Gesicht hielt. „Danke“, nuschelte sie und lehnte sich mit ihrer unverletzten Seite an ihn; jetzt war sie zu Hause, jetzt musste sie sich nicht mehr aufrecht halten.

„Geht’s wieder?“, erkundigte er sich sanft, strich ihr mit der verbundenen Hand vorsichtig über den Kopf; eine ganz andere Geste als dieses herablassende Tätscheln von Paul Muthesius vor paar Tagen, der sie wie einen Hund behandelt hatte …

Paul Muthesius, von dem vermutlich nicht mehr viel übrig war, auch wenn das Pteranodon daran gescheitert war, ihn wegzuschleppen …

Wieder würgte es sie, aber mehr als ein bisschen Galle kam nicht mehr. Sie spuckte sie aus. „Ja“, brachte sie hervor, „geht schon. Hilfst du mir hoch?“

 

Behutsam zog er sie nach oben, hielt sie fest, während sie sich am Waschbecken den Mund auswusch, drückte für sie die Spültaste. Stützte sie, als sie sich auf den Badewannenrand setzte. Kommentierte es nicht, als sie vor Schmerzen wimmerte. „Magda, was ist passiert?“, fragte er dann erneut, ruhiger diesmal. „Wieso kommst du mit einer nicht versorgten Gehirnerschütterung und einem–“

„Ich hab keine Gehirnerschütterung“, widersprach sie, auch wenn sie sich da inzwischen nicht mehr ganz so sicher war. Sie bemerkte Manfreds zweifelnden Blick. „Ehrlich nicht.“

„Aha. Und warum kotzt du dir dann die Seele aus dem Leib? Wenn du keine Gehirnerschütterung hast?“

 

Ja, warum bloß? Die Liste an Gründen war so lang, dass Magda ehrlicherweise nicht einmal wusste, wo sie mit ihrer Aufzählung anfangen sollte, und weil sie mittlerweile komplett fertig mit den Nerven war und diesen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekam, seit er ihr auf der Heimfahrt gekommen war, sagte sie: „Kommissar Rex hat meine Tatverdächtige gefressen.“ Sie sah zu Manfred hoch. „Vor meinen Augen.“

Einen Moment starrte er sie nur entgeistert an, öffnete vor Überraschung leicht den Mund, als er begriff. „Und … war Rex auf zwei oder vier Beinen unterwegs?“, fragte er dann schwach.

„Auf zweien.“ Sie mühte sich ab, die Knöpfe ihrer Bluse mit der linken Hand zu öffnen, versuchte zu ignorieren, dass sie auf einmal – oder schon die ganze Zeit über – am ganzen Leib zitterte und dass die Finger ihrer rechten Hand mittlerweile blau angelaufen waren.

Er schluckte vernehmlich. „Etwas seltsame Auffassung von Amtshilfe, der Kollege“, sagte er dann, erkennbar um Fassung bemüht, während er einen Augenblick ihre linke Hand umfasste und sanft drückte, ehe er ihr die Bluse aufknöpfte und ihr half, sie auszuziehen (dass er selbst Schwierigkeiten dabei hatte, weil er die Finger seiner eigenen lädierten Hand nur eingeschränkt bewegen konnte, nahm Magda jetzt einfach hin; er war immerhin nicht kurz davor, vor Schmerz zu schreien). „Wenigstens hat er dich nicht erwischt.“

„Ja.“ Er nicht, das Pteranodon nicht, die Compys nicht … der scheiß Nazi nicht … „Nur der Stego.“

Manfred atmete scharf ein. „‘Nur‘ ist gut.“

 

Magda sah an sich herunter. Fast ihre gesamte rechte Seite bestand aus einem einzigen riesigen blauen Fleck, mit einigen beunruhigend aussehenden lila-roten Schattierungen und einer noch beunruhigender aussehenden Beule auf Rippenhöhe. Geschockt starrte sie darauf. Au, fuck. Dass ihr Arm sich farblich in das Ensemble einfügte, war da nur noch eine Randnotiz.

„Magda …“

Zu mehr als einem viel zu hohen „Mhm?“, das nicht nach ihr klang, war sie gerade nicht imstande.

„Ich bring dich ins Krankenhaus.“

Dankbar nickte sie, plötzlich froh, jemanden zu haben, der auf sie aufpasste, wenn sie selbst nicht mehr die Kraft dazu hatte. „Bitte.“

 

***

 

Etwa anderthalb Stunden zuvor

Im Allgemeinen mochte sie die Schwanzlosen nicht. Sie waren meistens in Herden unterwegs, machten Lärm und bewegten sich oft mithilfe von seltsamen stinkenden Geschöpfen fort, als hätten sie ohne Schwanz Schwierigkeiten, selber zu laufen (manchmal fragte sie sich, wie sie ohne einen stabilisierenden Schwanz überhaupt das Gleichgewicht halten konnten). Und wenn es ganz schlimm kam, hatten sie stinkende Zweige dabei, die laut knallten, und im schlimmsten Fall sogar schrecklich wehtun konnten. Nein, Schwanzlose waren definitiv etwas, worauf sie verzichten konnte.

 

Sie hatte diese Geschöpfe schon einige Male gesehen, entweder in Begleitung von Schwanzlosen oder schlafend, aber noch nie hier mitten in ihrem Revier. Es waren zwei von ihnen, dicht standen sie beieinander. Nachdem sie ‚ihre‘ schwanzlosen Zweibeiner ausgespuckt hatten, die jetzt in einiger Entfernung mit anderen von ihrer Art beisammen waren und Schwanzlosen-Sachen machten, hatten sie sich nicht mehr bewegt, obwohl eins von beiden (vielleicht das Männchen? Wer wusste das schon?) an zwei Stellen leuchtete wie ein Glühkäfer. Wollte es sich paaren? Das andere Exemplar, das hellere, hatte zumindest wie einladend eine Seitenflosse aufgestellt. Interessiert beobachtete sie die beiden. Sie schmeckten nicht, das wusste sie mittlerweile, hatte mal ein, zwei Artgenossen angeknabbert, es dann aber schnell wieder sein lassen, und meistens stanken sie schlimmer als ein Dunghaufen und manchmal machten sie auch noch einen unglaublichen Lärm, der ihr in den Ohren wehtat. Aber sie waren warm, zumindest, wenn sie sich gerade erst zum Schlafen hingelegt hatten, und jetzt mit der beginnenden Kälte war Wärme etwas Wunderbares, selbst, wenn sie von diesen seltsamen Geschöpfen kam …

 

Zögernd kam sie näher. Die Beiden strahlten eine unglaublich behagliche Wärme aus, sodass sie sich zwischen ihnen fast wieder wie im Nest fühlte, das sie manchmal immer noch vermisste. Wachsam warf sie einen Blick zu den schwanzlosen Zweibeinern hinüber, aber die schienen ganz mit sich beschäftigt und beachteten sie nicht. Vorsichtig machte sie noch ein paar Schritte zu dem Männchen, das dunkle mit den hellen Leuchtpunkten. Es rührte sich nicht, auch nicht, als sie es behutsam beschnüffelte. Es stank wie alle Exemplare seiner Art und … es summte leise. Sie wich vor ihm zurück, mochte nicht, dass es Geräusche machte. Vielleicht balzte es wirklich um das Weibchen?

Dem wandte sie sich nun zu.

 

Sie hatte noch nie erlebt, dass eins von diesen Geschöpfen die Flosse so aufstellte und sein Inneres so offen preisgab, auch wenn die Schwanzlosen sich ständig verschlucken und wieder ausspeien ließen und dann hinter dieser Flosse herauskamen … Aber auch das Weibchen zeigte keine Regung, als sie es beschnupperte (dafür trug der Wind beunruhigende Gerüche zu ihr, der Große Jäger war in der Nähe und das war nie gut). Von der anhaltenden Reglosigkeit ermutigt, streckte sie den Kopf in die Öffnung und stellte die Vorderbeine auf das innere Fleisch des Geschöpfes.

Es war warm und so weich.

Sie machte sich lang, sah sich neugierig im Inneren um. Die Eingeweide boten erstaunlich viel Platz und –

 

Lautes Knallen aus Richtung der Schwanzlosen schreckte sie auf, das Knallen, das so schrecklich wehtun konnte; ein Plattenträger kam zwischen den Bäumen herausgeprescht und irgendwo ganz in der Nähe, das konnte sie riechen, war auch der Große Jäger unterwegs –

Kurzentschlossen sprang sie in das Geschöpf und verkroch sich im hinteren Teil, machte sich ganz klein, als der Lärm draußen immer lauter wurde und der Große Jäger auf seiner Jagd vorbeikam. Aber hier drin sah er sie nicht.

Hier drin war sie in Sicherheit.

Und im Warmen.

Nach einer Weile schloss sie die Augen.

 

*

 

Erneutes Knallen und die schrillen Laute von Schwanzlosen weckten sie. Aufgeregtes Gezirpe von Echsenfressern sagte ihr, dass der Große Jäger mittlerweile weit weg war, aber die Schwanzlosen waren wieder da und jetzt näherten sie sich ihr auch noch … Zu spät, um ungesehen aus dem warmen Tier zu springen. Wieder machte sie sich ganz klein, zog sich, so gut es ging, tiefer in den Bauch des Geschöpfes zurück.

 

Kalte Nachtluft strömte herein, als ein Schwanzlos-Männchen die Schnauze des Tiers anhob und es mit einem toten Echsenfresser fütterte. Interessant, dass es die fraß … Hoffentlich bedeutete das nicht, dass es auch sie fressen würde …

Sich kleinmachen. Warten. Vielleicht ergab sich ja noch eine Gelegenheit zur Flucht.

Das andere Geschöpf, das Männchen mit dem leuchtenden Hinterteil, schien sich dem Klang nach zu entfernen, ohne sich seinem Weibchen noch anzunähern.

 

Das Schwanzlos-Männchen kam durch die Flossenöffnung herein und machte sie hinter sich zu. „Verdammte Scheiße“, machte es leise. „So eine Scheiße auch!“

Das war lauter. Sie duckte sich so tief es ging, um nicht entdeckt zu werden, spähte durch die Eingeweide zu ihm hinüber. Mittlerweile war es hier unten kalt geworden.

 

Das schwanzlose Männchen rieb sich mit einer Pfote über die Schnauze; es roch nach Echsenfresser- und Schwanzlos-Blut. „Gott, und dann erschieß ich die auch noch selber, das darf doch nicht wahr sein. Scheiße, was mach ich jetzt?“ Es schien einen Moment zu überlegen. „Gut, den Compy in die nächstbeste Mülltonne werfen, niemand weiß, dass wir hier waren, die Waffe gehört weder Wächter noch mir … Solange Wächter den Mund hält, kriegen wir das alles irgendwie hin …“ Es griff dem Geschöpf ins Fleisch und es erwachte.

 

Das Herz des Tiers pochte plötzlich laut und es schnurrte fast wie ein Junges, das um Futter bettelte (dabei war es doch gerade erst gefüttert worden, dachte sie neidisch; der Geruch nach dem toten Echsenfresser, der zu ihr hinüberdrang, machte sie langsam hungrig). Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, als es sich in Bewegung setzte.

„Das wär alles nicht passiert, wenn Wächter nicht aufgetaucht wäre“, machte das Schwanzlos-Männchen leise, klang wütend. „Ich hatte das doch unter Kontrolle! Scheiße auch …“

Allmählich wurde es wieder wärmer und sie gewöhnte sich an die Laute, die das Schwanzlos von sich gab. Wenn nur dieser tote Echsenfresser nicht gewesen wäre, der sie beständig daran erinnerte, dass ihre eigene letzte Mahlzeit bereits eine ganze Weile her war … Es machte sie unruhig, ihr Schwanz zuckte nervös und sie streckte sich etwas in die Richtung, aus der der Geruch kam, vielleicht gab es ja irgendeine Möglichkeit, sich einen Happen davon zu sichern, denn es roch nicht so, als würde das Tier sein Futter bereits verdauen …

 

Ein Schreckenslaut des Schwanzlosen ließ sie zusammenzucken und den Kopf drehen. Er hatte sie entdeckt! Drohend stellte sie ihren Kragen auf, fauchte warnend. Statt zurückzuweichen, zog er einen von diesen schlimmen Zweigen hervor, die Feuer speien konnten und die so schrecklich wehtaten … Sie spuckte ihm ins Gesicht. Er schrie, versuchte, sich mit einer Vorderpfote ihre lähmende Spucke aus den Augen zu wischen. Der Zweig in seiner anderen Pfote knallte und sie spürte die Hitze, die davon ausging, aber diesmal tat es ihr nicht weh. Das Geschöpf kam rumpelnd zum Stehen, eine Flosse sprang auf. Dem Schwanzlosen bloß nicht nochmal die Gelegenheit geben, sich zu wehren! Sie biss in seine Pfote, sodass er den Zweig fallen lassen musste (er schrie noch immer jämmerlich), dann quetschte sie sich nach vorne zu ihm durch und stürzte sich auf ihn. Endlich konnte sie ihren Hunger stillen.

 

Wenig später legte sie sich satt und zufrieden wieder auf ihren warmen, weichen Platz zwischen den Eingeweiden des Tieres und rollte sich zum Schlafen zusammen. Ja. Hier gefiel es ihr.

Manchmal waren die Schwanzlosen wohl doch zu etwas gut.

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