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79 qm, Küche, Bad, Balkon

Summary:

Berlin ist groß, laut und kalt. Nirgends kann man so einfach verloren gehen.

Aber Adam hat hier das erste Mal so etwas wie ein Zuhause gefunden.

Ein Ort, an dem man bleiben kann.

(Oder auch die Geschichte, wie Adam zu seinen blondierten Haaren kam.)

Chapter 1: Mut zur Veränderung

Chapter Text

Dass Adam hier, in ihrem winzigen Badezimmer, auf einem der Küchenstühle hockte, dabei einen Müllsack als Cape um die Schultern trug und mit brav gescheitelter Frisur missmutig in den Spiegel starrte, passte ihm überhaupt nicht.

Noch weniger passte ihm Vincents ehrliche Begeisterung, mit welcher dieser die Rückseite einer Pappbox las, auf der mit großen Buchstaben 'Blondierung' stand.

Kaum zu glauben, dass Adam sich schon wieder zu einem von Vincents Experimenten breitschlagen lassen hat. Einmal im falschen Moment nicht schnell genug nein gesagt und schon saß man an einem Samstagnachmittag in Unterhose und Müllsack vor dem Badezimmerspiegel.

Vincents Stirn kräuselte sich in Konzentration. Er trug ein fleckiges T-Shirt, auf welchem die Pussycat Dolls aufgereiht posierten, eine graue Jogginghose der Marke Adidas und eine notdürftige Frisur, bestehend aus wilden Locken, einem grünen Haargummi und viel Hoffnung. Vincents offizielles Arbeitsoutfit.
Adam wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Das letzte Mal, als er diesen Look an seinem lockigen Freund gesehen hatte, musste er im Anschluss helfen, eine annähernd drei Meter große Palme in die vierte Etage zu hieven.

Gefunden auf Ebay Kleinanzeigen.

Nimmt jetzt zirka sechzig Prozent ihres Wohnzimmers ein und sorgt für ein “harmonisches Raumklima”.

Heute ging es Adam wohl höchstpersönlich an den Kragen.

"Wirkt jetzt irgendwie nicht so, als hättest du das schonmal gemacht", bemerkte Adam verdrossen, als hinter ihm die Packungsrückseite ein drittes Mal gelesen wurde.

"Ruf halt meine Schwester an, wenn du mir nicht glaubst", entgegnete Vincent gelassen und riss nun doch endlich die Packung auf.

"Ja klar, dann kann ich mir aus erster Hand anhören, was für 'ne Katastrophe das war", brummte Adam und beobachtete wie Vincent den Schachtelinhalt auf dem kleinen Badschrank neben dem Waschbecken kippte.

"Erzähl keinen Quatsch. Außerdem basiert das hier immer noch alles auf Freiwilligkeit.”
Voller Elan fischte Vincent zwischen einem Pinsel und verschiedenen Tuben zwei dünne Handschuhe hervor und zog diese entschlossen über.

Adam schnaubte trocken.

"Weiß nicht, ob ich das freiwillig nennen würde."

In Wahrheit bearbeitet Vincent ihn seit ungefähr einem halben Jahr mit Vehemenz. War es ihm doch völlig unverständlich, warum Adam nicht verstand, wie gut er doch mit blondierten Haaren aussehen würde.

So wurde er aufgeregt flüsternd am Arm festgehalten, sobald eine auch nur im Ansatz blonde Person ihren Weg kreuzte, Magazine mit diversen Bilder blondierter Frisuren schoben sich wie von allein in Adams Sichtfeld und sehnsüchtige Finger strichen in regelmäßigen Abständen durch sein länger gewordenes Haar - gerne auch in Kombination mit einem unzufriedenen Seufzen.

Beim letzten gemeinsamen Einkauf in der Drogerie ihres Vertrauens fand er sich dann plötzlich in der Haarstyling-Abteilung wieder. Zufall sagen die Einen, ein gemeiner Hinterhalt die Anderen.

Wimpernklimpernd präsentierte Vincent die verschiedenen Optionen. Hielt dabei ein Plädoyer für Mut zur Veränderung. Man solle Chancen den notwendigen Raum geben.

Adam hatte keine Chance mehr. Er knickte ein.

"Glaub mir, du wirst mir noch dankbar sein", murmelte Vincent unbeeindruckt und strich behandschuht über Adams Haupt.

Beide wussten, dass Adams Hang zur Melodramatik bei weitem nicht so ernst gemeint war. Zu viel Zeit ist seit ihrem ersten Zusammentreffen vergangen, als dass das noch zur Debatte stand.

Adam meckerte eben gern, weil andere Gefühle zeigen halt oft nicht einfach war, und Vincent war stur und herzlich genug, um sich davon nicht abschrecken zu lassen.

Sanft kraulten Finger durch Adams Strähnen. Am Hinterkopf, in den Nacken, zu den Schläfen und wieder zurück. Stets bedacht um den mühsam geformten Scheitel herum. Das leise Knistern der Plastik-Handschuhe hatte beinahe etwas meditatives.

Einer der simpleren Kniffe aus Vincents Trickkiste.

Ein Friedensangebot.

Erfolgschancen: garantiert.

Er ließ seine Finger noch ein paar Kreise ziehen, ehe er versöhnlich beide Hände seitlich an Adams Kopf platzierte, um diesen gerade auszurichten.

Noch bevor Adam Protest ankündigen konnte, intervenierte Vincent prompt.

"Kein Wort mehr jetzt. Ich muss mich konzentrieren. Sonst wird es am Ende doch noch blau."

Stumm klappte der noch Dunkelblonde seinen Mund wieder zu.

Beschäftigt wuselte Vincent- nun wieder mit Pinsel in der Hand - hinter Adam herum.

Dieser gab sich stumm seinem Schicksal hin und betrachtete das Schauspiel nun doch mit einem unterdrückten Grinsen im Spiegel. Sah zu, wie Vincent verschiedene Tuben anleitungsgetreu in eine dunkelblaue Plastikschüssel leerte und deren Inhalt mit einem Ausdruck von Genugtuung zusammenrührte.

Ein chemischer Geruch nahm langsam das Badezimmer ein.

“So, ich denke, das sollte soweit passen”, verkündete Vincent, während er nochmals mit einem Auge die Anleitung überflog. Anscheinend von seinem Tun überzeugt, raffte er sich auf und strahlte Adam begeistert im Spiegel an.

“Bereit für die beste Entscheidung deines Lebens?”

Ergeben brummte Adam. Für Flucht war es dann doch leider zu spät.

Augen zu und durch.

Munter begann Vincent die erste Ladung auf gescheitelten Haar zu verteilen.

"Huch."

Alarmiert öffnete Adam seine Augen. Doch anstatt der erwarteten Rauchwolke über seinem Kopf oder urplötzlichen Haarausfall, blickte Vincent auf einen Kleks Blondierung auf den hässlichen Badezimmerfliesen.

Erleichterung wich dem Schreck.

Aus Mangel an Alternativen wischte Vincent kurzerhand den Fleck mit seiner Socke auf.

Adams Augenbraue wanderte vielsagend nach oben. Bereute es, nicht doch nochmal bei Vincents Schwester durchgeklingelt zu haben.

Doch es half nichts.

Vincent war bereits wieder hochmotiviert an der Arbeit.

Ein wenig später fand sich Adam immer noch in Unterhose und do-it-yourself-Cape im heimischen Badezimmer.

Erstaunt fuhr er durch seine nun aschblonden Haare.

Er fand es großartig.

Es war anders. Ein anderer Adam. Ein neuer Adam.

Sein Scheißvater würde es hassen. Er will sich gar nicht ausmalen, welche Begriffe ihm zu seinem neuen Look einfallen würden. Ein weiterer Pluspunkt auf der Liste.

Vincent blickte Adam mit einem zufriedenen Lächeln über seine Schulter hinweg im Spiegel an. Den Föhn noch halb im Anschlag.

Von nun an fand Adam sich regelmäßig im hauseigenen Friseursalon wieder.