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Nachtschwarz

Summary:

Seit unzähligen Generationen leben die zwei Katzenclans des Waldes, der Blatt- und der WurzelClan, in kaltem Frieden Seite an Seite.
Nachtpfote, eine junge Schülerin des BlattClans, lernt unter den wachsamen Augen ihrer Mentorin zu jagen und zu kämpfen. Sie weiß genau, einmal wird sie sich als große Kriegerin zum Wohl ihrer Gemeinschaft einsetzen.
Doch eines nachts fallen die Katzen des WurzelClans hinterhältig in das Lager des BlattClans ein und treiben sie aus ihrem Territorium. Ihr Anführer Zapfenstern strebt nach der Macht über den gesamten Wald. Nachtpfote verliert ihr Zuhause und muss gemeinsam mit ihren Gefährten in eine Welt fliehen, in der nichts so ist, wie es einmal war.
Ihre Anführerin Morgenstern jedoch ist fest entschlossen zurückzukehren und um das zu kämpfen, was sie verloren haben.
Allerdings erahnt niemand das volle Ausmaß von Zapfensterns Plan...

Chapter 1: Die Flucht

Notes:

Für Infos über die Geschichte und die Auflistung der Charaktere schau unter meinen Werken auf meinem Profil <3

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Der Vollmond ergoss sein kaltes Licht über den Wald. Stumm und unbewegt wie er war, glich er der Landschaft, über die er wachte. Die Stille im Schatten der Bäume war undurchdringlich. Sträucher, Farn, nichts erweckte den Anschein, sich je gerührt zu haben. Das Dickicht lag bedrohlich im Zwielicht und moosbedeckte Felsen kauerten starr wie Ungeheuer im Schutz der Nacht. Die Luft lag schwer und drückend auf der Erde. Die Tiere hielten sich versteckt, denn sie spürten das nahende Unwetter. Nur eine einsame Maus huschte über den Waldboden auf der Suche nach einem Unterschlupf. Auf einem Teppich von dunkelgrünem Moos hielt sie inne, reckte den Kopf und witterte. Wind kam auf und brachte den Geruch von Regen mit sich, doch die Äste gaben noch immer kaum einen Laut von sich. Sie schienen zu warten, während die Dunkelheit sie umschloss wie schwarze Krallen.
Dann fiel ein Tropfen. Er war winzig, aber das Blatt, auf das er traf, begann zu zittern. Ihm folgten ein zweiter und ein dritter Tropfen. Mit einem Ächzen, als hätte er schon lange darauf gewartet, öffnete sich der Himmel. Wasser stürzte herab. Die Maus piepste schrill und schlüpfte in ein dickes Büschel Riedgras, als das kalte Nass auf die Erde trommelte. Blätter und Zweige beugten sich unter seiner wachsenden Last, die Pfützen, die seit dem letzten Regen inmitten der knotigen Baumwurzeln lagen, breiteten sich gierig weiter über das Laub aus. Plötzlich hatte der Wald zu atmen begonnen.
Die Maus schniefte und streckte verärgert ihren Kopf aus dem Gras, zog ihn aber gleich darauf wieder zurück. Aufgeschreckt vom nahen Donnergrollen tauchte eine Eule aus den Schatten. Mit kräftigen Flügelschlägen jagte sie durch den Wald, hielt sich so dicht an den Kiefern, dass sie ihre dürren Äste fast berührte. Ein eisiger Wind zog jetzt durch die Nadelbäume und ließ ihre Federn bei jedem Flügelschlag erzittern. Trotz des Sturms hielt die Eule den Kopf schräg und lauschte durch ihre Ohrschlitze. Es war eine Schleiereule, die sogar oben in der Luft noch die kleinste Bewegung einer Maus auf dem Waldboden hören konnte. Und in diesem Augenblick hörte die Eule tatsächlich etwas.
Ein spitzer Schrei tönte durch das Prasseln des Regens von einer Lichtung her, die zwischen den Silhouetten der Bäume kaum auszumachen war. Es war der Schrei eines Tieres in höchster Not. Ein Tier, das größer war als die Schleiereule selbst. Der schreckliche Laut verklang so schnell wie er gekommen war. Doch ehe der nächste Donnerschlag über den Himmel ging, peitschte ein weiterer Schrei durch die Luft.
Schlagartig machte die Eule kehrt und verschwand am nächtlichen Himmel. Ihr Gefieder war so leuchtend weiß, dass man sie, als sie nur noch ein winziger Punkt war, für einen verwaschenen Stern hätte halten können. Aber niemand sah die Eule.

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Mit vor Angst aufgerissenen Augen starrte Nachtpfote auf das grausame Schauspiel, das sich ihr auf der Lichtung bot.
Katzen jagten wie Schatten durch den Mondschein. Schatten mit glühendem Blick und gebleckten Zähnen. Krallen blitzten in den Lichtlanzen auf, die der Wald auf den Boden ließ, Blut spritzte über die Büsche. Die Schattenkatzen bäumten sich auf, sprangen einander an und gruben sich gegenseitig die Zähne tief in das Fleisch. Bebende Knäuel aus Hass und Wut wälzten sich durch den Dreck, Schreie gingen durch das Dickicht und brachen so schnell ab, wie sie aufgekommen waren.
Nachtpfote selbst bewegte sich nicht. Die Ohren dicht an den Kopf gepresst beobachtete sie schockiert die Menge der kämpfenden Katzen und konnte keine Zehe rühren. Das war nicht, was sie sich vorgestellt hatte. So sollte es nicht sein. Das Kreischen ihrer Clangefährten war so laut, dass es ihr den Magen umdrehte. Der Boden zu ihren Pfoten zitterte unter dem Aufprall stürzender Körper. Sie konnte die grausamen Blicke spüren, die über ihren Pelz huschten, wusste, dass sich jeden Moment Muskeln spannen würden, um sie zu packen. Es war zu viel. Nachtpfote wimmerte und schickte ein verzweifeltes Gebet zum SternenClan. Aber über dem strömenden Regen war kein einziger Stern zu entdecken.
SternenClan, sag mir, was ich tun soll!
Der Wind heulte und schickte ihr Tropfen scharf wie Klauen ins Gesicht. Sie durfte nicht einfach tatenlos zusehen. Sie durfte das nicht geschehen lassen! Eine wilde Mischung aus Entsetzen und Entschlossenheit überkam sie.
Bin ich eine Maus? Oder bin ich ein Krieger?!
Der Gedanke begann mit einem Flüstern, doch er wurde lauter und lauter, bis er in ihrem Kopf schrie. Er war so laut, als hätten die Kriegerahnen ihr ins Ohr gebrüllt. Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, fuhr sie die Krallen aus und stürzte sich ins Chaos.
Es brauchte nur eine Sekunde. Dann stieß ein fremder rauchschwarzer Kater heftig in ihre Flanke. Nachtpfote taumelte zur Seite, bemüht, ihr Gleichgewicht zu finden. Sie verlor den Halt auf der nassen, aufgewühlten Erde. Noch im selben Augenblick stürzte ihr Gegner vor. Er war viel größer als sie, aber Nachtpfote war gerade schnell genug, seinen Krallen auszuweichen und ihm kräftig die Zähne in den Hals zu schlagen. Der Fremde schrie auf, damit hatte er nicht gerechnet. Salziges Blut sickerte in Nachtpfotes Maul. Erschrocken ließ sie von ihrem Gegner ab und die beiden standen sich lauernd gegenüber.
Es war schwer ihn auszumachen, doch obwohl sein schwarzes Fell mit der Finsternis verschmolz, meinte Nachtpfote, ihn zu erkennen. Das musste Aschenherz, einer der stärksten Krieger des WurzelClans, sein. Mit aller Macht drückte sie ihre Pfoten in die Erde, um nicht davonzulaufen.
Aschenherz knurrte wütend. Blut tränkte das Fell an seiner Kehle und wurde vom Regen über seine Flanke gespült. Seine Pfote schoss vor, die Krallen bereit, sich in ihre Nase zu graben. Nachtpfote wich aus, aber sie stolperte im Schlamm und schlug auf den Boden. Bevor sie sich wieder aufrichten konnte, war der feindliche Krieger über ihr.
„Du wagst es, mich anzugreifen, mickrige Schülerin?!“, sagte er verächtlich, „Du hättest laufen sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.“
Nachtpfotes Hals brannte, als ein Knurren darin aufstieg. Eine plötzliche Welle des Zornes jagte ihre Angst einfach davon. Mit zusammengekniffenen grünen Augen funkelte sie zu Aschenherz hoch. „Ich bin eine Schülerin, aber ich werde meinen Clan verteidigen – wie ein Krieger, wenn es nötig ist!“
Mit einem Schlag ihrer Hinterpfoten stemmte sie ihren Gegner von sich und sprang auf, um erneut in den Kampf überzugehen. Doch plötzlich warf sich eine andere Katze zwischen sie und Aschenherz. Nachtpfote erkannte das goldbraune Fell sofort. Sie sah Krallen aufblitzen, nur eine Sekunde vor dem Schrei. Aschenherz wich hastig zurück, aber nicht schnell genug. Mit seinem ganzen Gewicht warf sich Messerzahn auf den schwarzen Kater. Der strampelte, um sich zu befreien, aber Messerzahn hielt ihn mit eiserner Tatze. Seine Klauen zogen tiefe Wunden über Aschenherz' entblößten Bauch. Mit einem wilden Kreischen bäumte der Krieger des WurzelClans sich auf, sein Blut spritzte über die Farnwedel. Messerzahn wich zurück und ließ den Feind entkommen. Erst dann wandte er sich an Nachtpfote.
„Komm mit mir!“, rief er ihr über den Lärm des Kampfes und des Gewitters zu.
Die kleine Katze zögerte. Es war, als hätte der Wind ihr die Angst aus dem Fell geblasen. Ihr war klar, dass sie sich eben gegen Aschenherz behauptet hatte. Sie hatte gegen einen Krieger gekämpft, der um Längen größer und stärker war als sie! Mit einem Mal war ihr schwindelig vor Kampfeslust. Die Vorstellung, für ihren Clan alles zu geben, ließ ihre Pfoten jucken.
Ich muss weiterkämpfen!, flüsterte es in ihr. Ich muss das Lager verteidigen!
Doch Messerzahn bemerkte ihr Zögern und senkte auffordernd seinen Kopf. Der goldbraune Kater musste sie nicht daran erinnern, dass er der Zweite Anführer des BlattClans war und sie nur die Schülerin. Er erteilte einen Befehl und sie musste gehorchen. Das Glühen seiner Bernsteinaugen duldete keine Widerrede. Also unterdrückte Nachtpfote ihr plötzliches Verlangen, sich erneut dem Kampf hinzugeben, und legte das Fell an. Widerwillig senkte sie den Blick und folgte ihm.
Messerzahn bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch das Getümmel über die Lichtung. Nachtpfote versuchte, sich in seinem Schatten zu halten, und schlängelte sich durch das Gewühl aus Zähnen und funkelnden Augen. Obwohl der Mond von Gewitterwolken verschluckt worden war, konnte sie es sehen. Das Blut, das der Regen über die Erde jagte. Schemen von Katzen, die mit gierigen Fängen nacheinander schnappten. Pfoten, die hasserfüllt nach ihr langten. Nachtpfote jaulte auf. Zweimal war sie kurz davor, den goldbraunen Kater zwischen den zuckenden Körpern zu verlieren. Dann begann ihr Nackenfell plötzlich unheilvoll zu prickeln und ihr Herz stolperte vor Furcht, weil sie wieder klein war. Klein und unbedeutend; nur eine Schülerin. Mit angehaltenem Atem tauchte sie unter den Körpern zweier ringender und kratzender Krieger hindurch, ein feuchter Pelz stieß sie beiseite und brachte sie zum Straucheln. Der Zorn war verflogen wie heiße Luft. Die Nachtpfote, die noch eben gegen Aschenherz gekämpft hatte, war so schnell verschwunden wie sie gekommen war und die anschließende Euphorie wie weggewaschen. Jetzt hielt sie sich mit zitternden Flanken dicht an Messerzahns Schwanzspitze und wollte nur noch in ihr Nest kriechen.
Wie habe ich je denken können, ich wäre eine Kriegerin?
Immer schneller trommelten ihre Pfoten auf die Erde wie auf der Flucht vor sich selbst. Schließlich hatten sie und Messerzahn das andere Ende der Lichtung erreicht.
Der Kater brachte sie zu einer kleinen Höhle, die am Rand des Lagerwalls gut verborgen hinter mehreren Weißdornbüschen lag. Mit einem Schwanzschnippen bedeutete er Nachtpfote, sich dort zu verstecken. Unsicher kroch sie zurück und hob zu protestieren an, aber ein strenger Blick aus seinen dunkelgelben Augen ließ sie verstummen. Wortlos kehrte sie ihm den Rücken und zwängte sich in das Loch.
„Das ist kein Kampf für Schüler!“, drang Messerzahns Stimme noch durch das Gestrüpp herein, kurz darauf zeugten seine leiser werdenden Schritte davon, dass er sich erneut in die Schlacht begeben würde.
Ein Hauch Enttäuschung prickelte über Nachtpfotes Rücken. Der Geschmack von Blut in ihrem Maul ließ sie schaudern, aber sie erinnerte sich auch daran, wie großartig es gewesen war, den Respekt in Messerzahns Augen zu sehen, ungeachtet seiner strengen Worte.
Er weiß, dass ich ihn hätte schlagen können. Ich hätte Aschenherz schlagen können!
Ein kleiner Teil ihrer früheren Euphorie kehrte zurück. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, Messerzahns Befehl zu missachten und sich Aschenherz erneut zu stellen. Ihre Muskeln zitterten noch immer, wenn sie sein hämisches schwarzes Gesicht vor sich sah. Aber die Eindrücke vom Schlachtfeld ließen sie innehalten. Außerdem wusste sie, dass sie damit ein hohes Risiko eingehen würde. Es gab Katzen in ihrem Clan, die nicht so leicht verziehen. Stattdessen richtete sie ihren Blick nach vorne; in den zwielichtigen Raum, der kaum vom Schein des Mondes erleuchtet wurde. Sie war nicht allein. Katzen hockten dort im Schutz der Dunkelheit.
Nachtpfote kniff die Augen zusammen und erkannte Klettenpfote, Tannenpfote und Wüstenpfote, die anderen Schüler des BlattClans. Und fast von den Schatten verschluckt pressten sich die Gestalten zweier weiterer Katzen an die nasse Höhlenwand. Es musste sich um die Ältesten Mottenfuß und Halbschweif handeln. Ein mulmiges Gefühl regte sich in Nachtpfotes Hinterkopf, als sie sah, dass Schlitzohr fehlte.
Über den kalten Boden tappte Nachtpfote zu den anderen Schülern und ließ sich neben Tannenpfote nieder. Der junge Kater warf ihr einen flackernden, erleichterten Blick zu. „Nachtpfote! Geht es dir gut? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“
Nachtpfote senkte den Kopf vor Verlegenheit. „Ich bin okay. Wirklich.“ Wasser troff aus ihrem Pelz.
Tannenpfote seufzte und zog nervös seine Krallen über die Erde. „Es ist so schlimm da draußen. Ich…hatte nicht erwartet, dass es so sein würde.“ Seine Stimme war nur ein raues Flüstern.
Nachtpfote schluckte. Die Zweige des Weißdorns konnten das Kreischen, das von der Lichtung herkam, nicht dämpfen.
Es ist auch sein erster Kampf, dachte sie. Vorsichtig schaute sie aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. Er war älter und größer als sie. Im Augenblick war sein grüngraues Fell mit Dreck und Staub beschmutzt und Kratzer zogen sich quer über seine Flanke.
Sehe ich auch so aus?
„Ich war draußen, bevor Messerzahn mich weggeschickt hat“, raunte Tannenpfote ohne auf eine Antwort zu warten. Selbst im fahlen Licht, das durch den Höhleneingang fiel, konnte Nachtpfote noch die Angst sehen, die in seinem Gesicht stand. „Haben wir überhaupt eine Chance?“
Auf seine Worte folgte eine ängstliche Stille. Nachtpfote spürte, dass sich die Katzen in der Dunkelheit enger an die Steinwände pressten. Sie schluckte erneut, aber der metallische Geschmack in ihrem Maul blieb.
„Wir schaffen das“, sagte sie und wusste, wie mäusehirnig sie klang. „Morgenstern wird nicht zulassen, dass uns etwas geschieht.“
Tannenpfote schwieg.
Bevor Nachtpfote noch etwas anfügen konnte, schob sich eine Gestalt durch den Weißdorn. Blattsprenkel stürzte in die Höhle, die Schnauze rot vor Blut, das Fell hoffnungslos zerzaust. Ihre Worte waren nicht mehr als ein Keuchen, aber in der Höhle klangen sie so laut, dass die anwesenden Katzen zusammenschraken.
„Es sind zu viele!“ Blattsprenkel schnappte heftig nach Luft. „Wir ziehen uns zurück! Befehl von Morgenstern!“
Nachtpfote hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Mit einem Satz war sie auf den Beinen. Auch Tannenpfote und die anderen sprangen auf. Mottenfuß schob sich vor. „Zurückziehen? Wohin denn?“
Halbschweif legte ihre Ohren an und fauchte: „Aber wir können doch nicht einfach aufgeben!“
Blattsprenkel warf den Ältesten einen traurigen Blick zu. „Wir haben keine Wahl.“ In der nächsten Sekunde wirbelte die Kriegerin herum und zwängte sich durch die Büsche zurück auf die Lichtung.
Nachtpfote fühlte ihre Welt zusammenbrechen. Sie schwankte und sah ihre eigene Angst in den Gesichtern der anderen gespiegelt. Ein, zwei Herzschläge standen sie wie gefroren. Dann rührte sich Mottenfuß. Mit schweren Schritten tappte er Richtung Höhleneingang und zog sich hinaus. Sobald der alte Kater verschwunden war, folgten Halbschweif und Klettenpfote ihm zögernd.
Eine warme Schulter stützte sie, bevor Nachtpfotes Beine unter ihr nachgeben konnten.
„Komm schon, du schaffst das.“
Tannenpfotes Stimme war überraschend ruhig. Sanft schob er sie vorwärts und sein Atem ließ ihre Schnurrhaare beben. Sie zitterte, aber mit seiner Hilfe schaffte sie es, sich aufrecht zu halten. Als Klettenpfote draußen war, zwängte sich Nachtpfote durch das Loch.
Kalter Regen schlug ihnen ins Gesicht. Dicht an Tannenpfotes Seite stürmte die schwarze Kätzin los über das blutbefleckte Gras. Augenblicklich waren sie wieder von schlagenden und schnappenden Kriegern umgeben, aber Nachtpfote sah nicht ein einziges Mal hoch. Den Blick fest auf ihre wirbelnden Beine gerichtet rannte sie, bis sie den Dornentunnel erreichte. Hastig kämpften sie und ihre Clangefährten sich durch das Gestrüpp aus dem Lager. Schreie verfolgten sie noch bis in den flüsternden Wald.
Sobald sie dichtes Buschwerk erreicht hatte, drosselte Blattsprenkel ihr Tempo. Sie wartete, bis auch die letzte Katze aufgeholt hatte, dann schnippte sie energisch mit ihrem Schwanz. „Ihr bleibt hier, verstanden?“, knurrte sie mit finsterem Blick. „Ihr versteckt euch und nehmt euch vor feindlichen Kriegern in Acht. Ich komme wieder, sobald ich kann.“
Nachtpfote trat vor, aber Blattsprenkel stoppte sie mit einem entschlossenen Blick. „Keine Ausnahme“, betonte sie. „Ihr tut, was ich sage.“
Und schon machte sie kehrt und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Nachtpfote wurde bang ums Herz, als die Kriegerin verschwand. Plötzlich war sie umgeben von schwarzen Schatten, die das Mondlicht nicht durchdrang. Die Nacht wurde zu flimmernden Katzengestalten, die sie aus glühenden Augen beobachteten. Vor Angst drückte sie sich fest auf den Boden.
Auch den anderen sträubte sich vor Furcht das Nackenfell. Allein Mottenfuß blieb ruhig. „Folgt mir“, raunte er, „Hier sind wir zu ungeschützt.“
Auf Samtpfoten trabte der rostrote Kater in den Wald hinein, die anderen dicht hinter sich. Nachtpfote musste ihre Tatzen zwingen, sich zu bewegen, bis sie eine geschützte Stelle gefunden hatten. Dort kauerte die Schülerin sich in hartes Gras, eng an Tannenpfotes Flanke gepresst. Klettenpfote und Wüstenpfote hockten auf seiner anderen Seite und die Ältesten versteckten sich zwei Katzenlängen weiter unter einer Ginsterhecke. Der Herbstwind wühlte durch ihr Fell und Nachtpfote fürchtete die Dunkelheit, die sich nach ihr ausstreckte. Die Augen zu Schlitzen verengt konzentrierte sie sich ganz auf Tannenpfotes leise Atemzüge und wartete.
Keiner von ihnen brachte ein Wort heraus. Auch aus dem BlattClanLager kamen jetzt keine Laute mehr. Stille hatte sich wieder über den Wald gelegt, nur unterbrochen vom Prasseln des Regens und einem gelegentlichen Donnergrollen. Wann immer ein vom Wind bewegter Zweig ihren Pelz streifte, zuckte Nachtpfote zusammen. Bald waren ihre Pfoten taub und Kälte kroch ihr in die Glieder. Ihr Atem schickte schwache Dampfwölkchen in die Höhe. Sie ächzte, reckte sich und versuchte einen Blick Richtung Dornentunnel zu erhaschen.
Was passiert da drinnen?
Aber die tiefschwarze Hecke wollte ihr keine Antwort geben.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich auf der Lichtung tiefe Schreie erhoben. Dann knackte es im Unterholz und endlich strömten die Krieger des BlattClans ins Freie. Der Boden vibrierte unter ihren Tatzen, dutzende Pelze streiften durch das Laub und verschwanden in der Dunkelheit.
Nachtpfotes müder Körper protestierte, als sie sich aus dem Gras stemmte. Mit Tannenpfote und den anderen verließ sie das Versteck, um sich ihrem Clan anzuschließen. Die Katzen drängten sich verwirrt zusammen wie eine dunkle Wolke und Morgenstern, die Anführerin, nahm ihren Platz an der Spitze ein. Auf ihr Zeichen hin tauchten sie alle ins Dickicht.
Die Krieger begannen zu laufen, wie sie noch nie gelaufen waren. Nachtpfote hetzte durch den Wald und ließ ihre tauben Glieder schmerzhaft auf die Erde schlagen. Sie konnte nur schwerlich sehen, doch ihre Ohren folgten den Geräuschen der Pfoten, die durch das Laub wirbelten. Ab und zu leuchtete ein Pelz wie eine sterbende Flamme im Mondlicht auf. Bemüht Tannenpfote nicht zu verlieren, jagte Nachtpfote weiter. Ihr Atem ging so laut, dass sie kaum noch etwas anderes hörte. Der nasse Boden ließ sie stolpern und ihre Pfoten wollten sich einfach nicht mehr richtig bewegen. Sie spürte, dass sie zurückfiel. Dunkle Zweige wirbelten an ihr vorüber.
Sie schlug einen Haken um eine dicke Eichenwurzel und hob an, nach Tannenpfote zu rufen. In dem Augenblick stach ihr ein Ast aus der Dunkelheit entgegen. Das Laub spritzte auf, sie warf sich zur Seite. Scharfe Zweige peitschten ihr ins Gesicht und mit einem erstickten Schrei stürzte sie zu Boden.
Einige Herzschläge lang war ihr Kopf erfüllt vom Rauschen ihres eigenen Blutes. Als sie aufblickte, war ihr Clan schon im Buschwerk verschwunden. Die Brombeeren schaukelten kurz, dann lagen sie still.
Mit einem Stöhnen rappelte Nachtpfote sich auf. Ihre Schnauze pochte, aber sonst schien sie unverletzt. Schlamm klebte an ihrem Körper. Sie legte den Kopf schief und lauschte. Die Feinde waren nicht weit. Zweige brachen unter ihren Klauen, als sie die Verfolgung der flüchtenden Katzen aufnahmen. Sie bemühten sich nicht einmal, leise zu sein. Nachtpfote sträubte sich das Fell. Die finsteren Krieger würden bald da sein.
Instinktiv spannten sich ihre Beine, bereit für den schnellsten Lauf ihres Lebens. Die Angst saß so fest in ihrer Brust, dass ihr die Luft wegblieb. Doch obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, hielt sie sich zurück. Die Krallen fest in die Erde gebohrt verharrte sie. Es war zu spät. Das Kichern und Schnappen von Zapfensterns Katzen erklang viel zu nah, nur wenige Sprünge entfernt. Wenn sie jetzt rannte, würde man sie sicher entdecken. Und Nachtpfote wollte sich nicht ausmalen, was die Feinde mit ihr anstellen könnten.
Vorsichtig trat sie einen, dann zwei Schritte zurück ins schützende Dickicht. Der Ast einer Buche hing tief über ihrem Pelz.
Haben sie mich schon gesehen?
Mit angehaltenem Atem starrte sie in den Wald. Es war, als würde er zurückstarren. Sie prüfte die Luft, aber wie es schien, hatte sie Glück und war noch nicht entdeckt worden. Pfoten donnerten nur wenige Schwanzlängen entfernt an ihr vorbei, sie hielten nicht inne. Fest in das Dickicht gedrückt wartete Nachtpfote, bis der Lärm verklungen war. Die flüsternden Äste hielten ihr braunschwarzes Fell verborgen.
Laub raschelte unter ihren Zehen, als sie schließlich das Versteck verließ und den vom Regen schwachen Duftspuren ihrer Clangefährten folgte.

Notes:

Danke fürs Lesen :)
Falls dir das erste Kapitel gefallen hat, lass mich gerne deine Gedanken dazu wissen, bin gespannt!

Chapter 2: Ein Ende

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war so dunkel, dass sie kaum zwei Katzenlängen weit sehen konnte. Wind rüttelte ihr Fell und ließ die Kratzer an ihrer Nase kalt brennen. Mit zusammengebissenen Zähnen schlich sie weiter, tief geduckt und die Ohren wachsam nach hinten gedreht. Unter dem Lärm des Gewitters waren die Schreie von Zapfensterns Kriegern gedämpft, trotzdem setzte Nachtpfote ihre Pfoten mit Bedacht, um kein Geräusch von sich zu geben. Das Krachen und Knacken im Unterholz sagte ihr, dass sie die Jagd noch nicht aufgegeben hatten. Wie auch Nachtpfote folgten sie der Fährte der flüchtenden BlattClan-Katzen. Eng an ein Brombeergestrüpp gepresst beobachtete die Schülerin, wie ein zweiter Kriegertrupp an ihr vorbei in die Dunkelheit stürzte. Nur dem Schutz des Sturms war es zu verdanken, dass er sie nicht entdeckt hatte.
Ihr Herz begann gerade hoffnungsvoll zu pochen, als der Wind umschlug. Er brachte die Geräusche weiterer Katzen mit sich. Nachtpfote erstarrte, den Bauch dicht auf den Boden gedrückt, und linste durch die toten Blätter.
Wieder brachen Schemen durch das Dickicht. Sie konnte nicht sagen, wie viele es waren. Aber den mächtigen braunen Kater an ihrer Spitze erkannte sie sofort … Zapfenstern. Selbst mit seinem feuchten, am Körper klebenden Pelz wirkte er massig. Der Farn wankte und Dreck spritzte auf, als Zapfenstern herumwirbelte und heftig mit dem Schwanz peitschte. Auf sein Zeichen hin kamen die Krieger des WurzelClans zum Stehen. Moospelz war dicht an seiner Seite, flankiert von Aschenherz und einem anderen schwarzen Kater, den Nachtpfote im Zwielicht nicht erkannte. Sie war sicher, in der Dunkelheit noch mehr Katzen ausmachen zu können.
Zapfensterns Stimme war verächtlich, als er sprach. „Lasst es gut sein. Sie werden rennen und rennen, ohne sich noch einmal umzublicken.“ Seine Tatze sauste auf den Boden und riss das nasse Herbstlaub in Fetzen. „Sie sind zu feige, sich uns zu widersetzen. Ich denke, sie haben verstanden, dass der Wald uns gehört!“
Der schwarze Kater an Moospelz' Seite stieß ein beifälliges Gelächter aus. Die anderen stimmten mit ein. Ihre triumphierenden Rufe verloren sich zwischen den Bäumen und ihr höhnisches Echo ließ Nachtpfote zaudern.
Zapfenstern wandte sich als Erster ab. Siegessicher kehrte er der Spur der flüchtenden Katzen den Rücken und tauchte unter die tiefhängenden Zweige der Wacholderbüsche. Moospelz und Aschenherz folgten ihm auf den Pfoten. Nur der schwarze Kater bewegte sich nicht. Aus ihrem Versteck ein paar Sprünge weiter konnte Nachtpfote förmlich spüren, wie sein Blick das Unterholz abtastete. Seine Augen glühten wie blaue Flammen im Licht des Mondes. Dann drehte auch er endlich ab und verschmolz mit den Schatten.
Nachtpfote atmete auf. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie lange sie die Luft angehalten hatte. Der Regen hatte ihr Fell völlig durchnässt und Tropfen liefen ihr übers Gesicht in die Augen, aber sie bewegte sich um keine Haaresbreite. Ihre Ohren folgten den leiser werdenden Geräuschen von Zapfensterns Kriegern, bis sie nichts mehr hören konnten. Erst dann spannte sie die Muskeln an, um sich wieder auf die Pfoten zu stemmen.
In dem Augenblick brach hinter ihr ein Ast. Nachtpfote wirbelte herum und fiel vor Schreck zurück ins Laub.
Zwei funkelnde Augen lösten sich aus der Finsternis und fixierten sie am Boden. Zwei gelbe Schlitze in der Nacht, die Pupillen unverwandt auf den Körper der kleinen, verdreckten Schülerin gerichtet.
Nachtpfote blinzelte und versuchte, den Fremden zu erkennen. Das Augenpaar saß im Gesicht eines stämmigen, mausgrauen Katers. Mit gezückten Krallen stand er über ihr, seine Tatzen zerdrückten die Blätter, als er nähertrat. Etwas – seine Bewegungen, sein Blick – sagte Nachtpfote, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. War das nicht Rauchfuß, der Älteste des WurzelClans?
„Wen haben wir denn da?“, zischte Rauchfuß und stieß die Schnauze vor.
Nachtpfote unterdrückte ein Zittern. SternenClan, das muss ein Albtraum sein! Das passiert nicht wirklich!
Sie kroch rückwärts, spürte die scharfen Brombeerdornen nach ihrem Pelz greifen. Rauchfuß knurrte und entblößte seine vom Alter gelben Zähne. Seine struppigen Schultern verdeckten das letzte Bisschen Mondlicht, unter dem Pelz versteckt die Narben zahlreicher Kämpfe. Aber noch während er eine graue, krallenbesetzte Tatze nach ihr reckte, veränderte sich seine Miene schlagartig. Sein Blick fuhr über Nachtpfotes schlanken Rücken und ihre kleinen Pfoten. „Du bist ja nur eine Schülerin“, krächzte er und das Fell in seinem Nacken legte sich.
Nachtpfote war nicht sicher, wie sie seinen Ton deuten sollte. Sie spitzte die Ohren in der Erwartung, dass jeden Moment Zapfenstern und seine Krieger durch das Unterholz brachen, doch es blieb still. Wie es schien, hatte sie sonst noch niemand bemerkt. Aber nur ein Ruf von Rauchfuß und sie würden zurückkommen. Unwillkürlich spannte Nachtpfote die Muskeln. Wenn sie zuließ, dass er einen Laut von sich gab, würden die Feinde ihr das Fell über die Ohren ziehen. Der Geschmack von Aschenherz' Blut lag noch bitter in ihrer Kehle, als sie versuchte, das Feuer, das sie bei seinem überraschten Blick gefühlt hatte, erneut in sich aufsteigen zu lassen. Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, sammelte sie ihre Kräfte, bereit sich auf Rauchfuß zu stürzen und dann zu fliehen.
„Ich will dir nichts tun“, sagte er unvermittelt. „Lauf.“
Nachtpfote hielt überrascht inne. Die Augen misstrauisch zusammengekniffen sah sie zu ihm hoch. Das musste eine Falle sein. Sie fuhr die Krallen aus, um ihn anzugreifen.
Doch Rauchfuß trat zurück. „Lauf“, wiederholte er. „Bevor sie dich finden.“ Seine Stimme war eindringlich.
Eine Sekunde lang trafen sich die Blicke des Ältesten und der Schülerin. Seine gelben Augen funkelten, aber er wirkte aufrichtig.
Dann war die Sekunde vorüber.
Bevor sie wusste, was sie tat, sprang Nachtpfote auf und warf sich ins Gebüsch. Mit einem weiten Satz ließ sie Rauchfuß hinter sich und stürmte los. Die Ginsterzweige bebten, rückten mit einem leisen Flüstern hinter ihr zusammen. Sie keuchte, schlug einen Haken und folgte der Fährte ihrer Clankameraden. Danach rannte sie einfach. Das Wichtigste war, möglichst viele Bäume zwischen sich und den WurzelClan zu bringen. Möglichst viele Katzenlängen weit fort von Zapfenstern, dem schwarzen Kater mit den blauen Augen und Rauchfuß. Erst als sie sicher war, dass ihr niemand folgte, hielt sie an und schnappte nach Luft.
Es ist vorbei, dachte sie. Sie haben mich nicht erwischt.
Nachtpfote schickte ein stilles Dankeschön an ihre Kriegerahnen. Die Sterne wurden von schwarzen Wolken verdeckt, aber sie wusste, dass sie da waren. Sie waren immer da. Schier unendliche Erleichterung überspülte ihre Flanken. Sie brauchte einige tiefe Atemzüge, bis sie ihre Beine wieder spürte.
Mit einem letzten Blick zurück nahm die Schülerin schließlich ihren Weg wieder auf. Die Ohren geschärft lauschte sie auf jedes Geräusch. Die Nase im Wind achtete sie darauf, den Geruch ihres Clans nicht zu verlieren, der noch schwach im Dickicht verblieb. Das Gewitter ging über in Nieselregen, der jede noch so winzige Stelle in Nachtpfotes Pelz fand, die bisher trocken geblieben war. Ihre Schnauze war taub vor Kälte und ihre Beine fühlten sich schwerer an als sonst. So lief sie eine ganze Weile. Wann immer eine Fledermaus oder ein Vogel durch die Baumkronen brach, fuhr sie zusammen und wurde schneller. Einmal hörte sie eine versprengte Gruppe WurzelClan-Katzen in der Ferne durch die Büsche brechen. Sie hielt nicht inne.
Erst als ihr Blick etwas Helles im Buschwerk erfasste, wurde sie langsamer. Hinter einer umgestürzten Kiefer entdeckte Nachtpfote ein Büschel weißes Fell, im Zweiggewirr eines verdorrten Strauchs verfangen. Der Geruch ihrer Clangefährten war so stark, dass sie einen Freudenschrei kaum unterdrücken konnte. Ein letztes Mal spornte sie ihre erschöpften Läufe an, setzte über einen toten Ast und jagte um ein Ginstergestrüpp.
Sie müssen hier irgendwo sein, dachte sie. Gleich bin ich …
Ihr Sprint fand ein jähes Ende im Wasser, als sie durch eine Schicht Sträucher und Farne stürzte. Die Pflanzen fielen unter ihrem Gewicht einfach zusammen und schickten sie eine steile Böschung hinunter ins kalte Nass. Dreck spritzte auf. Entsetzt strampelte Nachtpfote, um sich aus den Zweigen zu befreien, zog sich aus dem aufgewühlten Wasser und kroch zurück. Schlamm saugte an ihrem Pelz.
Der Tümpel lag beinahe friedlich unter dem Firmament. Die Wellen, die Nachtpfote verursacht hatte, wanderten weit über die düstere Fläche, bis sie sich in der Dunkelheit verloren. Dann waren die kleiner werdenden Regentropfen wieder das Einzige, was sie störte. Donner grollte über den Himmel.
Der Schreck saß Nachtpfote tief in den Knochen. Ihre Haut brannte, wo scharfe Zweige sie geschnitten hatten, einer ihrer Ballen war aufgerissen und blutete. Zitternd kauerte sie sich auf die Erde und schmeckte die Luft. Sie war so feucht wie ihr Fell. Keine Spur vom BlattClan. Sie witterte erneut, aber hier am Ufer verlor sich die Fährte. Schlamm bedeckte ihre Nase. Verzweifelt fuhr sich die schwarze Katze über das Gesicht und versuchte den stechenden Gedanken zu verdrängen, der unnachgiebig in ihrem Hinterkopf aufstieg, aber es war zwecklos.
Sie hatte ihren Clan verloren.

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Ein Blitz ließ die weißen Federn der Eule gespenstisch aufglühen. Mit kräftigen Flügelschlägen jagte sie über die Baumkronen, die der Sturm mit seinen unsichtbaren Fingern rüttelte. Ihre Augen suchten den Waldboden ab, ihre Ohrschlitze horchten wachsam auf ein Zeichen von Beute. Bei einer Gruppe windgebeugter Tannen schlug die Eule einen Bogen und ließ sich lautlos auf einen ihrer immergrünen Äste fallen. Einige Herzschläge verharrte sie dort, im Zwielicht kaum auszumachen, und beobachtete die Ankunft der ersten Sonnenwärme über dem Horizont.
Dann tappte sie über den Ast zum Stamm des Nadelbaums, um in das verwitterte große Astloch darin zu schlüpfen. Sie hielt inne, als es im Unterholz leise raschelte. Der Wald war erfüllt von Klang; dem Wind, der die Äste aneinander stieß, die letzten Regentropfen, die die Wolken noch auf die Erde spien. Aber dieses Rascheln war etwas anderes. Vorsichtig drehte die Eule den Kopf. Da waren winzige, trippelnde Schritte. Am Boden. Sie senkte den Blick.
Eine Maus huschte über die roten Herbstblätter, vielleicht aus ihrem Loch getrieben vor Hunger, die Schnurrhaare zuckend auf der Suche nach Fressen. Ihr Weg führte sie genau unter dem Ast entlang, auf dem die Schleiereule lauerte. Der Vogel zögerte. Am Himmel zeigten sich bereits die ersten Spuren der Dämmerung. Aber eine leichte Beute war zu verlockend. Mit angespannten Muskeln und zusammengekniffenen Augen wartete er auf den richtigen Augenblick.
Die Maus hielt an und reckte die Nase in die Luft. Sie schnüffelte und krabbelte dann ein Stück weiter. Halb verborgen unter einem gelben Blatt hatte sie etwas entdeckt und tappte darauf zu.
Die Eule kam wie ein Stück Finsternis auf ihre Beute hernieder. Ihre gefiederten Beine schossen vor und scharfe Klauen gruben sich in den Körper der Maus. Das Tier quiekte ein letztes Mal, dann war es vorbei. Zufrieden nahm die Eule ihr Fressen auf und stieß sich zurück in die Luft.
Kurz darauf saß sie wieder auf ihrem Ast, mit schief gelegtem Kopf auf weitere Geräusche lauschend. Die tote Maus baumelte noch aus ihrem Schnabel. Als sich nichts regte, faltete sie ihre Flügel ordentlich auf dem Rücken zusammen und glitt in die Dunkelheit des Astlochs.

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Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel und ließen die vereinzelten Sterne schwach glühen.
Noch nie zuvor hatte Nachtpfote sich ihnen so fern gefühlt. Unschlüssig verharrte sie auf dem Kiesstrand im Schatten der Böschung, vor sich das dunkle Wasser. Das Gewitter schien seinen anfänglichen Zorn verloren zu haben. Fast tröstend pladderte der Nieselregen auf ihre Schultern und betäubte die Kratzer, die sie bei ihrem Sturz in den Tümpel davongetragen hatte.
Was soll ich nur tun?
Mit einem unterdrückten Wimmern spähte Nachtpfote durch die abgebrochenen Farnwedel die Böschung hinauf. Die Erde war aufgewühlt, dort wo sie gestürzt war. Kleine Erdbröckchen kullerten herab und versanken in einer Kaskade leiser Platscher im flachen Wasser. Dieser Weg würde sie zurückbringen. Zurück zu Rauchfuß und Zapfensterns Schergen; den Feinden, die ihre Clangefährten angegriffen und ihnen das Zuhause genommen hatten. Und zurück zu dem Büschel Fell, das noch den Geruch ihrer Familie trug. Vielleicht wäre es ihr möglich, die Fährte dort wieder aufzunehmen.
Jeder ihrer Muskeln protestierte, als Nachtpfote sich hochstemmte. Tropfen rannen über ihre Flanke nach unten. Mit schweren Gliedern reckte sie sich hoch, ihre Pfoten suchten an der Anhöhe nach Halt. Aber die Erde war so nass, die Blätter so glitschig, dass jeder Versuch, sich zu halten, scheiterte. Ihre Hinterbeine zitterten vor Anstrengung. Mit den Krallen suchte sie nach Steinen oder Wurzeln, die ihr Gewicht tragen würden. Da war nichts.
Frustriert sank die Kätzin auf alle Viere. An dieser Stelle war der Anstieg einfach zu steil und zu rutschig. Sie musste es woanders versuchen. Mit einem letzten Blick zurück setzte sie sich entlang des Ufers über Kiesel und Schaumkraut in Bewegung. Dem verwachsenen Pfad folgend sank sie mit ihren Pfoten bei jedem Schritt in den Morast. Der Wind fuhr ihr wie scharfe Krallen durch den Pelz.
Was, wenn ich sie nie wiedersehe?, dachte Nachtpfote. Messerzahn, Morgenstern … und Tannenpfote?
Es trieb ihr einen Stich durch den Magen. Sie strauchelte und schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen zu vertreiben, die so mächtig in ihr aufstiegen. Ihre Ohren zuckten, meinten Rufe zu hören: freundlichen Zuspruch, den Beifall ihrer Clangefährten. Ihr Name wurde gerufen, immer wieder, überall um sie herum. Katzen umringten sie, Pelz an Pelz, in jedem ihrer Gesichter derselbe Ausdruck der Zuneigung und Anerkennung. Eine Gestalt schob sich vor die anderen, Tannenpfote; sein Schnurren war so laut, dass sie es noch unter all den Stimmen der versammelten Krieger hören konnte.
„Gratuliere, Nachtpfote“, sagte er und ringelte seinen Schwanz über ihren Rücken.
Ein Knacken im Gebüsch holte sie jäh in die Gegenwart zurück.
Nachtpfote erstarrte, ein Bein in der Luft, ein Kiesel bewegte sich noch unter ihren Ballen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Prüfend ließ sie ihren Blick über das Blattwerk streichen, in den Augenwinkeln noch Fetzen ihrer Erinnerung. Der Wald war unruhig, die Sträucher bebten unter den von den Bäumen abgeworfenen Tropfen. Auf der anderen Seite schimmerte der Tümpel im Mondlicht, gaukelte ihr eine trügerische Sicherheit vor.
Nachtpfote zögerte und setzte ihre Pfote auf den Boden. Misstrauisch reckte die schwarze Kätzin die Nase und prüfte die Luft in der schrecklichen Erwartung, sich einmal mehr Rauchfuß oder Zapfenstern gegenüber zu sehen.
Sobald sie ihren Fehler bemerkte, sträubte sich ihr Nackenfell. Sie hatte nicht genügend auf ihre Umgebung geachtet. Der Wind wehte in die falsche Richtung. Nachtpfote öffnete das Maul, versuchte einen Hauch Geruch dessen zu erhaschen, was sich im Unterholz verbergen mochte. Erfolglos. Sie roch nichts als Schlamm und feuchte Blätter. Und doch konnte sie förmlich spüren, wie ein interessiertes Augenpaar sie aus den Schatten heraus musterte.
Unsicher verharrend versuchte Nachtpfote, im Halblicht des anbrechenden Tages etwas zu erkennen. Ihr Herz klopfte wie wild. Mit Sicherheit war es laut genug, dass das Wesen im Gebüsch es hören konnte. Ihre Pfoten zuckten, bereit innerhalb des nächsten Herzschlags loszustürmen, während ihre Augen noch immer die Umgebung absuchten.
Da klang eine Stimme aus der Dunkelheit. In der frostigen Ruhe, die zuvor nur der Regen zu stören gewagt hatte, erschien sie Nachtpfote so klar und laut, dass sie zusammenschrak.
„Du musst noch viel lernen.“
Die Schülerin erkannte sie noch bevor ihr schlanker, grauer Körper aus dem Blättermeer tauchte.
„Kieselschweif!“, entfuhr es ihr, zu erleichtert, um sich für das Zittern in ihrer Stimme zu schämen. Mit einem Schlag war ihre Angst vergessen und sie bekam wieder Luft.
Die graue Katze schälte sich aus der Finsternis, Buchenblätter streichelten ihren Rücken. Sie näherte sich fast lautlos, wie ein Schatten. Nachtpfote spürte, wie Kieselschweifs Schnurrhaare ihre Ohren kitzelten, als die ältere Katze ihr beruhigend die Schnauze auf die Schulter legte. Sie war warm. Mit einem Seufzen schloss Nachtpfote die Augen. Der Knoten, der ihre Brust zusammenschnürte, löste sich. Zum ersten Mal seit Einbruch dieser albtraumhaften Nacht fühlte sie Hoffnung in sich aufkeimen. Die Nase fest in das Fell ihrer Freundin gepresst ließ sie sich von ihrer ruhigen Zuversicht einhüllen.
Als Kieselschweif sich von ihr löste, fror sie nicht mehr. Die graue Katze trat einen Schritt zurück, um Nachtpfote in die Augen zu sehen.
„Komm“, miaute sie. „Ich bringe dich zu den anderen.“

 

Kieselschweif führte sie am Ufer entlang und an einer flachen Stelle die Böschung hinauf tiefer ins Dickicht. Schon nach wenigen Katzensprüngen hatte Nachtpfote die Orientierung verloren und war gänzlich auf ihre Begleiterin angewiesen. In diesem Teil des Waldes war sie kaum je gewesen und bei Nacht wirkte jeder Ast und jeder Fels fremdartig.
Während sie liefen, zeigte sich am Himmelsrand bereits der erste goldene Streifen und erhellte die Spitzen der Zweige, die sich ihm entgegenstreckten. Die wenigen Sterne verblassten und der Mond wanderte zu den Baumkronen herab. Der Nieselregen hatte schließlich aufgehört und hinterließ das Blattwerk glitzernd im frühen Morgenlicht.
Nachtpfote warf einen Blick in den Himmel. Ob ihre Ahnen gesehen hatten, wie sie und ihre Clangefährten ihr Lager an den WurzelClan verloren? Wie konnten sie die Sonne über den Horizont schicken, als wäre nichts geschehen?
Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich darauf, mit Kieselschweif mitzuhalten.
Im tiefen Schatten unter den Bäumen konnte Nachtpfote nicht genau sagen, wie viel Zeit vergangen war, als die Kriegerin ihr Tempo drosselte. Der Wald öffnete sich zu einer schmalen Lichtung hin, von deren Grashalmen die Regentropfen rannen. Nachtpfote spitzte die Ohren und reckte ihre Schnauze, um die Luft zu prüfen. Sogleich umspülte der vertraute Geruch des BlattClans ihre Nase, doch er war schal. Mit einem scharfen Ziehen im Magen trat sie an Kieselschweifs Seite, die am Rand der Lichtung stehen geblieben war.
Sie hatten die Grenze ihres Territoriums erreicht; die Grenze dessen, was Nachtpfote kannte und liebte.
Wie lange wird es wohl dauern, bis unsere Grenzmarkierungen verblasst sind?, schoss es ihr durch den Kopf. Bis nichts mehr von uns übrig ist?
Plötzlich verspürte sie den heftigen Drang, umzukehren. Zurückzurennen zum Dornentunnel, ins BlattClan-Lager, in ihr Nest. Aber ihre Beine brachten sie unaufhaltsam näher an die Grenze. Kieselschweif hatte die Markierungen schon überquert und drehte sich erwartungsvoll nach ihr um. Ein Schauer jagte der schwarzen Katze über den Rücken, als sie ihre Pfote auf den fremden Boden setzte.
Jetzt habe ich mein Zuhause wirklich verlassen.
Nachtpfote zitterte. Der Wald vor ihnen war abweisend und unbekannt. Jede Faser ihres Körpers protestierte dagegen, auch nur einen Schritt weiterzugehen, aber Kieselschweif lief bereits voraus und Nachtpfote wollte sie auf keinen Fall verlieren. Also schluckte sie ihre aufkommende Panik hinunter und folgte der älteren Katze über die schmale Lichtung unter eine Gruppe Kiefern. Die Duftgrenze ihres Clans zog vorüber und dann war da nichts mehr als der Geruch des Regens, des Windes und der Bäume.
Erst das Gurgeln und Sprudeln von Wasser einige Katzenlängen weiter weckte Nachtpfote aus ihrer Benommenheit. Sie entdeckte den Fluss, wie er sich einen Weg durch das Unterholz bahnte; das Wasser spiegelte die letzten Sterne, die sich aus den Wolkenfetzen trauten. Kieselschweif schloss sich dem Flusslauf an und bald trabten die beiden Kätzinnen Flanke an Flanke durch das fremde Gehölz. Ein Wegstück nahmen sie im seichten Wasser, um ihre Fährte zu verwischen.
Als sie wieder ans Ufer stiegen, war der laubbedeckte Waldboden zu Gras geworden. Nachtpfote hob den Kopf und ein scharfer Wind schlug ihr ins Gesicht. Der Wald hatte sich einer weiten Lichtung geöffnet – und vor dem heller werdenden Himmel zeichneten sich die Silhouetten von Katzen ab. Die Schülerin spürte ihr Herz höher schlagen.
„Komm“, schnurrte Kieselschweif und rannte los.
In großen Sätzen folgte Nachtpfote der Kriegerin durch das nasse Gras zu ihren Clangefährten.
Morgenstern war ihnen am nächsten. Die frühen Sonnenstrahlen verliehen ihrer Silhouette einen glühenden Umriss, aus dem die durchdringenden blauen Augen wie zwei kleine Teiche herausstachen. Ihr Blick wanderte von Kieselschweif zu Nachtpfote und zurück, ein Schwanzschnippen war ihre einzige Reaktion. Zu ihrer Rechten stand Messerzahn, überragte die zierliche BlattClan-Anführerin um ein gutes Stück, wie ein dunkelbrauner Schatten. Die Erleichterung stand in sein Gesicht geschrieben.
„Dem SternenClan sei Dank“, brummte er. „Du hast sie gefunden, Kieselschweif.“ Er musterte Nachtpfote. „Seid ihr verletzt?“
Nachtpfote schüttelte den Kopf. Ein Anflug von Scham stellte ihr Rückenfell auf. Sie hatte ihrem Clan Umstände bereitet, weil sie nicht hatte mithalten können.
„Gut gemacht, Kieselschweif.“ Morgenstern nickte der grauen Kätzin zu. „Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?“
„Nein, es hat uns niemand bemerkt.“
„Gut.“ Die Anführerin wandte sich um und schnippte mit dem Schwanz.
Als sie zur Seite trat, blickte Nachtpfote in eine Menge niedergeschlagener Augenpaare. Die BlattClan-Katzen hatten sich ins nasse Gras gekauert, in engen Gruppen zusammen, und versuchten sich gegenseitig im kalten Wind zu wärmen. Blattsprenkel, Streifenfell, Dunkelpelz und Wolkenschweif hatten sich schützend um die Königinnen Tintenherz, Tupfenfell und Schwarzgesicht gelegt. Daneben hockten Elsterkralle, Blütenwind und Hellpelz und tuschelten leise miteinander. Hinter ihnen konnte Nachtpfote Fleckenfell und Feuerpelz ausmachen, die sich dicht aneinander pressten. Ihr Blick huschte über die Versammelten, suchte nach einer ganz bestimmten Katze.
„Nachtpfote!“
Eine grüngraue Gestalt zwängte sich zwischen Mottenfuß und Halbschweif aus der Menge und rannte auf sie zu. Dicht vor ihr blieb Tannenpfote stehen und drückte seinen Kopf an ihren.
„Ich dachte schon, wir hätten dich verloren.“
Nachtpfote genoss die Wärme, die von ihm ausging. Mit einem Schnurren trat sie zurück, um ihm in die Augen zu sehen.
„Mich wirst du nicht so schnell los!“

 

„Katzen des BlattClans – Ein jeder von euch, der alt genug ist, seine eigene Beute zu machen, soll hören, was ich zu sagen habe.“
Bei Morgensterns vertrautem Ruf horchte Nachtpfote auf. Die goldgelbe Katze hatte sich auf einer grasigen Erhöhung nahe der Mitte der Lichtung postiert, Kopf und Ohren im Schein der aufgehenden Sonne gereckt. Messerzahn saß mit zwei Fuchslängen Abstand im Gras, den Schwanz ordentlich um die Pfoten geringelt.
Zögerlich kamen die übrigen Katzen auf die Beine und versammelten sich im Halbkreis um ihre Clanführer. Dunkelpelz und Wolkenschweif hatten sie als Erste erreicht. Nachtpfote suchte sich einen Platz bei Tannenpfote und den anderen Schülern, Klettenpfote und Wüstenpfote. Links von ihnen drängten sich Eichelpelz, Feuerpelz und Streifenfell. Hinter sich konnte sie Nassfuß und Elsterkralle miteinander reden hören.
Morgenstern wartete geduldig und bewegte kein Schnurrhaar, bis alle Krieger sich niedergelassen hatten und Ruhe eingekehrt war. Als sie sprach, blieb ihre Stimme ruhig, auch wenn Nachtpfote meinte, einen Schimmer von Angst und Wut in ihren Augen funkeln zu sehen.
„BlattClan, hör mich an“, rief sie. „Unsere Ahnen blicken auf uns herab und sind voller Trauer, denn heute haben wir einen schweren Verlust erlitten. Diese Nacht haben wir nicht nur unser Zuhause verloren, sondern auch einen unserer Clangefährten. Schlitzohr ist bei der Verteidigung des Lagers und seiner Freunde gefallen, er hat wie ein Krieger gekämpft. Möge er jetzt beim SternenClan wandeln und seinen Frieden gefunden haben.“
Eine Katze im hinteren Teil der Menge schluchzte auf. Nachtpfote wusste, dass es Halbschweif war, Schlitzohrs Schwester. Sie wandte sich um und konnte sehen, wie sich Mottenfuß tröstend an die dürre Älteste drückte, seinen Schwanz fest um ihren Rücken geschlungen, als fürchtete er, ein Windstoß könnte sie umstoßen. Nachtpfotes Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Sie spürte die Betroffenheit noch immer so stark wie vorhin, als Tannenpfote ihr die traurige Nachricht mitgeteilt hatte. Schlitzohr war der Clan-Älteste gewesen. Als Junges hatte sie oftmals seinen Geschichten über tapfere Krieger und durchtriebene Kämpfer vergangener Zeiten gelauscht. Viele dieser Geschichten waren nun mit ihm gestorben.
„Was ist mit seiner Totenwache?“, schrie Blütenwind. „Wie soll Schlitzohr den Weg zum SternenClan finden, nun da wir ihn im Lager zurücklassen mussten?“
Ein Wehklagen stieg unter den versammelten Katzen auf. Nachtpfote drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, wie Schlitzohrs Körper fernab seines Clans schutzlos im verwaisten Zuhause zurückgeblieben war, das Fell vom Regen verklebt und an den Schnurrhaaren die glitzernden Tropfen.
„Wir werden Schlitzohrs Totenwache halten“, rief Morgenstern und sorgte damit für Ruhe. „Hier, zu Mondhoch, werden wir seiner gedenken. Ich bin mir sicher, dass er uns von oben aus dem Silbervlies sehen kann.“
Einige der Clan-Katzen murmelten zustimmend. Nachtpfote spürte, wie Wüstenpfote und Klettenpfote näher aneinanderrückten.
„Bis es soweit ist, dürfen wir nicht ruhen“, fuhr Morgenstern fort. Ihr blauer Blick glitt über die Menge, blieb kurz an Nachtpfote hängen. „Messerzahn, ich möchte, dass du eine Jagdpatrouille zusammenstellst. Unsere Ältesten und Königinnen sind ausgehungert. Nimm dir zwei bis drei Krieger, die von Dreckpelz bereits behandelt worden sind. Seid besonders wachsam für Anzeichen von Hunden oder Füchsen, dieses Gebiet ist uns völlig unbekannt.“
Messerzahn nickte und stemmte sich auf die Pfoten. Einen Moment kniff er nachdenklich die Augen zusammen, dann rief er Dunkelpelz und Nassfuß zu sich.
„Ich möchte ebenfalls mitkommen“, sagte Kieselschweif.
Messerzahn nickte und kurz darauf machte die kleine Gruppe sich über die Lichtung davon ins Brombeerdickicht nahe des Flussufers.
Morgenstern beobachtete, wie die Zweige sich hinter ihrem Stellvertreter schlossen, dann schnippte sie energisch mit dem Schwanz. „Fleckenfell, Elsterkralle! Ihr postiert euch im Dickicht; dort –“, sie deutete mit der Nase in die entsprechende Richtung, „und dort. Haltet Ausschau nach allem und jedem, der sich der Lichtung nähert. Wir müssen sichergehen, dass der WurzelClan uns nicht gefolgt ist.“
Eilig schlüpften die beiden Kätzinnen aus der Menge und begaben sich auf ihre Plätze. Fell streifte Nachtpfotes Rücken, als die Krieger hinter ihr die Lücken schlossen.
„Wir werden zunächst auf dieser Lichtung bleiben“, verkündete Morgenstern. „In unserem Zustand können wir es uns nicht leisten, noch weit zu gehen. Diejenigen von euch, die noch nicht bei Dreckpelz waren, begeben sich unverzüglich zu ihm. Niemand spielt den Helden, auch wenn es nur ein Kratzer ist. Lasst euch versorgen.“ Ihr Tonfall duldete keine Widerrede. „Klettenpfote, du hilfst unserem Heiler bei seinen Pflichten.“
Der braune Schüler sprang überrascht auf und schob sich an Tannenpfote vorbei nach hinten.
Nachtpfote drehte den Hals, bis sie Dreckpelz unter den Versammelten ausmachen konnte. Der struppige, graue Kater kümmerte sich gerade um Halbschweif. Offenbar trug er jegliche Kräuter, die er aus dem Lager hatte retten können, bei sich. Beruhigend redete er auf die Älteste ein, bis sie schließlich einwilligte, die dunklen Blätter zu schlucken, die er ihr vor die Pfoten legte. Eine Welle der Dankbarkeit stieg in Nachtpfote auf. Dreckpelz war für den BlattClan wirklich unerlässlich.
Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen würden, dachte sie. Oder ohne Morgenstern.
Die goldene Kätzin schwieg einen Moment, den Blick auf Dreckpelz' spärlichen Vorrat gerichtet. „Solltest du Heilmittel aus dem Wald benötigen, schicke einen Krieger“, bestimmte sie.
Dreckpelz winkte mit dem Schwanz zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
„Nun gut.“ Morgenstern erhob sich und die Sonne warf ihren blassen Schatten über die Erde. „Alle Krieger und Schüler, die noch keine Aufgabe haben, werden sich jetzt am Bau provisorischer Nester beteiligen. Wir dürfen heute Nacht auf keinen Fall ohne Schutz im nassen Gras liegen bleiben. Zum Einbruch der Dunkelheit müssen wir fertig sein.“ Sie deutete mit der Nase in die Menge. „Feuerpelz. Du leitest den Bau eines Nests für Älteste und Königinnen. Such einen trockenen Platz am Rand der Lichtung, beispielsweise unter dem Haselstrauch dort vorne.“ Morgenstern nickte in Richtung Waldrand. „Seine Äste reichen fast bis zum Boden. Mithilfe von zusätzlichen Blättern und Zweigen sollte es dir möglich sein, Löcher zu verschließen, durch die der Wind kommt. Eichelpelz, Wasserfell und Wüstenpfote helfen dir dabei.“
Noch während die genannten Katzen sich über die Grasfläche auf den Weg zum Haselstrauch machten, rief Morgenstern weitere Namen: „Blattsprenkel, du wirst dich mit Blütenwind, Wolkenschweif und Tannenpfote um einen provisorischen Schülerbau kümmern. Ich übernehme den Bau der Krieger. Streifenfell, Hellpelz und Nachtpfote, ihr werdet mir helfen.“
Ein Welle von Energie zuckte durch Nachtpfotes Beine. Mit einem Ruck kam sie hoch, um sich herum die Pelze von zwei Dutzend Katzen, die über die Lichtung zu ihren eingeteilten Gruppen eilten. Tannenpfote rieb sich kurz an ihrer Schulter. „Bis später“, sagte er und tauchte zwischen Blattsprenkel und Tintenherz in die Menge.
Nachtpfote wandte sich in die andere Richtung, wo Hellpelz und Streifenfell sich bereits zu Morgenstern gestellt hatten. Sie schüttelte sich den Staub vom Fell und rannte zu den älteren Kriegern, um zu sehen, wie sie helfen könnte.
Die Sonne stand schon tief zwischen den Bäumen, als Nachtpfote sich mit den anderen Schülern eine Amsel teilte. Rötliches Licht lag über der Lichtung und färbte die Spitzen der Grashalme. Mit knurrendem Magen beobachtete die schwarze Katze, wie Wüstenpfote gierig seinen Anteil verschlang und wartete darauf, dass sie an der Reihe war.
Die Beute reichte nicht, um sie alle zu sättigen. Messerzahn war zu Sonnenhoch mit seiner Jagdpatrouille zurückgekehrt, die Amsel, zwei Mäuse und einen Sperling in den Fängen. Kurz darauf hatte Morgenstern eine weitere Gruppe Krieger ausgesandt, die mit einem Eichhörnchen, einem Spatzen und einer weiteren Maus nicht viel mehr Erfolg hatten. Das Eichhörnchen war zu den Königinnen gebracht worden, eine Maus zu den Ältesten. Der Rest des Fangs wurde unter den Kriegern verteilt, doch Nachtpfote wusste, dass einige von ihnen heute Nacht leer ausgehen würden, unter anderem Morgenstern und Messerzahn. Sie hatte gesehen, wie die beiden Clanführer auf ihre Anteile verzichteten.
Wüstenpfote ließ von der Amsel ab und Tannenpfote nickte Nachtpfote zu, zum Zeichen, dass sie zuerst nehmen sollte. Sie beugte sich vor und versenkte ihre Zähne in der Beute. Das Wasser lief ihr im Maul zusammen und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas so Köstliches gefressen zu haben. Es kostete sie große Mühe, nach drei Bissen von der Amsel abzulassen, damit für Tannenpfote und Klettenpfote noch etwas übrig blieb.
Während die anderen Schüler fraßen, leckte Nachtpfote sich die Pfoten und ließ den Blick über die Grasfläche schweifen. Der gesamte Clan hatte sich versammelt, mit Ausnahme von Wolkenschweif und Streifenfell, die um die Lichtung herum im Unterholz Wache hielten. Unter dem Haselstrauch befand sich jetzt der Unterschlupf für die Ältesten und Königinnen, nicht weit davon unter einem Weißdorn sollten die Krieger schlafen. Morgenstern hatte sich ein eigenes Nest zwischen den Wurzeln einer Eiche errichtet. Nachtpfote selbst und die anderen Schüler hatten ihre provisorische Schlafstätte etwas abseits, eine sandige Kuhle unter einem gekrümmten, umgestürzten Baum. Seine Äste überdachten den größten Teil der Kuhle, der Rest war mit belaubten Zweigen und Erde gestopft worden. Nachtpfote starrte darauf und konnte an nichts anderes denken als ihr behagliches Nest im BlattClan-Lager.
„Hier, der Rest ist für dich.“ Tannenpfote war fertig mit Fressen und schob die Überbleibsel der Amsel zu Klettenpfote hinüber.
Nachtpfote ignorierte das ungeduldige Knurren ihres Magens und richtete die Aufmerksamkeit stattdessen auf eine Gruppe älterer Krieger, die sich in der Nähe im Schatten tiefhängender Buchenäste versammelt hatten. Morgenstern und Messerzahn waren unter ihnen, um sie drängten sich Feuerpelz, Eichelpelz, Blattsprenkel, Dreckpelz und Hellpelz. Instinktiv stellte Nachtpfote die Ohren auf, um ihren gedämpften Stimmen zu lauschen.
„Der WurzelClan mag uns nie freundlich gesinnt gewesen sein, aber niemand hat einen solch feigen Angriff kommen sehen“, sagte Eichelpelz gerade, den Blick düster ins Leere gerichtet, als könnte er die Bilder des schrecklichen Kampfes noch einmal sehen.
Blattsprenkels Ohr zuckte in Richtung Dreckpelz. „Hat der SternenClan zu dir gesprochen? Hat es irgendeine Warnung gegeben; ein Anzeichen dafür, was passieren würde?“
Der struppige Heiler schüttelte bedauernd seinen Kopf. Das Fell an seiner Brust sah verfilzt aus, die blauen Augen lagen tief in den Höhlen. „Unsere Ahnen schweigen.“
„Wir müssen stark bleiben“, sagte Feuerpelz. Seine tiefe Stimme strahlte eine Art zuversichtliche Ruhe aus. Mit einem Schwanzschnippen deutete er auf die versammelte Runde. „Wir haben große Verluste erlitten heute Nacht … haben das Lager und unser Territorium aufgeben müssen. Aber wir haben nicht alles verloren. Wir selbst sind noch hier. In Anbetracht der Schwere dieses Angriffs können wir von Glück sagen, dass wir nicht mehr Katzen verloren haben.“
Blattsprenkel strich zustimmend mit ihrem Schwanz über seine Flanke. „Auch dass Kieselschweif mit Nachtpfote zurückgekehrt ist, war ein Wunder des SternenClans.“
Als Nachtpfote ihren Namen hörte, kribbelten ihre Schnurrhaare. Schnell wandte sie den Kopf ab, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden, doch die Ohren hielt sie weiterhin gespitzt.
„Wie geht es Tintenherz?“, fragte Morgenstern jetzt und wechselte damit das Thema.
Dreckpelz kratzte sich mit der Pfote hinter dem Ohr. „Ich habe ihr etwas Thymian und Weidenrinde zur Beruhigung gegeben. Soweit scheint es ihr gut zu gehen, ich denke nicht, dass ihre ungeborenen Jungen durch die Flucht Schaden genommen haben.“
Nachtpfote horchte auf. Ihr Blick glitt an den Rand der Lichtung zu dem Haselstrauch, unter dem sie neben Tupfenfell und Schwarzgesicht die grau getigerte Kätzin mit dem sich wölbenden Bauch ausmachen konnte. Sie schien fest zu schlafen. Die letzte Nacht musste grausam für sie gewesen sein. Nachtpfote hoffte, dass Tintenherz nach der Eichhörnchenmahlzeit zumindest nicht mit knurrendem Magen schlafen musste.
„Und wie steht es um deinen Kräutervorrat?“, erkundigte sich Messerzahn. Der Kater reckte die Schultern und Nachtpfote fiel eine tiefe Wunde an seiner Flanke ins Auge, die ihr zuvor in seinem dunkelbraunen Pelz nicht aufgefallen war.
Dreckpelz verzog die Schnauze. „Ich habe nicht viel aus dem Lager retten können“, brummte er, „Dunkelpelz hat mir einen Packen Spinnweben aus dem Wald gebracht, mit dem ich behelfsmäßig einige Wunden behandeln konnte. Doch ich benötige dringend Ringelblume und Schachtelhalm gegen Entzündungen und außerdem Beinwell.“
Morgenstern wechselte einen Blick mit ihrem Zweiten Anführer. „Messerzahn wird morgen früh zwei Krieger zu dir schicken, Dreckpelz“, bestimmte sie. „Ich möchte, dass sie dich in den Wald auf der Suche nach diesen Pflanzen begleiten.“
Der Heiler senkte den Kopf. „Einverstanden.“
„Außerdem möchte ich die ganze Nacht über zwei Wachen“, sagte Morgenstern. „Und eine Mondhochpatrouille, die das nahegelegene Unterholz durchkämmt. Wir wollen sichergehen, dass sich keine Nachträuber an uns heranschleichen können. Messerzahn, nimm dir dafür zwei bis drei Krieger.“
Der massige braune Kater zuckte mit den Ohren zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Morgenstern legte die Ohren flach und dehnte den Rücken. „Es ist bald Zeit für die Totenwache“, miaute sie mit einem Blick zum Himmel hinauf, an dem die ersten Sterne standen. Mit einem Schwanzschnippen entließ sie die kleine Gruppe an Kriegern, doch Messerzahn hielt sie zurück.
Nachtpfote beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich Hellpelz, Feuerpelz, Blattsprenkel und Eichelpelz unter die wartenden Krieger auf der Lichtung mischten. Dreckpelz drehte ab zum Haselstrauch, wahrscheinlich um noch einen Blick auf Tintenherz und die anderen Königinnen zu werfen. Die beiden Clanführer blieben hocken, und jetzt hatten sie die Stimmen gesenkt. Nachtpfote, wohl wissend, dass folgende Worte nicht für sie bestimmt waren, kniff die Augen zusammen, die Sinne aufs Äußerste gespannt, um sie zu verstehen.
„Messerzahn, wie ist das möglich?“, hauchte Morgenstern; eine Verletzlichkeit in der Stimme, die Nachtpfote bei ihr noch nie gehört hatte.
„Wir – der BlattClan – wurden aus unserem eigenen Territorium getrieben, aus unserem Zuhause. Warum?“
Ihre Worte waren kaum ein Flüstern und doch stachen sie wie dornenspitze Krallen in Nachtpfotes Pelz.
Sie hielt den Atem an, lauschte angestrengt auf eine Antwort, eine Erklärung für das, was geschehen war und eine Möglichkeit, wie sie es wieder in Ordnung bringen könnten.
Doch die kam nicht.

Notes:

Danke fürs Weiterlesen!
Ich hoffe, die Geschichte hat dich schon ein bisschen gepackt, jetzt geht's erst richtig los ;)

Chapter 3: Totenwache

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Eine unheimliche Stille hing über der Lichtung. Kein Wind bewegte die Äste der umliegenden Bäume, nicht einmal der Fluss gab mehr als ein gelegentliches Gluckern von sich. Am Himmel leuchteten das Silbervlies und der satte Dreiviertelmond und tauchten die Halme der Grasfläche in schneidend kaltes Licht.
Geflüsterte Worte verklangen in der Nacht, zu leise als dass Nachtpfote sie verstehen könnte. Mit zitternden Schnurrhaaren schob sie ihre Beine unter den warmen Körper, mit jedem Atemstoß schickte sie eine kleine Wolke in die Luft.
Tannenpfote warf ihr einen Blick zu und rückte dann ein Stück näher an sie heran. Sein Fell schirmte einen Teil der Kälte von ihr ab. Sie schnurrte dankbar.
Die Totenwache hatte begonnen. Die Katzen des BlattClans hatten sich um die Mitte der Lichtung gesammelt, die Leiber fest auf den Boden gepresst, die Blicke auf ihre Pfoten oder in den Himmel gerichtet. Hier und da wurden geflüsterte Bitten und Gebete an den SternenClan gerichtet und Pelze tröstlich aneinander gepresst.
Für gewöhnlich lag bei der Zeremonie in der Mitte der Anwesenden der Körper des verstorbenen Clangefährten, das Fell ordentlich gekämmt, die Pfoten sorgsam unter dem Leib gefaltet – an seiner Seite die engste Familie. Die Ältesten hätten den Leichnam mit Lavendel oder Rosmarin eingerieben und am Morgen nach der Wache in der Nähe des Lagers zur letzten Ruhe gebettet. Das hatte der WurzelClan ihnen genommen.
An Schlitzohrs Stelle hatten Nassfuß und Elsterkralle eine kleine Ansammlung von weißen und violetten Wildblumen gehäuft, die sie im umliegenden Unterholz gesammelt hatten. Halbschweif lag dort, die Schnauze tief in den duftenden Blüten vergraben, der Körper so hager und verfilzt, dass sie selbst mehr tot als lebendig wirkte. Mottenfuß war dicht an ihrer Seite, hatte den Schwanz über ihren Rücken geschlungen und putzte mit sanften Zungenstrichen ihr Fell. Die anderen Katzen saßen in respektvollem Abstand um sie herum.
Nachtpfote kauerte bei den anderen Schülern nahe am Rand der Menge. Links von ihnen hockten Wasserfell, Blattsprenkel und Nassfuß, zu ihrer Rechten Dunkelpelz, Fleckenfell, Blütenwind und Kieselschweif. Sie alle waren wie erstarrt zwischen den Halmen der wogenden Gräser, unregelmäßige dunkle Tupfen auf der silbrigen Lichtung.
Der Mond war bereits ein gutes Stück über den Himmel gewandert, als die ersten Krieger sich erhoben. Die Patrouille, die Morgenstern beordert hatte, verschwand mit leisen Pfoten im angrenzenden Dickicht. Einige Katzen gähnten und zogen sich für die Nacht unter den Weißdorn oder den Haselstrauch zurück. Nach und nach begann die Zeremonie, sich aufzulösen.
Nachtpfote reckte vorsichtig ihre Schultern und musste ein Gähnen unterdrücken. Die Müdigkeit saß ihr schwer in den Knochen. Neben ihr kamen Wüstenpfote und Klettenpfote mit steifen Bewegungen auf die Beine. Ihre Silhouetten waren pechschwarz vor dem Mondlicht. Die beiden verabschiedeten sich murmelnd und tappten über das Gras in Richtung des behelfsmäßigen Schülerbaus davon. Auch Tannenpfote wurde unruhig. Er setzte sich auf und streckte die Hinterpfoten.
„Die beiden schauen sich unsere neuen Nester an“, meinte er zu Nachtpfote. „Sollen wir mitgehen?“
Die schwarze Kätzin zögerte. Sie konnte ihre Augen kaum noch offen halten, doch allein bei der Vorstellung, sich unter diesen fremden Bäumen zusammenzurollen, wurde ihr die Kehle eng. „Geh nur“, sagte sie leise, „Ich komme gleich nach.“
„In Ordnung.“ Mit einem schwachen Lächeln drehte er um und folgte seinen Baugefährten in die Dunkelheit.
Nachtpfote verharrte noch einige Herzschläge länger. Dann stemmte sie sich ebenfalls hoch und tappte los, aber nicht in Richtung des umgefallenen Baums, unter dem die Schüler schlafen sollten. Ihr Weg führte sie in die entgegengesetzte Richtung, ans Ufer des Flusses, der die Lichtung durchschnitt. Das lange Gras teilte sich zu beiden Seiten und ihre Kehle brannte, als Nachtpfote sich vorbeugte, um zu trinken.
Das Wasser war kalt wie Eis. Als sie schluckte, blitzte auf der schäumenden Oberfläche etwas Helles auf. Nachtpfote starrte in den dunklen Strom, auf die Lichtfetzen, die sich wie Schlangen zu immer neuen Mustern öffneten und schlossen. Zwei frostig blaue Augen starrten zurück.
Die Kätzin zuckte zusammen, Wasser rann ihre Kehle herab. Ihre Brust wurde kalt. Aber die Angst war beißender als das Nass auf ihrer Haut. Sie zitterte, schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, hatte sich das schreckliche Bild aufgelöst. Der Strom gurgelte und nahm es mit, wie er alles mit sich nahm.
Zurück blieb nur Nachtpfotes verzerrtes Spiegelbild im Fluss.

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Wind rüttelte an den Ästen der Tanne, doch in der Baumhöhle war es angenehm warm. Tautropfen rannen gemächlich die hölzernen Innenwände des Astlochs hinunter und tränkten das Moos, mit dem der Eulerich ihr Zuhause ausgepolstert hatte. Vereinzelt fiel der Tau ins Daunengefieder der drei Jungeulen, die sich dort dicht aneinandergedrängt hatten. Dann schüttelten sie die Flügel und ließen das Wasser spritzen, bis es im Licht der aufgehenden Sonne glitzerte.
Vogelgezwitscher erweckte den morgendlichen Wald zum Leben. Der erste goldene Schimmer überzog den Horizont und brachte die Baumkronen zum Glühen. Die kleinen Eulen blinzelten ob der ungewohnten Helligkeit. Ein Schatten fiel über das Nest und im nächsten Augenblick hörten sie das heißersehnte Geräusch von Vogelkrallen, die an der Rinde vor dem Astloch kratzten. Etwas raschelte und dann schob sich ein freundlicher, großer Kopf durch den Eingang. Zwei schwarze Augen blickten ihnen aus einem hellen Gesichtsschleier entgegen. Die Jungeulen brachen in aufgeregtes Piepsen aus, als sie die Maus sahen, die aus seinem dreieckigen Schnabel baumelte. Sogleich war der Eulerich von seinem Nachwuchs umringt, die kleinen Vögel zappelten und sperrten die Schnäbel auf, sie alle bettelten um ein Stück Fleisch.
Während sie fraßen, schaute der Eulerich ihnen zu.
Eine Lichtlanze stach durch den Eingang der Baumhöhle und brachte das feuchte Moos zum Funkeln. Draußen breitete sich der Tag wie ein riesiger Flügel über der Eulenwelt aus. Die Fledermäuse beendeten ihre Insektenjagd mit der Morgenröte; ihre klagenden Rufe wurden vom Lied der Singvögel übertönt, das immer lauter aus jedem Busch und Baum erscholl.
Bald ist es so weit.
Der Eulerich schloss die Augen vor dem Tageslicht.

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Sonnenstrahlen langten durch das Blätterwerk des Waldes, fanden das struppige Fell des WurzelClan-Anführers und ließen es aufflammen. Zapfenstern thronte auf dem bemoosten Fels im Wurzelgeflecht der Eiche, der Schatten der tanzenden Blätter über seinem Gesicht, und blickte zu seinen Kriegern herab.
In der Senke war es totenstill, trotz der Katzenmenge, die sich zu Pfoten des Felsens versammelt hatte. Auch die Bäume, die Äste über die Körper der Katzen gebeugt, schienen zu lauschen.
„Heute Nacht“, rief Zapfenstern und seine tiefe Stimme erfüllte den ruhigen Ort, „sind wir siegreich gewesen!“ Mit glimmendem Bernsteinblick schlug er die Tatze auf den Stein. „Der BlattClan ist gerannt wie eine Schar Kaninchen! Und ihr habt ihnen gezeigt, woraus Krieger gemacht sind.“
Die Katzen zu seinen Pfoten brachen in zustimmendes Geheul aus. Zufriedene Blicke wurden getauscht und manch ein Krieger ließ seine krallenbesetzte Pfote durch die Luft sausen. Zapfenstern kniff die Augen zusammen und deutete mit einem Schwanzschnippen in die Menge. „Aschenherz, Bärentatze. Ihr werdet zu ihrem Lager gehen, löst Schneeregen und Löwenbart bei der Wache ab. Behaltet ihr Territorium im Auge. Sollten diese Mäusehirne versuchen zurückzukehren, werdet ihr mich sofort informieren.“
Ein schwarzer und ein brauner Kater lösten sich aus der Gruppe. Sie tauschten ein finsteres Grinsen, bevor sie über einen schmalen Pfad von der Senke ins Unterholz tauchten.
Zapfenstern warf seinen Kopf zurück und schrie: „Dieser Wald gehört jetzt uns, uns allein!“
Das Lager des WurzelClans war erfüllt von Triumphgeschrei. Die Katzen jaulten, erhoben ihre Stimmen über die kalte Morgenluft und riefen Zapfensterns Namen.
„Zapfenstern wird über den ganzen Wald herrschen!“
„Keine Grenzen mehr!“
„Diese Fuchsherzen sehen wir nie wieder!“
Der struppige braune Kater stand über dem Chaos, warf sich in die Brust und lachte. Er lachte, bis er noch die Schreie seiner Krieger übertönte. Die Tatzen fest auf den Stein gestemmt, beugte er sich vor und kreischte: „Schon immer lief es auf diesen Tag hinaus, an dem der WurzelClan sich endlich nimmt, was ihm schon immer bestimmt war!“
Der Jubel schien kein Ende zu nehmen. Die Katzen peitschten mit den Schwänzen, sprangen auf die Beine und ließen ihre Pfoten durch die Luft schnellen, als schlügen sie nach feindlichen Kriegern. Ein Schüler hüpfte so übermütig, dass er einer älteren Kätzin dabei auf den Schwanz trat. Doch hätte Zapfenstern genauer auf die Menge geachtet, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass die ausgelassene Stimmung noch längst nicht alle Anwesenden angesteckt hatte. Ein paar Pfotensprünge abseits des Geschehens kauerten zwei Katzen. Ihre Mienen waren angespannt und sie hatten während der allgemeinen Jubelrufe nicht einen Ton von sich gegeben.
Borkenfell hatte die Ohren an den Kopf gepresst, das Licht der aufgehenden Sonne legte einen goldenen Kranz um ihr Gesicht. „Rauchfuß?“, hauchte sie, der Name unter den ausgelassenen Rufen ihrer Clangefährten kaum zu vernehmen.
Der alte Kater zuckte zusammen. Das Fell an seinem Nacken war gesträubt und wo seine Krallen die Erde berührten, zogen sie tiefe Furchen. Langsam drehte er den Kopf und Borkenfell erschrak, als sie das tiefe Glimmen in seinen Augen sah.
„Es schmerzt …“ Seine Stimme war tonlos. „Die Gewissheit, dass unsere Ahnen jetzt auf uns herabschauen.“
Borkenfell spürte eine Kälte in sich aufsteigen, die mit dem Eishauch des Blattfalls in ihrem Pelz nichts zu tun hatte. „Die Stimme einer Katze, der jeder folgt“, flüsterte sie. „Mehr braucht es nicht.“
Rauchfuß hielt den Blick auf Zapfenstern gerichtet, die Augen nur schmale Schlitze gegen die blassgelbe Sonne.
In diesem Moment schlug die Stimmung auf der Lichtung um. Zapfenstern unterband den Aufruhr mit einem Schwanzschnippen und lehnte sich zurück. Der Wind teilte das Fell auf seiner Brust und legte die alte Narbe darunter frei. Sein Gesichtsausdruck war kalt.
„Von nun an wird der WurzelClan verteidigen, was ihm gehört. Und wir werden nicht zulassen, dass es uns noch einmal genommen wird. Deswegen müssen wir darauf vorbereitet sein, sollte der BlattClan angreifen, um sein Territorium zurückzufordern.“
Ein Teil der Menge verfiel in beunruhigtes Raunen.
Zapfenstern begrüßte die Veränderung mit einem schmalen Lächeln. Der Anführer genoss es sichtlich, wie ihm seine Katzen an den Lippen hingen. Er ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr. „Und wenn es so weit ist“, schrie er, „werden sich der Wurzel- und der BlattClan zu einem einzigen Clan vereinen!“
Nach den Triumphschreien, die noch eben das Lager erfüllt hatten, wirkte die Stille, die auf seine Worte hin herrschte, vollkommen. Entsetzte wie verständnislose Blicke wurden getauscht, einige Krieger schienen einen Protest nur mühsam zu unterdrücken. Zapfenstern ließ seine stechend gelben Augen über jede einzelne Katze schweifen, als forderte er sie dazu heraus, ihm zu widersprechen.
„Von heute an wird es keine Grenzen mehr geben! Die ewige Feindschaft hat ein Ende!“ Sein Pelz glühte im Sonnenlicht, bis es nicht mehr braun war sondern feuerrot. „Morgenstern wird sich der Macht des WurzelClans beugen und ihr wird die Ehre zuteil, mir zu dienen. Seite an Seite werden die Katzen dieses Waldes jagen und in der Nacht gemeinsam zu ihren leuchtenden Kriegerahnen aufblicken. Und dann – als Anführer beider Clans – gehört der ganze Wald mir.“
Die Anwesenden brachen erneut in Jubel aus, etwas zögerlicher diesmal. Protestrufe und Entsetzensschreie wurden von der Menge einfach verschluckt. Manche sprangen in die Luft, lachten und schienen nach den letzten Sternen zu greifen.
Erst als Zapfenstern wieder für Ruhe sorgte, meldete sich eine einzelne Stimme aus ihrer Mitte. „Was wirst du tun, wenn Morgenstern sich uns nicht anschließen will?“
Erwartungsvoll blickten die Katzen zu ihrem Anführer auf.
Zapfenstern fuhr seine Krallen aus und betrachtete sie im Licht der Herbstsonne.
„Dann muss ich sehr überzeugend sein.“

Notes:

Danke fürs Weiterlesen :)
Zum ersten Mal haben wir einen genaueren Blick auf Zapfenstern und seine Pläne geworfen - doch steht der WurzelClan tatsächlich hinter ihm? Wir werden es erfahren :D

Chapter 4: Rauchfuß' Kunde

Chapter Text

Nachtpfote schlug die Augen auf. Stimmen hatten sie geweckt. Schläfrig blinzelte die schwarze Katze in den Sonnenschein und gähnte. Das Gras beugte sich im Wind und schlug sanft gegen ihre Flanke. Nur ein paar Katzenlängen vor ihr gurgelte und plätscherte der Fluss. Langsam rollte sie sich zur Seite und stemmte sich auf die Pfoten. Auf der Suche nach den Stimmen, die sie geweckt hatten, drehte sie sich um und entdeckte Messerzahn.
Der goldbraun gestreifte Kater lag ein Stück weit entfernt im plattgedrückten Gras unter einer Stechpalme. Dreckpelz, der Heiler, beugte sich über ihn, die Ohren missbilligend nach hinten gedreht. Eine seiner Vorderpfoten war mit einer dicken Schicht Spinnweben umwickelt. „Jetzt halt endlich still“, hörte Nachtpfote seine raue Stimme. „Sonst löst sich der Verband.“
Besorgt tappte sie über das Gras zu den beiden hinüber und warf einen Blick an Dreckpelz vorbei auf den Zweiten Anführer. Eine tiefe Wunde zog sich von der Schulter über seine Seite, auf die der Heiler gerade weitere Spinnweben drückte. Als Dreckpelz Nachtpfote bemerkte, warf er ihr einen flüchtigen Blick zu.
„Wird er wieder gesund?“, fragte Nachtpfote. Das dunkle Blut, das Messerzahns Fell tränkte, ängstigte sie.
Der alte Heiler schnaubte nur. „Messerzahn ist stark. Er wird's schon überleben. Er sollte sich allerdings in Zukunft beim Jagen etwas vorsichtiger anstellen, wenn er will, dass seine Wunden heilen.“
Messerzahn ging nicht auf Dreckpelz' spitze Bemerkung ein und hob stattdessen den Kopf, um Nachtpfote zu betrachten. „Mach dir um mich keine Sorgen“, sagte er.
Kaum hatte er ausgesprochen, klatschte Dreckpelz eine neue Lage Spinnweben auf seine Flanke. Messerzahn jaulte auf.
„Jetzt halt endlich still“, knurrte Dreckpelz, verzweifelt bemüht, den Verband auf Messerzahns Flanke zu halten. „Von dir müsste ich doch eigentlich erwarten können, dass du dich nicht wie ein Junges aufführst!“
Nachtpfote schnurrte erleichtert und beschloss, den Heiler mit seinem Problem besser alleine zu lassen. Ihre Beine trugen sie fort von dem Fluss und ein Stück über die Lichtung, die der BlattClan jetzt notgedrungen sein Zuhause nennen musste. Ihr Blick glitt über die anderen Katzen, die sich auf dem Boden zusammengerollt hatten oder untereinander ein Stück Frischbeute teilten. Messerzahns Jagdpatrouille war wohl erfolgreich gewesen. Sie entdeckte Blattsprenkel und Kieselschweif, die miteinander redeten. Tannenpfote schien sich mit Wüstenpfote und Klettenpfote eine Maus zu teilen und Morgenstern sprach mit Feuerpelz und Streifenfell am anderen Ende der Wiese. Doch der Schrecken der Nacht lag über den Katzen wie ein finsterer Schleier. Ihr zerzaustes Fell konnte die Wunden darunter kaum verbergen. Ihre Stimmen waren leise, die Blicke stumpf.
Plötzlich kam sich Nachtpfote unter dem tiefblauen Himmelszelt klein und hilflos vor. Kein Blatt und kein Strauch schützte sie vor der endlosen Weite, die auf ihrem Pelz lag, und dem neugierigen Blick der Wolken. Sie spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Gehetzt drehte sie um und rannte zum Rand der Lichtung, wo sie sich in den Schatten einen Brombeerbuschs kauerte. Doch auch das Rascheln der Bäume über ihrem Kopf konnte sie nicht beruhigen. Sie kniff die Augen zusammen, zwang sich zu mehreren tiefen Atemzügen, aber die Bilder wollten nicht verschwinden. Der Geruch des WurzelClans stieg in ihre Nase, Erinnerungen an den nächtlichen Kampf zitterten durch ihren Geist. Krallen, die im Mondlicht aufblitzten. Blut, das über die Büsche spritzte – mit Gewalt drängte sie die Bilder zurück. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Wut. Sie rief sich Zapfensterns hochmütigen Gesichtsausdruck ins Gedächtnis, als ihr Clan geflüchtet war, das gehässige Gelächter seiner Krieger klingelte in ihren Ohren.
Ihre Krallen fanden ein trockenes Blatt, umschlossen es und zerdrückten es zu Staub.
Sie stellte sich die feindlichen Krieger vor, wie sie sich im Lager des BlattClans in der Sonne fläzten. Nachtpfotes Nest im Bau der Schüler musste nun kalt sein. Sie fauchte und schleuderte die Überreste des Blattes von sich.
In dem Moment blieb ihr Blick an Messerzahn hängen.
Der Zweite Anführer schien die Tortur mit dem Heiler überstanden zu haben. Der Verband bedeckte seine Flanke und Messerzahn bewegte sich vorsichtig, um ihn nicht zu stören. Nun saß er im Gras ein paar Katzensprünge entfernt, Morgenstern zu seiner Linken, die Augen grimmig zusammengekniffen. Feuerpelz und Streifenfell waren nirgends zu sehen.
„Der WurzelClan hat unser Lager in seiner Gewalt.“
Nachtpfote konnte Messerzahns Worte kaum verstehen. Sie hielt ganz still, die Ohren im Wind, um nichts zu verpassen.
Morgenstern antwortete eine ganze Weile nicht. Durch die Blätter des Brombeerbuschs beobachtete Nachtpfote, wie sie da saß, ihr Schweif zuckte zweimal. Schließlich wandte die goldene Kätzin sich um, das Nackenfell in der Brise gesträubt. Ihre Augen waren so kalt und blau wie der Himmel.
„Dann werden wir kämpfen, bis es wieder unser ist.“

 

Nachtpfote wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ein Rascheln im Gebüsch sie aufschrecken ließ. Ihr Herz machte einen Satz und sie fuhr hoch. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Verdächtiges entdecken.
Der BlattClan hatte sich auf der Lichtung verteilt. Dreckpelz war noch immer damit beschäftigt, nach den Verwundeten zu sehen und Krieger kümmerten sich um die Ältesten und Königinnen. Einige Katzen schienen auf Patrouille zu sein. Vereinzelt streunte ein Wachposten durch das Unterholz.
Die Ohren nach hinten gedreht, lauschte Nachtpfote auf ein weiteres Geräusch. Sie überlegte, ob es ein Vogel gewesen war, der im Laub nach Würmern suchte, da raschelte es erneut. Nein, es war eindeutig zu laut für einen Vogel. Sie ließ ihren Blick über die Büsche gleiten, die die Wiese umschlossen. Ein Wacholderzweig nicht unweit von ihr zitterte.
Der Wind?
Mit schmalen Augen prüfte Nachtpfote die Luft, aber es ging kein Wind. Sie versuchte noch, etwas im Schatten des Wacholders zu erkennen, da hörte sie die Stimme.
„Schülerin! Hier drüben!“
Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken. In einer Sekunde war sie auf den Beinen. Ihre Schnurrhaare zitterten, als sie das Gebüsch absuchte, aus dem die Stimme gekommen war. Etwas bewegte sich dort und brachte die Pflanzen zum Beben. Die Ahnung zweier gelber Augen, dann zog sich ein stämmiger Körper ins Unterholz zurück. Das war definitiv kein Vogel gewesen.
Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, tappte Nachtpfote vor. Instinktiv spürte sie, dass es keine Katze aus dem BlattClan gewesen war. Misstrauisch näherte sie sich dem Ort, wo der Fremde verschwunden war. Mit einem Seitenblick vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete. Dann schlüpfte sie ins Gebüsch. Die Krallen ausgefahren und bereit sie einzusetzen, schob sie sich voran. Zweige stachen ihr ins Fell, aber sie zwängte sich trotzdem weiter.
Es raschelte noch einmal – und dann sah sie sich einem alten grauen Kater gegenüber. Einer, der den stechenden Geruch des WurzelClans verströmte. Einer, der ihr sehr bekannt war.
Ein Teil der Wut, die sie unter dem Brombeerbusch gespürt hatte, kochte in ihr hoch. „Du schon wieder!“, fauchte sie und sträubte den Pelz.
Sie wusste nicht, wie er sie gefunden hatte oder warum, und eigentlich interessierte sie es auch nicht. Diese Lichtung, diese Zuflucht, war alles, was ihrem Clan geblieben war, und Nachtpfote würde sie um jeden Preis verteidigen. Und nicht nur das. Tief im Inneren wusste sie, dass das nicht alles war.
Letzte Nacht bin ich davongelaufen, dachte sie. Ich hatte keine Wahl; Zapfenstern und seine Krieger waren nur Katzenlängen entfernt. Aber noch einmal werde ich dir den Gefallen nicht erweisen, Rauchfuß.
Hastig suchte sie das Unterholz nach weiteren Feinden ab, doch der Älteste schien alleine gekommen zu sein. Mit neuer Entschlossenheit baute die schwarze Kätzin sich vor ihm auf, die Krallen bereit sich in seinen Pelz zu schlagen.
Doch Rauchfuß rührte sich nicht. Er hockte, die Pfoten ins Laub gestemmt, sein Blick zuckte durch das Dickicht. „Es wird etwas Schreckliches passieren“, sagte er und seine Stimme war eindringlich.
Irritiert hielt Nachtpfote inne. „R-richtig“, stieß sie hervor. „Ich werde dir das Fell über die Ohren ziehen!“ Sie peitschte mit dem Schwanz, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Jetzt sind es meine Clangefährten, die nur wenige Sprünge entfernt sind, Rauchfuß! Jetzt ist es anders, ich bin bereit für den Kampf!
Der alte Kater jedoch hatte es nicht auf Tatzenhiebe abgesehen. „Fahr deine Krallen ein, Schülerin“, brummte er. „Ich bin wohl kaum so mäusehirnig, mich mit deinen Freunden anzulegen.“ Wieder wanderte sein Blick ins Dickicht, zur Lichtung hinüber. „Ich will mit dir sprechen. Deshalb bin ich gekommen.“
Nachtpfote stockte, versuchte sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Sprechen? Warum sollte er mit mir sprechen wollen?
Misstrauisch fuhr sie die Krallen ein, aber sie ließ den Kater nicht eine Sekunde aus den Augen. „Warum sollte Zapfenstern ausgerechnet dich schicken?“
Rauchfuß schnaubte. „Ich wurde nicht geschickt. Niemand weiß, dass ich hier bin.“ Er starrte in den Wald, als wäre der SternenClan persönlich ihm auf den Pfoten.
Nachtpfote fühlte, wie ihre Muskeln sich lockerten. „Wie meinst du das? Was willst du?“
Rauchfuß seufzte und sah ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Nachtpfote konnte die Besorgnis darin deutlich lesen. „Wir haben nicht viel Zeit“, raunte er. „Zapfenstern – er plant, den BlattClan und den WurzelClan zu vereinen.“
Jedes Haar in Nachtpfotes Pelz stellte sich auf, während sie versuchte zu erfassen, was Rauchfuß' Worte bedeuteten. „Was?“, stieß sie hervor.
Rauchfuß zuckte zusammen und legte warnend die Ohren an. „Nicht so laut! Oder willst du mir deine Freunde auf den Hals hetzen?“
Nachtpfote duckte sich tiefer, den Bauch ins Gras gepresst, und spähte durch die Zweige. So verharrte sie einige Herzschläge lang, doch es schien niemand auf sie aufmerksam geworden zu sein. Eine Welle der Erleichterung floss durch ihren Körper, die allerdings so schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war.
Was tust du hier eigentlich? Warum versteckst du dich vor deinen eigenen Clangefährten? Hockst wie ein Kaninchen im Gebüsch und redest mit deinem Feind …
„Vielleicht sollte ich das tun“, sagte sie. Die Worte des alten Katers brannten wie Wespenstiche auf ihrer Haut. „Denn das, was du sagst, kann unmöglich die Wahrheit sein.“
„Ich lüge nicht.“ Rauchfuß legte die Ohren an.
„Es kann nicht wahr sein!“
„Hörst du mir überhaupt zu?!“
Nachtpfote keuchte und kämpfte gegen die Emotionen, die in ihr brodelten. Sie wurde aus seinem Verhalten einfach nicht schlau. Warum sollte er das Risiko auf sich nehmen, sie aufzusuchen entgegen dem Willen seines Anführers? Was erhoffte er sich davon? Und noch etwas. Eine Frage, die sie von sich geschoben hatte, als sie dem WurzelClan-Kater erneut gegenüberstand, die jetzt nach ihrer Aufmerksamkeit verlangte. Ihr Blick huschte ins Unterholz, die Bäume wisperten mit gedämpften Stimmen.
„Wie hast du uns gefunden?“, fragte sie.
Der BlattClan hatte sorgsam darauf geachtet, seine Spuren zu verwischen. Wenn Rauchfuß sie finden konnte, dann konnte Zapfenstern das auch.
Rauchfuß betrachtete sie, ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Das ist unwichtig. Wenn ich zurückkehre, werde ich meine Fährte vernichten.“
Nachtpfote stockte. Etwas in seinem Blick verriet ihr, dass er nicht weiter darauf eingehen würde. Widerwillig schlug sie mit dem Schwanz. „Selbst wenn du die Wahrheit sagst … Warum ich?“, wollte sie wissen. „Warum erzählst du mir das?“
Daraufhin grunzte der alte Kater nur. Eine Spur von Spott stahl sich in seine Augen. „Du warst mir vom Gebüsch aus am nächsten“, sagte er.
Nachtpfote knirschte mit den Zähnen. „Was hält mich eigentlich davon ab, dir meine Krallen in den Pelz zu schlagen?“
„Flöhe?“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, aber gleich darauf verfinsterte es sich wieder. Er sah müde und traurig aus.
Die schwarze Kätzin blinzelte irritiert. Sie wusste nicht recht, was sie aus der Situation machen sollte. Das alles schien zu viel auf den Schultern einer einzigen Schülerin. „Du solltest mit Morgenstern sprechen.“ Morgenstern würde wissen, was zu tun war.
Aber Rauchfuß schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht“, wehrte er ab. Sein Blick flackerte durch das Dickicht. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass Morgenstern über meine Anwesenheit erfreut wäre. Bestenfalls würde sie meinen Worten keinen Glauben schenken. Weniger Glück hätte ich, wenn ich auf ihrem Frischbeutehaufen lande.“
Nachtpfote starrte ihn an. „Was erwartet du jetzt von mir? Sag mir, warum ich nicht jetzt gleich meine Clangefährten rufen sollte.“
Rauchfuß verharrte, ein verirrter Sonnenstrahl fiel durch die Bäume in sein Fell. Sein Blick, der unentwegt das Dickicht durchstreift hatte, war plötzlich ganz still. Es lag ein leises Feuer darin. „Wenn es erneut zum Kampf kommt“, sagte er mit rauer Stimme, „dann werde ich auf eurer Seite stehen.“
Und Nachtpfote glaubte ihm.
Im nächsten Augenblick wandte Rauchfuß sich ab und tauchte ins Gebüsch. Bevor die dunklen Blätter seinen Pelz verschluckten, sah er noch einmal zurück. „Ich treffe dich auf der Großen Versammlung.“
Bevor Nachtpfote etwas erwidern konnte, war er fort.

 

Zwei Tage später erwachte sie noch vor Sonnenaufgang. Das Erste, was sie spürte, war der Schmerz in ihren Pfoten. Mit einem Stöhnen drehte sie sich auf die Seite und blinzelte. Ein schwaches Licht fiel über die Lichtung, aber die Kuhle unter dem umgestürzten Baum lag im tiefen Schatten.
Den gesamten Vortag hatte sie mit Wasserfell, ihrer Mentorin, verbracht, die sie die Kampfzüge und Jagdtechniken des BlattClans lehrte. Morgenstern hatte angeordnet, dass die Schüler trotz der Umstände das Training nicht vernachlässigten. Nachtpfotes Rücken brannte an einer Stelle, an der Wasserfell sie erwischt hatte, als sie dem Übungsangriff der geschickten grauen Kätzin nicht schnell genug ausgewichen war. Sie fuhr kurz mit der Zunge darüber und dachte befriedigt daran, dass auch ihre Mentorin nicht ohne Spuren aus dieser Trainingsstunde gegangen war.
Ein Blick verriet ihr, dass die anderen Schüler noch schliefen. Klettenpfote lag rechts von ihr, die Pfoten unter den Körper gezogen. Tannenpfote und Wüstenpfote waren zu ihrer Linken, eng aneinander gerollt. Auch sie hatten den letzten Tag unter der Leitung ihrer Mentoren verbracht und Nachtpfote spürte einen kleinen Stich des Bedauerns, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, ein Wort mit Tannenpfote zu wechseln. Letzte Nacht war sie völlig erschöpft auf ihren Schlafplatz gefallen. Mit einem Gähnen streckte die Kätzin ihre Beine und rappelte sich auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Die Körper der ruhenden BlattClan-Katzen im umliegenden Dickicht waren im Halblicht kaum auszumachen. Die Anführerin und ihr Stellvertreter hatten sich unweit der Ältesten am Fuß einer Esche niedergelassen. Morgensterns goldenes Fell stach deutlich aus dem Zweiggewirr hervor. Vorsichtig schlüpfte Nachtpfote aus dem behelfsmäßigen Schülerbau in den Wald. Sie wusste, dass sie sich alleine nicht so weit entfernen sollte, aber die Lichtung ließ ihre keine Luft zum Atmen.
Eine Bewegung im Unterholz ließ Nachtpfote aufhorchen, doch es war nur Streifenfell, der Wache hielt. Lautlos drehte die Schülerin ab und umrundete einen Schwarzdorn, bis er nicht mehr zu sehen war. Mit einem Rascheln schloss sich das Dickicht hinter ihr und übergab sie dem Dämmerlicht. Nur wenige Katzenlängen weiter stieß sie auf eine Kaninchenfährte. Die unbekannte Umgebung ließ sie zögern, aber schließlich fiel sie in das Jagdkauern, das Wasserfell ihr beigebracht hatte, und folgte dem Geruch zu einer lichten Waldstelle mit jungen Buchen. Geduckt und mit ihrem schwarzen Pelz blieb sie beinahe unsichtbar.
Ahnungslos knabberte das Kaninchen an einem Haselstrauch, als die Kätzin sich näherte. Mit Bedacht setzte sie die Pfoten auf das Laub und prüfte die Windrichtung. Dann spannte sie die Muskeln, bereit nach vorne zu stürzen.
Du hast es schon wieder entwischen lassen, Nachtjunges!“
Gar nicht wahr!“
Du bist so ungeschickt! Aus dir wird niemals eine Jägerin!“
Die Erinnerung schoss ihr so plötzlich durch den Kopf, dass sie auffuhr. Ein Zweig brach unter ihrem Gewicht, das Knacken war beschämend laut.
Das Kaninchen streckte die Nase in die Luft. Nachtpfote sah, wie seine Augen sich weiteten. Im nächsten Moment rannte es zwischen den Bäumen davon und verschwand in seinem Bau.
Enttäuscht biss sie die Zähne zusammen. Ihr Blick wanderte nach oben, suchte nach den Himmelsfetzen zwischen den Baumkronen. Der Mond stand blass und tief, eine fast perfekt runde Scheibe, ein wachendes Auge.
Die Große Versammlung.
Rauchfuß' Worte klangen ihr noch in den Ohren. Zur Vollmondnacht waren sich der Blatt- und der WurzelClan stets friedlich begegnet, auf einer Lichtung im Wald, die an beide Territorien grenzte. Die Clans hatten die Zeit genutzt, Neuigkeiten auszutauschen und sich gegenseitig Bericht über die Geschehnisse des vergangenen Mondes zu erstatten. Aber nach allem, was geschehen war, fiel es Nachtpfote schwer sich vorzustellen, Zapfenstern und seinen Kriegern friedlich gegenüberzutreten.
Ihre Augen wanderten zu dem Schwarzdorn zurück, hinter dem sich die Lichtung und ihre Clangefährten befanden. Nicht zum ersten Mal spielte sie mit dem Gedanken, Morgenstern ihre Begegnung mit Rauchfuß zu beichten. Aber sie konnte seinen Blick nicht vergessen. Es war etwas darin, das sie nicht hätte erklären, nicht hätte greifen können. Aber sie vertraute ihm. Und das erschrak sie mehr als alles andere.
Ein Windzug schüttelte die Bäume und griff kalt in Nachtpfotes Fell. Nein, sie durfte niemandem davon erzählen. Sie hatte mit einem Kater aus dem WurzelClan geredet, nur Sprünge von ihren Clangefährten entfernt. Sie hatte ihn laufen lassen. Ihr prickelte das Nackenfell bei der Vorstellung, was ihre Freunde von ihr denken mochten, wenn sie es wüssten.
Mit einem Stöhnen streckte Nachtpfote ihre Beine und machte sich auf den Rückweg. Immerhin – wie es schien, hatte das Jagdglück sie noch nicht verlassen. Das trockene Rascheln von Laub machte sie auf eine Wühlmaus aufmerksam, die am Flussufer nach Fressen suchte.
Nachtpfote fuhr die Krallen aus, pirschte sich an und fing sie.

Chapter 5: Flugunterricht

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Also wie ich bereits sagte, ist es – warte!“
Ohne auf die Warnung zu achten, breitete der Jungeulerich seine Flügel aus. Im nächsten Augenblick hatte er sich vom Ast gestoßen und segelte mit ungeübten Schlägen durch die Luft. Für einige Herzschläge hielt er sich oben, bevor er geräuschvoll auf dem nächsten Ast landete. Kurz sah es so aus, als könnte er vom Baum fallen, doch dann steuerte er mit seinen Schwingen dagegen und fand das Gleichgewicht wieder.
Triumphierend drehte sich Jib zu seinem Vater um.
Ikarus schüttelte tadelnd den Kopf, spreizte seinerseits die Flügel und glitt wie ein Schatten zu seinem Sohn herüber. Nur ein Lufthauch zeugte davon, dass er neben Jib gelandet war. „Nicht so hastig“, sagte er. „Das Fliegen lernt man nicht von jetzt auf gleich.“
Jib, noch ganz außer Atem von seinem ersten Flugversuch, kratzte ungeduldig mit den Krallen über das Holz. „Aber ich will es heute Nacht lernen!“
Ikarus schüttelte erneut seinen Kopf, dieses Mal mit einer Spur von Belustigung in den schwarzen Augen. Mit vier kräftigen Flügelschlägen erhob er sich in die Luft. „Spüre den Wind unter deinen Schwingen“, rief er, „und lass dich von ihm tragen.“ Er drehte ab und flog eine Runde um die heimatliche Tanne. In der Nacht war er nicht mehr als ein Schemen. Jib blickte ihm bewundernd nach.
Sobald Ikarus wieder auf Jibs Höhe war, glitt er lautlos zum nächsten Ast. Die Beine nach vorne gestreckt, stoppte er mit flachen, schnellen Flügelschlägen seinen Fall und grub die Krallen in die Rinde. Dann drehte er sich zu seinem Sohn um. „Und jetzt“, Ikarus nickte ihm aufmunternd zu, „versuche es noch einmal.“
Jib holte tief Luft.
In Ordnung. Das schaffe ich.
Entschlossen löste er seine Klauen aus dem Holz und ließ sich fallen.
Ikarus beobachtete ihn dabei aufmerksam. „Du brauchst nicht so heftig mit den Flügeln zu schlagen“, sagte er. „Hab keine Angst, du wirst schon nicht abstürzen. Mach es ruhig, gleichmäßig. Bei der Kraft, die du so verbrauchst, musst du dich auf jedem zweiten Baum ausruhen.“
Jib fehlte die Luft, um zu antworten. Der Waldboden schwankte gefährlich tief unter ihm. Eine innere Stimme warnte ihn, dass er mit Sicherheit abstürzen würde, wenn er nur einen Moment innehielt. Erst als sein Vater erneut rief, zwang er sich, das hektische Flattern zu stoppen. Es kostete ihn einige Kraft, bis er es schaffte, zwischen seinen Flügelschlägen mehrere Sekunden verstreichen zu lassen und sich auf jeden einzelnen zu konzentrieren. Erstaunlicherweise fiel er nicht ab. Nicht ein kleines Stück.
„Gut so, Jib. Und jetzt gleiten!“
Der junge Eulerich zögerte. In der Dunkelheit unter sich konnte er sehen, wie der Wind das Laub über den Boden jagte.
Ikarus fächelte seine Federn. „Du schaffst das.“
Die Zuversicht, mit der er die Worte sagte, ließ Jibs Herz höher schlagen. Sein Vater glaubte daran, dass er es schaffen konnte. Jib schluckte, warf einen letzten Blick nach unten und stellte seine Flügelschläge ein. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und sein Magen drehte sich um bei dem Gedanken zu fallen. Doch er fiel nicht. Stattdessen schien die Zeit mit ihm zu stoppen. Es war, als würde der Wind sich strecken und ihn auf seinen unsichtbaren Schwingen tragen. Jib brauchte eine Weile, bis er verstand, dass er es geschafft hatte.
„Ich kann es! Ich kann es!“, rief er begeistert.
Wacklig drehte der junge Eulerich eine Kurve. Eine Brise strich sanft über seine Federn und lenkte ihn in die richtige Richtung. Ohne einen einzigen Flügelschlag glitt er zurück zu der Tanne und ließ sich neben Ikarus auf den Ast fallen. Der schwankte sanft, als Jib erwartungsvoll zu seinem Vater aufblickte. „Und wie war ich?“, fragte er atemlos.
Ikarus schmiegte sich an ihn und pickte fürsorglich ein Blatt von Jibs Kopf. „Du warst fantastisch“, lobte er. „Hab ich nicht recht?“, fragte er in Richtung der Baumhöhle.
Zwei Eulen lugten aus dem Astloch, die Augen wie funkelnde schwarze Perlen im hellen Gesichtsschleier.
„Sind wir jetzt an der Reihe?“, fragte Sylph, die ihre Aufregung kaum verbergen konnte.
„Ich will auch fliegen!“, piepste Nova und drückte sich an ihrer Schwester vorbei nach draußen.
Ikarus lachte. Er streichelte Jib noch einmal über den Kopf, dann wandte er sich an Sylph und Nova, um sie bei ihren ersten Flugversuchen zu unterstützen.
Jib schaute von dem Ast aus zu, wie seine Schwestern sich unter Ikarus' Ratschlägen in die Luft erhoben. Sylph war ein Naturtalent. Schon bei ihrem ersten Flug gaben ihre Flügel nicht das leiseste Geräusch von sich. Als er Nova wild durch die Luft flattern sah, konnte Jib ein belustigtes Gurren nicht unterdrücken. Sie lernte allerdings sehr schnell und stand ihren älteren Geschwistern in nichts nach.
In später Nacht stiftete Sylph die anderen zu einem Wettfliegen an. Die erste Runde gewann sie mit Abstand. Die Zweite ließen Jib und Sylph Nova gewinnen.
Ikarus beobachtete die drei Jungeulen von der Tanne aus, die Federn vor Stolz aufgeplustert. Am frühen Morgen rief er sie zu sich und trieb sie zurück in ihr Nest.
Jib kuschelte sich, dicht an Sylph gepresst, müde in das Moos. Nach dieser aufregenden wie anstrengenden Nacht schliefen die Geschwister auf der Stelle ein.

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Die Lichtung war in tiefe Schatten getaucht, als Morgenstern und Messerzahn sich noch berieten, welche ihrer Krieger sie auf die Große Versammlung begleiten sollten.
Die Mitglieder des Clans hatten sich in lockeren Gruppen im Gras verteilt, leise Worte fanden ihren Weg von Katze zu Katze. Doch ihre Blicke galten den Clanführern. Das Fell in der Abendbrise bewegt, warteten sie auf die Entscheidung.
Nachtpfote hockte bei Tannenpfote und Klettenpfote, die Augen auf die schwankenden Halme gerichtet und ganz in ihrer Gedankenwelt gefangen.
Wir werden also tatsächlich den Versammlungsort aufsuchen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Schnauze. Nach allem, was passiert ist.
So hatte Morgenstern es bei Sonnenfall verkündet und war bei ihren Kriegern auf gemischte Gefühle gestoßen. Der Überfall des WurzelClans vor einigen Nächten hatte seine Spuren hinterlassen. Nicht nur die Narben in ihrem Fell, auch die Wunden in ihren Herzen, die nicht so leicht heilten. Einige der Katzen wirkten unsicher, sogar verängstigt, und manchen von ihnen konnte Nachtpfote förmlich ansehen, dass sie die Hoffnung verloren hatten, ihr Zuhause wiederzusehen. Ebenso sanft wie entschlossen hatte Morgenstern zu ihnen gesprochen und verdeutlicht, wie wichtig es sei, den feindlichen Kriegern jetzt zu begegnen.
„Wir werden uns nicht wie die Kaninchen, für die sie uns halten, in diesem Wald verkriechen. Wir müssen ihnen die Stirn bieten; ihnen zeigen, dass wir uns nicht so einfach geschlagen geben“, hatte sie gesagt. „Der SternenClan wird über uns wachen. An Vollmond herrscht heiliger Waffenstillstand. Wenn Zapfenstern noch einen Funken Ehre hat, so wird er ihn nicht brechen.“
Nachtpfote drehte sich beim Gedanken daran der Magen um. Sie schob den Rest der Maus, die sie eben gegessen hatte, von sich und stand auf. Sie hielt das Warten nicht mehr aus.
Als sie über die Lichtung tappte, spürte sie den Blick der anderen Schüler im Rücken. Zögernd näherte sie sich Morgenstern und Messerzahn, die noch immer in ihr Gespräch vertieft waren. Als der braune Kater sie bemerkte, strafften sich die Muskeln unter seinem dicken Pelz. Die Wunde an seiner Flanke sah inzwischen besser aus, aber es war ersichtlich, dass er eine Narbe zurückbehalten würde. Nun hatte er seinen Kopf schief gelegt und betrachtete Nachtpfote aus interessierten, dunkelgelben Augen.
Die Schülerin senkte respektvoll ihren Kopf, das Fell kribbelte heiß in ihrem Nacken. Auf einmal kam sie sich lächerlich vor. „Ähm. Ich wollte fragen … fragen, ob –“, stammelte sie.
„Du möchtest wissen, ob du uns auf die Große Versammlung begleiten darfst.“ Morgenstern sah auf, ihr Blick war tiefblau und unergründlich.
Nachtpfote schluckte. Sie brachte nur ein Nicken zustande.
Morgenstern schwieg, ohne ihre Aufmerksamkeit von der jungen Kätzin abzuwenden. Der Wind bog spielerisch ihre spitzen Ohren. „Wir werden starke Pfoten brauchen heute Nacht“, antwortete sie schließlich. „Nur der SternenClan weiß, wie Zapfenstern reagieren wird.“ Ihr Blick verschattete sich. Einen Moment schaute sie Nachtpfote prüfend an. Etwas an ihr ließ Morgenstern innehalten. Dann schien sie einen Entschluss zu fassen. „Ich denke, du solltest mit uns kommen.“
Messerzahn sah so überrascht aus, wie Nachtpfote sich fühlte. „Es könnte gefährlich werden, Morgenstern“, gab er zu bedenken.
Die Stimme der goldenen Kätzin blieb fest. „Ich habe mich entschieden.“
Messerzahn und Morgenstern tauschten einen Blick aus. Nachtpfote hatte keine Ahnung, was er in ihrem Gesicht entdeckte, das ihn überzeugte, aber letztendlich nickte er und entließ die Schülerin mit einem Zucken seiner Schwanzspitze.
Nachtpfote murmelte Dank und wandte sich rasch ab, bevor einer der beiden es sich anders überlegen konnte.
Auf ihrem Weg zurück über das Gras hielt sie die Augen gesenkt, das Herz schlug schnell in ihrer Brust. Sie hatte nicht erwartet, dass Morgenstern ihr tatsächlich gestatten würde, sie zur Großen Versammlung zu begleiten. Trotz des Waffenstillstandes schien sie Zweifel daran zu haben, dass ihnen eine friedliche Zusammenkunft mit dem WurzelClan bevorstand. Sicherlich würde sie vor allem ihre stärksten und zuverlässigsten Krieger mitnehmen.
Was hat sie wohl in mir gesehen?
Unsicher blieb sie über den Resten ihrer halb gegessenen Maus stehen. Die anderen Schüler hockten noch immer im Gras, sie teilten sich einen Spatzen. Das weiche Fell an Tannenpfotes Nacken zauste sich im Wind, als er den Kopf zurückwarf und über etwas schnurrte, das sein Bruder gesagt hatte. Nachtpfotes Pelz wurde heiß. Noch während sie unschlüssig zu den beiden hinüber spähte, fing Tannenpfote plötzlich ihren Blick auf.
„Nachtpfote!“
Sie zuckte zusammen, als er sie mit leuchtenden Augen zu sich winkte. Er wirkte fröhlich, trotz allem, was innerhalb der letzten Tage geschehen war. Nachtpfote setzte sich in Bewegung, wobei sie versuchte, das nervöse Zucken ihrer Schnurrhaare zu unterdrücken.
„Komm, Nachtpfote, setz dich dazu“, lud Tannenpfote sie ein und klopfte auf den Boden.
Klettenpfote nickte ihr zu und rückte ein Stück zur Seite.
„Danke.“ Dicht neben Tannenpfote ließ Nachtpfote sich fallen, dabei strich ihr Schwanz aus Versehen über seine Flanke. Sie erstarrte und wartete mit klopfendem Herzen auf seine Reaktion, aber Tannenpfote hatte sich abgewandt und starrte über die Lichtung neugierig zu Morgenstern und Messerzahn herüber.
„Was denkt ihr, was heute Nacht passieren wird?“, fragte er. „Wen werden sie mitnehmen?“
Klettenpfote schluckte einen Bissen von dem Spatz hinunter, eine Feder löste sich von seiner Schnauze und schwebte sachte ins Gras. „Hey, Nachtpfote, du warst doch gerade bei Morgenstern und Messerzahn. Was haben sie gesagt?“
„Stimmt“, rief Tannenpfote und drehte seinen Kopf in ihre Richtung. „Was wolltest du von ihnen?“
Unbehaglich peitschte die schwarze Katze mit dem Schwanz. Sie sah Rauchfuß vor sich und die Entschlossenheit in seinem Blick. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und bemerkte, dass die anderen Schüler auf eine Antwort warteten. „Morgenstern wird mich auf die Große Versammlung mitnehmen“, sagte sie.
Klettenpfote und Tannenpfote rissen die Augen auf. „Was, wirklich?“, fragte Klettenpfote und sein braunes Fell sträubte sich überrascht. Nachtpfote entging nicht der vorwurfsvolle Unterton in seiner Stimme.
Tannenpfote runzelte die Stirn. Er stupste sie mit der Nase an. „Morgenstern scheint großes Vertrauen in dich zu haben.“ Sein Gesichtsausdruck war nachdenklich, als versuchte er Morgensterns Entscheidung nachzuvollziehen und etwas an Nachtpfote zu entdecken, das ihm bisher entgangen war. „Pass auf dich auf, okay? Lass dir nicht von den WurzelClan-Kriegern den Pelz zerfetzen.“ Er sagte es leichthin, aber sie konnte sehen, wie er sorgenvoll die Zähne zusammenbiss.
Nachtpfote spürte eine seltsame Hitze in sich aufsteigen. Es kostete sie Kraft, ihren Blick von den Grashalmen zu ihren Zehen zu heben und Tannenpfote anzusehen. „Ich passe auf“, murmelte sie.
Klettenpfote fuhr sich rasch mit der Zunge über das Nackenfell, bis es wieder glatt lag. „Tannenpfote hat recht, sei vorsichtig“, riet er. „Ich traue Zapfenstern keinen Mäuseschwanz weit.“ Mit düsterer Miene grub er seine Krallen in die Erde.
„Du denkst, er wird den Waffenstillstand brechen?“ Tannenpfote lehnte sich erschrocken vor. „Das würde er nicht wagen.“
Klettenpfote zuckte die Ohren. „Wir werden sehen.“
Unruhig wälzte Tannenpfote sich auf die Seite und das letzte Sonnenlicht fing sich in seinen Haarspitzen.
Nachtpfote fühlte, dass er sie noch immer beobachtete. Sie starrte auf die Spatzenfedern verteilt im Gras.
Klettenpfote schnaubte, knabberte an der Beute und schlang den letzten Rest hinunter. Die Schüler warteten, bis auf das scharfe Knacken der Vogelknochen zwischen seinen Zähnen, in völliger Stille.

 

Als der Mond seinen Platz am Himmel gefunden hatte, war die Zeit gekommen.
Die Katzengruppe, die Morgenstern für das Clantreffen ausgewählt hatte – bestehend aus Messerzahn, Wasserfell, Nassfuß, Eichelpelz, Blattsprenkel, Fleckenfell, Dunkelpelz und Nachtpfote – versammelte sich wie eine dunkle Wolke im Sternenlicht. Mit steifen Schritten stolzierten sie über die Lichtung und warteten auf das Zeichen zum Aufbruch.
Nachtpfote drehte sich unwohl zwischen all den gesträubten Pelzen und peitschenden Schwänzen. Durch die Wand aus Körpern warf sie einen letzten Blick zurück ins Dickicht, ihr Herz schwer, als sie Tannenpfotes enttäuschtes Gesicht im Schatten der Farnwedel entdeckte.
Morgenstern wechselte noch ein paar Worte mit Messerzahn, dann wandte sie sich an ihre Krieger.
„Heute Nacht“, sagte sie, „kann weder Zapfenstern noch sonst eine Katze uns davon abhalten, unseren Traditionen zu folgen und den Versammlungsort aufzusuchen. Dennoch müssen wir äußerst wachsam bleiben und das Schlimmste erwarten.“ Morgensterns Augen blieben an Wasserfell und Nachtpfote hängen. „Nachtpfote, du wirst bei Wasserfell bleiben und jeden ihrer Befehle befolgen.“
Die Schülerin senkte zur Bestätigung nervös den Kopf.
„Während unserer Abwesenheit tragen Feuerpelz und Streifenfell die Verantwortung“, fuhr Morgenstern fort und schnippte mit dem Schwanz in Richtung der älteren Krieger. Die beiden hockten an der Spitze der Katzengruppe, die auf der Lichtung verbleiben würde. „Seid vorsichtig und erwartet uns zurück, bevor der Mond die Baumwipfel berührt.“
„Möge der SternenClan mit euch sein“, sagte Feuerpelz.
Morgenstern nickte bedächtig, dann setzte sie los. Die Katzen folgten ihr wie ein einziges Wesen. Mit einem stillen Gebet zum SternenClan wandte Nachtpfote sich ab und folgte ihren Clangefährten in den Wald.
Unter den tiefschwarzen Bäumen hielten die Krieger sich dicht beisammen. Das Knistern des Laubs unter ihren Pfoten war ohrenbetäubend. Nachtpfote blieb an Wasserfells Seite, das graue Fell ihrer Mentorin schimmerte wie die Oberfläche eines klaren Sees im Mondlicht. Die Angst lauerte wie ein Schatten in ihrem Nacken und sie wünschte sich, Tannenpfote hätte mitkommen dürfen, denn niemanden hätte sie jetzt lieber bei sich. Das rasche Tempo hielt sie jedoch bald vom Denken ab. Mit einem Schwanzschnippen wischte sie alle Zweifel aus ihrem Kopf und sprintete weiter. Mit der Zeit kam ihr die Umgebung entfernt vertraut vor und mit klopfendem Herzen erkannte sie, dass sie in die Ausläufer ihres Territoriums vordrangen.
Nachdem die Krieger eine ganze Weile schweigend durch die Finsternis gerannt waren, kam der Halt so überraschend, dass Nachtpfote fast ungebremst in Wasserfells Flanke lief. Ihre Mentorin zuckte erschrocken zusammen und stolperte gegen Dunkelpelz. Der schwarze Kater wirbelte mit einem unwirschen Zischen herum. Verlegen eine Entschuldigung murmelnd, trat Nachtpfote zurück. Die Erde zu ihren Pfoten war aufgewühlt. Wasserfell entspannte ihre Muskeln und schoss Dunkelpelz ihrerseits einen Blick zu, bis er sein Fell legte und sich durch die Katzengruppe an einen anderen Platz schob. Nachtpfote prickelte das Fell vor Scham, aber Wasserfell schnurrte nur und leckte ihr mit der Zunge über den Kopf.
Morgensterns Knurren lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Die goldene Katze wirkte so klein neben ihrem Stellvertreter, die Pfoten am Abhang zu der Lichtung, die sich vor ihnen auftat.
Gesäumt von Weißdorn und Brombeersträuchern lag sie im Mondlicht, in ihrer Mitte der Großfelsen. Wie ein stiller Wächter ragte er aus der Wiese und entzweite den Fluss, der die Grenze zwischen den Territorien des Blatt- und des WurzelClans markierte. Das Wasser teilte sich bereitwillig in zwei silberne Bänder, die leise murmelnd um den Stein herum flossen, bevor sie auf der anderen Seite wieder zusammenfanden. Der Fels befand sich genau auf der Grenze. Ein neutrales Gebiet.
Sie hatten den Versammlungsort erreicht.
Nachtpfote erstarrte, reckte die Nase vor und prüfte die Luft. Der Geruch des WurzelClans hing deutlich im Wind und ließ ihr das Fell zu Berge stehen.
Wir sind nicht allein.
Sie kniff die Augen zusammen, um durch die Körper ihrer Gefährten etwas zu erkennen, und stellte fest, dass sich bereits etwa ein Dutzend Katzen auf der Lichtung befand. Sie hatten sich auf ihrer Flussseite im Schatten des Felsens niedergelassen, die Silhouetten im wogenden, silbernen Gras kaum auszumachen. Nachtpfote betrachtete den Stein erneut und stellte mit einem eisigen Gefühl in der Brust fest, dass eine einzelne finstere Gestalt über der Lichtung thronte: Zapfenstern hatte seinen Platz auf dem Großfelsen eingenommen.
Die Schülerin zuckte angespannt mit ihrem Schwanz. Der WurzelClan war also gekommen. Wasserfell schnaubte missbilligend, aber Nachtpfote konnte ihre Augen nicht von Zapfensterns scharfem, mächtigem Umriss abwenden. Ihrer Vernunft zum Trotz spürte sie ein winziges Nagen von Hoffnung in sich. Vielleicht könnte die Feindschaft zwischen den Clans ein Ende haben. Aber der Gedanke, noch einmal durch den raschelnden Dornentunnel in die sonnenbefleckte Senke des BlattClan-Lagers zu treten, war zu schön, um wahr zu sein.
Als Morgenstern sich in Bewegung setzte, folgten die Krieger ihr. Eichelpelz und Blattsprenkel flankierten die Clanführer, dicht gefolgt von Nassfuß, Dunkelpelz und Fleckenfell. Wasserfell drückte sich beruhigend an Nachtpfotes Seite, die beiden bildeten den Schluss.
Während sich die Halme zu ihren Beinen teilten, schaute die schwarze Kätzin ein weiteres Mal über die Katzenmenge auf der anderen Flussseite und ihre Hoffnung löste sich auf wie ein Blutstropfen im Wasser. Je näher sie dem Großfelsen kam, desto deutlicher zeichneten sich die Gesichter der anwesenden Katzen im Mondlicht ab. Sie alle, Clan wie Anführer, starrten den Kriegern des BlattClans feindselig entgegen.
Nachtpfote legte unwillkürlich die Ohren an und spürte, wie sich das Fell in ihrem Nacken aufrichtete. Ihr Blick wanderte hinauf, bis sie Zapfenstern vor dem sternenhellen Himmel ausmachen konnte. Seine Augen hatten sich an Morgenstern geheftet, die Andeutung eines Lächelns umspielte sein Maul.
Ein Schauer jagte über Nachtpfotes Rücken. Nicht ein Haar in Zapfensterns Fell sah friedlich aus; seine ganze Erscheinung drehte ihr den Magen um.
Mit stockendem Herzen presste sie sich an Wasserfells Seite.
Was hast du vor? Wirst du den heiligen Waffenstillstand brechen?

Notes:

Endlich mal ein neues Kapitel!
Ich bin immer noch in der Überarbeitung des Romans, im Moment bei Kapitel 30. Ich habe also auf jeden Fall noch ein paar Chapter zu posten ^^

Chapter 6: Die Große Versammlung

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Mit gesträubtem Fell schritt Morgenstern voran.
Falls die feindseligen Blicke der WurzelClan-Krieger sie beunruhigten, so ließ sie es sich nicht anmerken. Alles an ihr strahlte Entschlossenheit aus. Die Augen fest auf den Großfelsen gerichtet, strich sie lautlos durch das Gras, bis sie das Flussufer erreicht hatte. Dort bedeutete sie ihren Katzen mit einem Nicken, zu warten.
Eichelpelz brummte und setzte sich ins Gras, Blattsprenkel an seiner Seite. Fleckenfell und Nassfuß blieben stehen. Nachtpfote zögerte, die Furcht wie ein Stachel in ihrer Brust.
„Haltet Augen und Ohren offen“, raunte Morgenstern, den Blick wachsam auf die schemenhaften Krieger am anderen Ende der Lichtung gerichtet. „Aber unternehmt nichts, wenn Zapfenstern es nicht zuerst tut.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte die Anführerin sich ab, sprang über den Fluss und erklomm mit kühner Eleganz den Fels.
Zapfensterns Augen folgten der sandfarbenen Katze dabei interessiert.
Die BlattClan-Katzen verteilten sich ein Stück weit im Gras, die Ohren wachsam gespitzt, die Muskeln unter dem Fell zitternd vor Spannung. Nachtpfote rückte ein Stück von Wasserfell ab und suchte nach Rauchfuß. Die Körper der feindlichen Krieger warfen lange Schatten über die Erde und der Wind, der ihre Gesichter zauste, machte es schwer, jemanden zu erkennen. Aber das Mondlicht drängte helfend durch die Wolkendecke, bis Nachtpfote den alten Kater schließlich entdeckte.
Rauchfuß hatte ebenfalls ein paar Schwanzlängen Abstand zu seinen Clangefährten geschaffen, er hockte am Flussufer auf der windabgewandten Seite der versammelten Katzen.
Nachtpfote vergewisserte sich, dass Wasserfell voll auf das Geschehen auf dem Großfelsen konzentriert war, um sich leise ein paar weitere Schritte aus der Gruppe zu lösen. Etwa einen Katzensprung links von ihr sprossen ein junger Weißdorn und ein dichtes Büschel Vogelmiere aus dem Boden. Als sie die Pflanzen fast erreicht hatte, bemerkte sie, dass auch Rauchfuß sich mit zusammengekniffenen Augen nach ihr umblickte. Sobald er sie sah, richteten sich seine Ohren auf. Er erhob sich und kam auf sie zu.
Nachtpfote hielt die Luft an. Sie beobachtete, wie der Älteste durch das Flussbett watete; das Wasser, das an dieser Stelle nur knapp an seine Schulter reichte, teilte sich mit einem verräterischen Wispern vor seiner Brust. Erneut schielte Nachtpfote zu ihrer Mentorin herüber, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie bereits aufgeflogen war, aber die BlattClan-Katzen waren ganz auf den Großfelsen und die beiden Anführer fokussiert.
Diese standen sich mittlerweile mit angespannten Muskeln und drohend zuckenden Schwänzen gegenüber.
An ihrem Ufer angekommen, schüttelte Rauchfuß seinen Pelz, schaute sich vorsichtig um und schlich, den Bauch ins feuchte Gras gedrückt, näher an die schwarze Kätzin heran.
Unbehaglich kauerte sich Nachtpfote unter den Weißdorn und wartete auf ihn. Das Herz hämmerte ihr in den Ohren und mit jedem Schlag fürchtete sie die Reaktion ihrer Clangefährten, aber als sich der Kater neben ihr niederließ, war es immer noch still. Geschickt schlich er so weit um Nachtpfote herum, bis sie sich zwischen ihm und den anderen BlattClan-Kriegern befand. Ins Blattwerk getaucht war er kaum auszumachen.
„Sind das alle Krieger, die Morgenstern heute Nacht bei sich hat?“, flüsterte er mit einem Blick über ihre Schulter, ohne sich etwas aus einer Begrüßung zu machen.
Nachtpfote blinzelte irritiert. Verschiedene Gefühle blitzten ihr durch den Magen, vermischt mit den tausend Fragen, die sich wie Spinnweben durch ihren Kopf gesponnen hatten.
„Ja“, hauchte sie.
Rauchfuß' Nackenfell sträubte sich bedrohlich. „Mögen unsere Ahnen uns beistehen“, murmelte er.
Etwas in seiner Stimme ließ Nachtpfotes Blut gefrieren. „Was ist los?“ Einen Moment lang vergaß sie den Großfelsen und starrte den WurzelClan-Ältesten an. Eine finstere Vorahnung kroch ihr über den Rücken.
Rauchfuß hatte den Kopf zurückgeworfen, das Mondlicht zeichnete weiße Tümpel in seine Augen. „Zapfenstern … Ich fürchte, er wird seinen Plan, WurzelClan und BlattClan zu vereinen, heute Nacht in die Tat umsetzen.“
Nachtpfote sprang mit einem Satz auf die Pfoten. „Das kann nicht sein!“, rief sie.
Zweifellos hätte jede Katze auf der Lichtung sie gehört, wäre nicht im gleichen Augenblick ein schrilles Jaulen vom Großfelsen her ertönt. Die Kätzin fuhr herum und erstarrte.
Die Versammlung hatte begonnen.
„Alle herhören! Die Große Versammlung ist jetzt eröffnet!“, schrie Zapfenstern. Der braune Kater stolzierte mit herausgestreckter Brust über den Fels. Die alte Narbe, die sich von seiner Kehle bis zum Bauch zog, war entblößt im Schein des Mondes.
Als er sich der Aufmerksamkeit aller Katzen sicher war, richtete er seine Augen auf Morgenstern. „Darf ich beginnen?“, fragte er ohne den Hohn in seiner Stimme zu verbergen.
Morgenstern würdigte ihn keiner Antwort. Lediglich ein Zucken ihres Schwanzes ließ erahnen, wie sehr Zapfensterns gespielte Höflichkeit sie kochen ließ.
Der Anführer des WurzelClans überging ihren kalten Blick und wandte sich wieder an die versammelten Katzen. „Krieger beider Clans!“, schrie er. „Ich mache euch ein Angebot.“
Nachtpfote konnte sich nicht rühren. Rauchfuß' Warnung schnürte ihr die Kehle zu.
Diese Nacht … Ein Angebot …Zapfenstern drehte sich einmal im Kreis, die Augen wie zwei reine Flammen auf die Lichtung gerichtet, als wollte er sichergehen, dass ihn auch jede Katze sehen konnte. „Was genau sind wir eigentlich?“, rief er schließlich. Aus seinem Maul klang es jedoch nicht wie eine Frage, vielmehr wie eine Aufforderung, als würde er nur darauf warten, dass jemand auf die Pfoten sprang und sich ihm widersetzte.
Aber niemand wagte es, einen Laut von sich zu geben. Ein Eulenschrei war das Einzige, was die vollkommene Stille durchbrach.
Zapfenstern ließ den Schwanz wie einen windgepeitschten Ast durch die Luft sausen, als habe er auch keine Antwort erwartet. „Ich sage es euch“, blaffte er. „Kaninchen sind wir, verstecken uns mit zitternden Pelzen in unseren Territorien wie Beute in ihrem Loch! Patrouillieren an den Grenzen wie feige Fuchsherzen, jederzeit in Furcht vor einem Angriff des feindlichen Clans.“ Er verzog verächtlich die Schnauze. „Aber wozu eigentlich? Warum streiten wir uns um jeden Happen Beute? Wie sollen wir die Blattleere überstehen mit den Wunden aus unzähligen sinnlosen Kämpfen?“
Der braune Kater hielt inne, sein Blick richtete sich auf Morgenstern. Ihre blauen Augen ließen nicht von ihm ab, kalt und unergründlich.
Unruhe breitete sich unter den BlattClan-Katzen aus. Nachtpfote konnte von ihrem Platz unter dem Weißdorn aus sehen, wie Blattsprenkel und Nassfuß feindselig die Ohren anlegten. Messerzahns Rückenfell stellte sich auf.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte Morgenstern gefährlich leise.
Nachtpfote, die sich ein Stück tiefer ins Gras gekauert hatte, scharrte mit den Krallen durch die nasse Erde. „Rauchfuß, ich …“, setzte sie an, unsicher, wie sie den Satz beenden sollte. Weitere Worte blieben ihr jedoch erspart, denn als sie sich wandte, um Rauchfuß aus den Augenwinkeln zu betrachten, stellte sie fest, dass von dem alten Kater keine Spur zu sehen war. Sie ließ ihren Blick einmal über das Gebüsch, die Wiese und das Flussufer schweifen, konnte ihn allerdings nirgends entdecken.
Wo ist er bloß hingegangen?
Die aufkommende Panik niederkämpfend, stemmte sie ihre Pfoten in den Boden, um das Zittern ihrer Beine zu unterdrücken. Die Zweige in ihrem Rücken wisperten bedrohlich. Unwillkürlich drehte sie den Kopf und bei dem Gefühl, dass die Schatten sich langsam um sie schlossen, stellte ihr Nackenfell sich auf.
„Nachtpfote!“ Das Zischen ließ sie beinahe aus dem Pelz fahren. „Was machst du da?“
Wasserfell peitschte unwirsch mit dem Schwanz und starrte in ihre Richtung.
Schnell schlüpfte Nachtpfote aus ihrem Versteck und eilte an die Seite ihrer Mentorin.
Die graue Kätzin sah bestürzt aus, prüfend musterte sie die Schülerin von oben bis unten. „Was denkst du dir dabei?“, raunte sie. „Bleib dicht an meiner Seite.“
Nachtpfote zog den Kopf ein. Wasserfell schien noch nicht fertig zu sein, aber in diesem Moment lenkte Zapfenstern ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Worauf ich hinaus will?“, jaulte der stämmige Kater vom Großfelsen her. Er hielt Morgenstern mit seinen gelben Augen gefangen, seine Krallen kratzten mit einem furchterregenden Geräusch über den Stein. „Vergesst die alten Grenzen!“, schrie er so laut, dass die Katzen zu seinen Pfoten zusammenschraken. „WurzelClan und BlattClan werden sich zu einem einzigen Clan vereinen!“ Bei seinen letzten Worten legte der Anführer des WurzelClans das Gewicht auf die Hinterbeine und ließ die Vordertatzen mit gespreizten Klauen durch die Luft wirbeln.
Die kurze Stille, die auf seine Ansprache folgte, wurde gleich darauf durch fassungslose und empörte Rufe abgelöst. Nassfuß sprang auf die Pfoten und sie war nicht die Einzige. Eichelpelz fauchte und von Messerzahn ging ein tiefes Grollen aus.
Nachtpfote war trotz Rauchfuß' vorheriger Warnung nicht weniger betroffen. Mit angehaltenem Atem sah sie zu Morgenstern hinauf, die Zapfenstern noch immer reglos gegenüberstand, und wartete auf ihre Reaktion.
Die goldene Katze schwieg, in ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, den Nachtpfote noch nie an ihr gesehen hatte. Nicht einmal ihre Schwanzspitze zuckte.
„Das verstößt gegen das Gesetz der Krieger!“ Der ungläubige Ruf kam aus den Reihen der BlattClan-Katzen, bevor Morgenstern etwas erwidern konnte.
Zapfenstern fuhr mit zusammengekniffenen Augen herum, sein Blick glitt über die kleine Gruppe, an deren Rand sich Nachtpfote ins Gras gekauert hatte. „Wir können uns ein neues Gesetz der Krieger erschaffen! Oder hegt ihr noch immer Vertrauen für den SternenClan?“, knurrte er, seine Lefzen verächtlich zurückgezogen. „Was haben sie für euch getan, als ihr euer Lager aufgeben und das Territorium verlassen musstet? Nichts? Sie haben nicht einmal die Macht, ihre eigenen Katzen zu schützen.“ Er peitschte wegwerfend mit dem Schwanz. „Ich werde das tun. Ich werde ein neues Gesetz erschaffen. Und ihr könnt mir dabei helfen.“
Der Wind sandte eine heftige Böe durch den Wald, die Nachtpfote wie ein Eishauch ins Gesicht schlug. Sie starrte hoch zum Großfelsen, so entsetzt, dass sie die schockierten Schreie ihrer Clangefährten kaum hörte. Messerzahn und Blattsprenkel bleckten angriffslustig die Zähne und sogar die sonst so ruhige Wasserfell hatte ihre Krallen ausgefahren. Neben ihr starrte Fleckenfell in den Himmel, ihr Pelz fing das Licht des Mondes. „Das darfst du nicht zulassen, Morgenstern!“, stieß sie hervor.
Morgenstern senkte den Kopf und bedeutete ihren Kriegern mit einem einzigen Ohrenzucken, still zu sein. Sie wirkte immer noch vollkommen ruhig. Ihr Blick glitt über Fleckenfell hinweg, bis er auf Messerzahn liegen blieb. „Was sagt mein Zweiter Anführer dazu?“, fragte sie. Ihre Stimme war nicht so laut wie Zapfensterns, aber sie trug ebenso weit über die Lichtung.
Messerzahn hatte bisher geschwiegen. Obwohl er sich zurückhielt, war das Spiel der Muskeln unter seinem Pelz gut zu sehen. Mit seinen breiten Schultern und gekrümmtem Rücken war er der einzige Kater auf der Lichtung, der es mit Zapfensterns Körpergröße hätte aufnehmen können. Seine bernsteinfarbenen Augen waren fest auf Morgenstern gerichtet. „Das ist mit Abstand die mäusehirnigste Idee, die ich je gehört habe“, knurrte er.
Ein Anflug von Stolz stieg in Nachtpfote auf. So schnell würde der BlattClan nicht klein beigeben.
Morgenstern nickte und ein grimmiges Lächeln kräuselte ihre Schnauze.
Zapfenstern schickte einen finsteren Blick ins Messerzahns Richtung.
„Ob sie vorhat, sich ihnen anzuschließen?“, raunte Dunkelpelz irgendwo rechts von Nachtpfote. Fleckenfell, die neben ihm hockte, kniff die Augen zusammen. „Natürlich nicht!“, zischte sie, aber man hörte den Zweifel in ihrer Stimme.
Nachtpfote wagte nicht zu atmen. Tausend Feuerameisen schienen über ihre Haut zu krabbeln und ihren Pelz in Brand zu setzen. Vielleicht war es ein furchtbarer Fehler gewesen, heute Nacht herzukommen. Unfähig, den Blick abzuwenden, starrte sie auf die Szene, die sich vor ihr abspielte. Es war wie ein Albtraum, aus dem sie nicht aufwachen konnte.
Die Katzen waren bloß Schatten, zischend und fauchend. Ihre Augen glichen lodernden Flammen. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und ließ kaum genug Licht, um das schmale Band des Flusses zwischen den Grashalmen auszumachen. Ohne die klare Grenze war ein Gewimmel aus Katzen entstanden. Es war schwierig zu sagen, wer zu welchem Clan gehörte.
Zapfenstern hatte ein selbstgefälliges Grinsen aufgesetzt und schien das Chaos zu seinen Pfoten zu genießen.
Als Morgenstern ihm gegenübertrat, verschwand das Grinsen wie ein blasser Sonnenstrahl an einem Blattleere-Tag. „Es wird Zeit zu entscheiden“, knurrte er. „Zur Blattfrische möchte ich wieder in meiner Höhle sein.“
Blattsprenkel fauchte. „Am liebsten würde ich ihm das Fell über sein Gesicht ziehen!“ Die Kriegerin hatte die Muskeln gespannt und sah aus, als wollte sie sich jeden Augenblick auf Zapfenstern stürzen.
Heiliger SternenClan, bitte lass es nicht zu einem weiteren Kampf kommen, flehte Nachtpfote im Stillen.
Die Katzen des WurzelClans waren zweifellos in der Überzahl, und ihre Clangefährten trugen noch die Wunden ihres letzten Gefechts.
Während sie versuchte, ihre Angst zu unterdrücken, hatten die beiden Anführer auf dem Großfelsen begonnen, sich lauernd zu umkreisen. Ein feiner Nieselregen legte sich auf ihr Fell.
Obwohl Zapfenstern sie ein gutes Stück überragte, wich Morgenstern um keine Schnurrhaaresbreite. Ihr Blick flackerte in Messerzahns Richtung, dann schien sie eine Entscheidung zu fassen und straffte die Schultern.
„Ich werde mich deinem Vorhaben nicht anschließen, Zapfenstern“, sagte sie kalt. „Der SternenClan hat seit jeher über uns gewacht, über beide Clans. Ich werde auf unsere Ahnen vertrauen, wie ich es immer getan habe.“
Sie starrte ihn unverwandt an. Ein Blitz brach durch die Wolken und ließ ihren Pelz aufglühen.
Zapfenstern knurrte tief aus der Kehle.
Ein Schauer lief über Nachtpfotes Rücken, als sie sah, wie der braune Kater seinen Kopf senkte und die Krallen ausfuhr. Seine Augen lagen im tiefen Schatten.
„Das ist also dein letztes Wort“, sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Du hast es nicht anders gewollt …“

Notes:

Kommt es zu einem erneuten Kampf zwischen dem Wurzel- und dem BlattClan?
Es scheint unvermeidbar...

Chapter 7: Stärke und Schwäche

Chapter Text

Ihr Herz stockte.
Die Geräusche um sie herum verstummten. Einen Augenblick lang stoppte die Welt. Sie hätte später nicht sagen können, in welcher Reihenfolge die Geschehnisse passiert waren; hätte nicht gewusst, was zuvor, danach oder dazwischen gewesen war.
Zapfenstern flog.
Die Krallen silbern im Mondlicht, die Zähne gebleckt, flog er auf Morgenstern zu. Sein Schrei durchbrach die schwere Stille, die Nachtpfote sekundenlang umgeben hatte.
Gedämpft hörte sie auch Messerzahns Knurren. Von irgendwoher kam ein Jaulen.
„Halt! Der Waffenstillstand!“
Aber das Unheil ließ sich nicht mehr aufhalten.
Mit einem irren Kreischen schlugen sich die zwei Anführer ihre Zähne in den Pelz und fuhren mit den Krallen übereinander her. Von Morgensterns eisiger Ruhe war keine Spur mehr zu sehen. Nun brannte das Feuer des Kampfes in ihren Augen und sie stieß ein gefährliches Grollen aus.
Schreckensschreie erhoben sich auf der Lichtung. Die Krieger des BlattClans fauchten und starrten entsetzt zu den Kämpfenden hinauf. Doch keine einzige Katze, weder aus dem Blatt- noch aus dem WurzelClan, stürmte den Großfelsen hinauf, um ihrem Anführer zu helfen.
Morgenstern war auf sich allein gestellt.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Nachtpfote, wie sich ihre Anführerin gegen Zapfenstern in den Kampf warf. Die goldene Katze wich seinen schnappenden Zähnen aus, rollte zur Seite und ließ ihre Klauen über seine Schnauze fahren. Zapfenstern brüllte. Bevor sie jedoch ein weiteres Mal zuschlagen konnte, rammte ihr Gegner sie mit der Schulter und schlug seine Tatzen auf ihren Rücken nieder. In der nächsten Sekunde hatte er sie auf den Felsen gepresst und bearbeitete ihren Bauch mit den Krallen. Morgenstern jaulte unter Schmerzen, warf sich hoch und grub ihre Fänge tief in Zapfensterns Vorderbein. Noch während der struppige Kater aufschrie, rollte sich die Kätzin herum und befand sich auf einmal über ihm. Nun war sie es, die ihn die Klauen spüren ließ.
Aber Nachtpfotes Erleichterung währte nur kurz. Die WurzelClan-Katzen auf der anderen Flussseite regten sich. Eine Silhouette schob sich den steilen Fels hinauf, den Blick über die Schulter auf ihre Clangefährten geworfen. „Attacke!“, schrie die Gestalt aus voller Kehle. Nachtpfote erkannte Aschenherz' Stimme.
Mit wachsendem Entsetzen sah sie, wie auf seinen Ruf hin weitere WurzelClan-Krieger auf den Großfelsen setzten. Im schwachen Licht erkannte sie Schattenkralle, Bärentatze und Löwenbart, die Aschenherz an die Spitze des Steins folgten, um ihrem Anführer zur Hilfe zu eilen.
Morgenstern hatte ihre Zähne in Zapfensterns rechtes Ohr geschlagen, als sich Bärentatze auf sie stürzte. Mit einem Schrei verlor sie das Gleichgewicht und wurde unter dem graubraunen Kater begraben. Löwenbart und Aschenherz sprangen von den Seiten herbei und drückten die Kätzin auf den Boden, während Schattenkralle ihr Bauchfell mit seinen Klauen bearbeitete. Zapfenstern hatte sich mittlerweile aufgerappelt, stieß Bärentatze zur Seite und versenkte gierig seine Zähne in ihrem Hals.
Nachtpfote schnappte nach Luft, als sie Morgensterns Kreischen hörte. Blut spritzte über den Großfelsen.
Wir müssen ihr helfen!
Als hätte Messerzahn ihre Gedanken gelesen, stieß er einen Kriegsschrei aus, jagte über das Gras und sprang in riesigen Sätzen den Fels hinauf.
„BlattClan, zum Angriff!“, rief Blattsprenkel, preschte vor und folgte ihrem Zweiten Anführer. Nacheinander warfen sich auch Dunkelpelz, Eichelpelz und Nassfuß in den Kampf.
Fleckenfell und Wasserfell blieben mit angelegten Ohren und peitschenden Schwänzen zurück. „Der SternenClan wird zürnen!“, warnte Fleckenfell, doch niemand achtete auf sie.
Nachtpfote verharrte mit zitternden Beinen, ihre Pfoten weigerten sich, auch nur einen Schritt zu tun. Wasserfell schmiegte sich schützend an sie.
Ein Donnergrollen durchschnitt die Nacht und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den schwarzen Himmel. Wolken schoben sich bedrohlich vor die Sterne und schirmten die Lichtung von ihrem schwachen Licht ab.
„Seht! Der Himmel!“, jaulte Fleckenfell panisch. „Der SternenClan wird uns bestrafen!“
Endlich hielten die kämpfenden Katzen inne. Dunkelpelz löste sich von Löwenbart, Blattsprenkel gab eine grauweiße Kätzin frei, die sie in die Mangel genommen hatte. Ängstlich starrten sie nach oben. Ein Blitz schoss über das Firmament, direkt über der Lichtung. Der Donnerschlag war ohrenbetäubend.
Noch bevor er verklungen war, löste das Gewühl auf dem Großfelsen sich auf und eine nach der anderen sprangen die Katzen hastig ins Gras hinab. Ein zweiter Blitz beleuchtete ihre nassen Pelze, bevor die Welt in Finsternis versank.
Nachtpfote kniff die Augen zusammen und stolperte panisch über ihre eigenen Pfoten. Stimmen riefen wild durcheinander. Krieger huschten durch das Gras auf der Suche nach Schutz vor dem Gewitter.
Wieder erklang Donner, noch lauter als zuvor. Einen Moment lang erstarrten die Waldkatzen und blickten erneut in den bewölkten Himmel. Kein einziger Stern war mehr zu sehen.
Messerzahn nutzte die paar Herzschläge, in denen die feindlichen Krieger abgelenkt waren.
„BlattClan, Rückzug! Rückzug!“
Und die BlattClan-Katzen zögerten nicht. Nachtpfote hörte die Halme um sich rascheln, als sie herumwirbelten und ins Unterholz flüchteten. Messerzahn warf sich auf einen WurzelClan-Krieger, bevor der Eichelpelz packen und zurück auf die Wiese zerren konnte. Der rotbraune Kater verschwand gemeinsam mit Fleckenfell zwischen den schwarzen Baumstämmen.
„Nachtpfote!“, gellte Wasserfells Stimme durch die Dunkelheit.
Nachtpfote wirbelte herum und sah Löwenbart mit gefletschten Zähnen auf sich zu rennen. Bevor er sie erreichen konnte, zog Wasserfell sie auf die Beine und stieß sie vorwärts. Mit fliegenden Pfoten hastete sie über die Lichtung, sie rannte bis sie den Boden kaum noch berührte. Silbergraues Fell blitzte in ihrem Augenwinkel auf, als ihre Mentorin sich an ihre Fersen heftete. Kurz darauf tauchte Nachtpfote ins Dickicht und wurde von den Schatten verschluckt.
Die plötzliche Finsternis machte ihr Angst. Die Augen weit aufgerissen, jagte sie durch einen Ginsterbusch, ohne auf die Äste zu achten, die nach ihrem Pelz griffen. Schemenhaft sah sie die flüchtenden Katzen um sich herum und hörte das Knacken von Zweigen unter ihren Tatzen.
Zwischen den Bäumen schallten die Rufe ihrer Feinde. Nachtpfote warf einen hastigen Blick zurück.
Die Krieger des WurzelClans hatten den Waldrand erreicht. Mit höhnischem Gelächter preschten sie durch das Unterholz hinter ihnen her.
„Verschwindet aus unserem Wald!“
„Kommt niemals zurück!“
Eine flinke grauweiße Kätzin hetzte durch das Buschwerk und holte die Flüchtenden rasch ein. Nur noch wenige Schwanzlängen trennten sie von Wasserfells Hinterläufen.
Nachtpfote bekam vor Angst kaum Luft, doch sie spornte ihre Pfoten noch weiter an, bis ihr das Blut in den Ohren rauschte.
Sie dürfen mich auf keinen Fall erwischen! Sie würden mich umbringen!
Nachtpfote konnte nicht sagen, woher sie das Wissen nahm, aber sie war sich ganz sicher.
SternenClan, hilf mir!
Sie schloss die Augen und –
Etwas rammte sie von der Seite. Bevor sie einen Schmerzensschrei von sich geben konnte, prallte sie hart mit der Schulter auf die Erde und überschlug sich zweimal, bis sie benommen liegenblieb. Zittrig japste sie nach Luft. Ihre Lunge fühlte sich an, als hätte eine riesige Pfote sie zusammengedrückt. Kleine Steinchen piksten in ihre Flanke, als sie keuchte und den Kopf hob.
Ein Paar boshaft funkelnder Augen blickte auf sie herab.
Verwirrt schaute Nachtpfote zurück. Die Augen schienen in der Luft zu schweben, umrahmt von Finsternis. Sie brauchte einen Herzschlag lang, bis sie den schwarzen Pelz des Katers ausmachen konnte.
Schattenkralle!
Bevor der feindliche Krieger sie mit den Klauen packen und ihr die Zähne in den Nacken schlagen konnte, rollte sie zur Seite und schnellte auf die Pfoten. Seine Tatze langte gierig nach ihren Hinterläufen, aber sie wand sich aus seinem Griff und rannte ins Dickicht.
Schattenkralle blieb zornig fauchend zurück.
Nachtpfote lief weiter ohne auf ihre schmerzenden Beine zu achten. Ihr Atem ging stoßweise und der Wald zerrte von allen Seiten an ihrem Pelz, doch sie zwängte sich achtlos durch das Gestrüpp, bis sie den schwarzen Kater nicht mehr sehen konnte. Als ihr Herz sich beruhigt hatte, drosselte sie das Tempo, blieb stehen und drehte sich um. Keine Spur von Schattenkralle. Ebenso wenig von Wasserfell.
Durch die Schatten zwischen den Bäumen erhaschte sie flüchtige Blicke auf Katzen, die durch das Unterholz jagten. Es war ihr unmöglich festzustellen, zu welchem Clan sie gehörten.
Die anderen … Ich hoffe, sie sind alle entkommen.
Durch das Prasseln des Regens hörte sie Pfotenschritte und verängstigtes Jammern. Sie spitzte die Ohren. Triumphierendes Jaulen schallte durch den Wald, dicht gefolgt von einem Donnerschlag. Aber da war noch etwas anderes. Als der Donner verhallte, meinte sie, ein fürchterliches Wehklagen zu hören. Nachtpfote reckte die Schnauze vor und suchte das Gebüsch ab.
Da fielen ihr zwei Katzen ins Auge, die durch das Unterholz brachen. Die Größere der beiden lief langsam und schleppend. Ihr Rücken wölbte sich eigenartig, als sie über einen Zweig setzte. Nachtpfote blinzelte. Es schien, als würde sie etwas auf ihrem Rücken tragen. Die Schülerin versuchte, es zu erkennen, aber die Katzen waren bereits verschwunden.
In diesem Augenblick stürzte etwas auf ihren Rücken. Nachtpfote schrie vor Schreck und Schmerz. Reflexartig bäumte sie sich auf und warf den Angreifer ab. Noch in derselben Bewegung wirbelte sie herum und stellte sich ihm entgegen.
Vor ihr im Laub kauerte eine schlanke, grüngraue Kätzin. Mit einem Fauchen schüttelte sie ihren Pelz und sah Nachtpfote an.
Der Schülerin lief ein Schauer über den Rücken, als sie ihren Feind erkannte. Zuletzt hatte sie die Kätzin am Fuß des Großfelsens gesehen, den Kopf im Nacken, die Augen auf Zapfenstern geheftet.
Moospelz. Seine Zweite Anführerin.
Innerhalb eines Herzschlags war Moospelz auf den Pfoten und stürzte sich erneut auf sie. Nachtpfote wollte sich noch zur Seite werfen, da drückte Moospelz' Gewicht sie schon auf den Boden. So sehr sie sich wand und streckte, sie schaffte es nicht, ihre Gegnerin abzuwerfen. Scharfe Zähne schlossen sich um ihre Schulter. Nachtpfote jaulte auf. Rasender Schmerz schoss durch ihren Körper.
Plötzlich durchschnitt ein Kampfschrei die Stille. Laub wirbelte auf und im nächsten Augenblick war das Gewicht von ihr verschwunden.
Fauchen. Körper, die aufeinander schlugen. Nachtpfote blinzelte in die Dunkelheit und drehte den Kopf, um zu erkennen, was da vor sich ging.
Zwei Katzen hatten sich die Krallen in den Pelz gegraben und fielen kreischend übereinander her. Vor dem blassen Mondlicht waren sie nur schwarze Silhouetten. Dreck spritzte auf, als sie sich über die Erde wälzten. Dann löste sich Moospelz von ihrem Widersacher und floh ins Dickicht.
Nachtpfote stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und rollte mit einem Stöhnen auf die Seite. Doch der Waldboden schwankte unter ihr und ihre Schulter protestierte beim Versuch, sie zu belasten.
„Warte, ich helfe dir.“
Als sie die Stimme erkannte, blickte Nachtpfote überrascht auf. Und da stand er; zerzaust, erschöpft, aber seine gelben Augen leuchteten. Erleichterung durchfuhr sie.
Rauchfuß zuckte unbeeindruckt mit den Ohren. „Du brauchst nicht so zufrieden zu schauen. Ich habe dir mein Versprechen gegeben und das werde ich einhalten. Und jetzt komm hoch.“

Chapter 8: Rauchfuß, Borkenfell, Buchenpelz und Birkenschweif

Chapter Text

„Komm.“
Rauchfuß schob seine Schnauze unter Nachtpfotes Flanke und half ihr auf die Beine. Als sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, bewegte sie vorsichtig ihre verletzte Schulter und stellte fest, dass der Schmerz bereits nachgelassen hatte.
„Danke.“ Sie nickte ihm unsicher zu.
Rauchfuß warf einen Blick in das düstere Buschwerk. Regen prasselte auf das Blätterdach und die Baumstämme bogen sich im aufkommenden Wind. „Hier können wir nicht bleiben“, sagte er. „Folge mir.“ Erstaunlich flink wirbelte der alte Kater herum und verschwand in einem Farngeflecht.
Nachtpfote zögerte. Die Schreie der WurzelClan-Krieger waren verstummt, auch aus ihrem eigenen Clan hörte Nachtpfote niemanden mehr. Bei der Vorstellung, was ihnen passiert sein könnte, drehte sich ihr Magen um. Mit einem nervösen Ohrenzucken folgte sie Rauchfuß. Hinter seiner Schwanzspitze her schob sie sich durch die Farnwedel und befürchtete jede Sekunde, erneut von nadelspitzen Klauen getroffen und zu Boden geworfen zu werden.
Nach einer Weile ging Rauchfuß langsamer und blieb stehen. Nachtpfote drückte sich an einem knorrigen Strauch vorbei an seine Seite. „Was ist los?“
Der Älteste spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Dann schien er etwas zu entdecken und deutete mit seiner Schnauze nach vorn. „Ihr könnt herauskommen. Wir sind allein.“
Nachtpfote warf einen scharfen Blick ins Gebüsch. Angst kroch ihr unter das Fell.
Wer ist da? Ist das eine Falle?
Ein Brombeerstrauch zitterte, als drei Katzen mit schimmernden Pelzen in den Mondschein traten. Gelbe Augen blitzten Rauchfuß und Nachtpfote durch die Finsternis entgegen. Die Schülerin wich zurück. Ihre Beine zuckten fluchtbereit.
Rauchfuß schien allerdings nicht beunruhigt zu sein. Er trat den Fremden ohne Zögern gegenüber.
„Rauchfuß?“, fragte eine der Gestalten mit dünner Stimme.
„Mir geht es gut“, antwortete Rauchfuß und begrüßte sie Nase an Nase. Kurz darauf drängten die Katzen sich zusammen und schnurrten erleichtert.
Nachtpfote hielt inne. Unentschlossen fuhr sie die Krallen ein und zwang sich, ihr Fell wieder anzulegen. Stattdessen betrachtete sie die Gestalten genauer. Wie es schien, handelte es sich um drei Kätzinnen. Sie meinte, eine oder zwei von ihnen schon auf vergangenen Versammlungen gesehen zu haben. Die Erste hatte einen rostroten Pelz, über den dunkle Streifen wie Regentropfen liefen. Ihre Bernsteinaugen glühten freundlich im Zwielicht. Ihre Begleiterin war dunkelbraun getigert. Die letzte Katze, die sich unsicher an das Dickicht hielt, hatte graubraunes Fell.
Nachtpfote versuchte noch, sich an ihre Namen zu erinnern, als ein schrilles Maunzen sie zusammenfahren ließ. Ihr Herz stockte kurz. Erst jetzt bemerkte sie die Katzenjunge, die sich ängstlich an Buchenpelz' Beine drückten. Sie sahen furchtbar erschöpft aus und vergruben ihre Nasen Schutz suchend im Fell der braunen Katze.
Junge! Was in SternenClans Namen –
„Nachtpfote“, riss Rauchfuß sie aus ihren Gedanken. Der graue Kater hatte sich umgewandt und deutete mit einem Schwanzschnippen auf die Katze mit dem rostroten Haar. „Das ist Borkenfell.“ Anschließend nickte er in Richtung der braun Getigerten. „Und das Birkenschweif.“ Er drehte seinen Kopf, bis er die graubraune Kätzin im Blick hatte. „Das dort hinten ist Buchenpelz.“
Buchenpelz hatte die Schultern gestrafft und erwiderte misstrauisch Nachtpfotes Blick. Mit einer Pfote zog sie die Jungen näher zu sich heran. Scheu blinzelte Nachtpfote ihr zu. Buchenpelz erwiderte den Gruß.
Rauchfuß brummte zufrieden und peitschte den Schwanz in Nachtpfotes Richtung. „Wir werden dich begleiten“, verkündete er.
Nachtpfote löste ihre Augen von Buchenpelz' Jungen und starrte ihn an. Die Bedeutung seiner Worte setzte sich langsam in ihrem Kopf zusammen. „Wovon sprichst du?“
Rauchfuß runzelte die Stirn und sah sie an, als wäre sie ein Junges, dem man erklären müsste, wie man eine Pfote vor die andere setzt. „Wir teilen Zapfensterns Ansichten nicht und werden uns ihm auch nicht länger beugen. Wie es jetzt steht, haben wir im WurzelClan keinen Platz mehr. Wir begleiten dich zum Fluss – zum BlattClan.“
„Was?“ Nachtpfote schnappte nach Luft. „Du … ihr wollt –?“
„Ich werde nicht zum WurzelClan zurückkehren. Um keinen Preis!“, sagte Birkenschweif. Der Regen presste ihr das Fell an den Körper und betonte die Rippen unter ihrer Haut.
Borkenfell lehnte sich tröstend an ihre Clangefährtin. „Ich auch nicht, Birkenschweif.“
„Ja, aber …“ Nachtpfote blickte von Rauchfuß zu Borkenfell und wieder zurück.
„Wann gehen wir nach Hause?“
Verwundert senkte Nachtpfote den Kopf. Eines der Jungen, eine kleine braune Kätzin, schaute mit großen Augen zu Buchenpelz auf. Sie zitterte am ganzen Körper.
Ihr Bruder schob sich an ihre Seite. „Wir haben Hunger. Wir wollen zurück!“
Buchenpelz beugte sich zu ihren Jungen hinab und fuhr ihnen mit energischen Zungenstrichen über die Köpfe. „Wir werden nicht zurückgehen, meine Kleinen“, flüsterte sie. „Wir müssen uns jetzt ein neues Zuhause suchen.“
Nachtpfote spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch.
„Aber warum denn?“ Jetzt regten sich auch die anderen Jungen. „Wir wollen kein neues Zuhause!“, jammerte eine rostrote Kätzin mit einem weißen Fleck auf der Stirn.
„Still“, sagte Buchenpelz. Ihr besorgter Blick heftete sich auf Rauchfuß. „Wir können nicht länger hierbleiben.“
Rauchfuß wandte sich an Nachtpfote. „Können wir dich begleiten?“, fragte er.
Die Schülerin schluckte. Unschlüssig betrachtete sie Buchenpelz und die Jungen.
Morgenstern wird mir das Fell über die Ohren ziehen, dachte sie. Aber die Jungen … ich kann sie unmöglich im Stich lassen. Verzeih mir.
Sie richtete sich auf. „Ich werde euch zum BlattClan bringen. Euch alle.“
Rauchfuß erwiderte ihren Blick. Einen Augenblick lang sah Nachtpfote ihn wieder vor sich im BlattClan-Territorium, unweit von ihnen das Knurren der WurzelClan-Krieger. „Ich danke dir.“ Der alte Kater neigte seinen Kopf.
„Dann lasst uns jetzt verschwinden“, schnaubte Birkenschweif. „Ich weiß nicht, ob ich meinen Pelz je wieder trocken kriege!“ Sie tappte zu Buchenpelz und hob eines der Jungen behutsam am Nackenfell hoch. Auch Borkenfell und Buchenpelz nahmen jeweils eines der Kätzchen an sich.
Bevor Rauchfuß einen kleinen grauen Kater mit den Zähnen packte, wandte er sich noch einmal an Nachtpfote. „Kannst du uns helfen?“
Mit klopfendem Herzen trat sie näher. Das letzte Junge, das Rostrote mit dem weißen Fleck, war triefnass und jammerte leise. Nachtpfote beugte sich vor und hob es vom Boden auf. Die kleine Kätzin war schwerer als erwartet und zappelte aufgeregt mit den Pfoten. Nachtpfote hoffte, dass sie das Junge sicher bis zur Lichtung am Fluss bringen konnte.
„Alles klar?“, nuschelte Rauchfuß durch das Bündel Fell.
Die anderen nickten zustimmend.
„Also dann.“
Der alte Kater übernahm die Führung. Nachtpfote hielt sich dicht an seine Fersen, ihr folgten Borkenfell und Buchenpelz. Birkenschweif bildete die Nachhut.
Noch immer prasselten Regentropfen durch das Blätterdach, aber der Donner war verstummt und nur vereinzelt erleuchtete noch ein Blitz den Himmel. Der Zorn des SternenClans schien endlich nachzulassen.
Entschlossen bahnte sich Rauchfuß seinen Weg durch das Unterholz. Er schien genau zu wissen, wohin er ging, und führte die Gruppe sicher durch die Dunkelheit. Ein Teil von Nachtpfote befürchtete noch immer, dass sich jeden Moment Moospelz' Krallen in ihren Rücken bohren würden oder dass gar Zapfenstern selbst sich ihnen in den Weg stellen könnte. Aber wie es sich verhielt, waren sie den Feinden nun endgültig entkommen.
Der Mond tauchte aus den Wolken und wanderte über den Himmel, während die fünf Katzen mit ihrer wertvollen Last durch den nächtlichen Wald huschten. Manchmal tauchten sie unter die tiefhängenden Zweige der Büsche oder sprangen über umgestürzte, junge Bäume. Die ganze Zeit über hatte Nachtpfote den warmen Milchgeruch des Jungen in der Nase und spürte sein weiches Fell im Maul. Das kleine Wesen hatte bald aufgehört zu zappeln und Nachtpfote konnte nur hoffen, dass ihm nichts fehlte.
Weil sie aus ihren Fehlern gelernt hatte, achtete sie streng auf ihre Umgebung und verließ sich dabei sowohl auf ihre Augen als auch auf ihr scharfes Gehör. Wegen des Jungen konnte sie allerdings kaum etwas anderes riechen und witterte die Grenze des BlattClan-Territoriums deshalb erst kurz bevor die kleine Gruppe sie erreichte.
Nachdem sie sie überquert hatten, dauerte es nicht lange, bis sie den Fluss in der Ferne sprudeln hörten. Rauchfuß folgte dem verräterischen Wispern, bis er das Wasser erreichte, in dem sich verschwommen und verzerrt der Mond spiegelte. Wind rauschte durch die Blätter der Bäume, zupfte sie von den Ästen und trieb sie hinunter in den nassen Strom. Während des Weges beobachtete Nachtpfote, wie sie immer schneller über das Nass schaukelten und mit den Katzen Schritt hielten, als lieferten sie ihnen einen spielerischen Wettlauf.
Nachdem sie dem Fluss eine Weile gefolgt waren, öffnete sich der schwarze Wald zu jener Lichtung, die Nachtpfote in den letzten Tagen so unfreiwillig vertraut geworden war. Sie atmete auf, als sie vor dem dämmrigen Himmel die Silhouetten ihrer Clangefährten entdeckte.
Die Erleichterung hielt jedoch nicht lange an. Noch bevor sie ihre Freunde erreicht hatte, spürte sie deutlich, dass etwas nicht stimmte. Etwas war … anders.
Rauchfuß blieb stehen. Besorgt drehte er sich zu Nachtpfote um.
Die junge Katze tappte an seine Seite und setzte vorsichtig das Junge, das sie getragen hatte, ins Gras. Einen Augenblick lang lag es still da und sie befürchtete das Schlimmste. Dann streckte es seine Nase in die Luft und nieste leise. Es war noch so winzig, hatte bestimmt erst vor Kurzem seine Augen zum ersten Mal geöffnet. Nachtpfote wusste, dass es so schnell wie möglich eine trockene und warme Umgebung brauchte.
Rauchfuß setzte das Junge, das er trug, neben die rostrote Kätzin, kurz darauf traten Borkenfell und Birkenschweif hinzu. Als Letztes tauchte Buchenpelz aus dem Dickicht. Sie und Borkenfell nahmen ihre Jungen zu sich und drückten ihnen tröstend die Schnauzen ins Fell.
Nun, da Nachtpfote die Jungen in Sicherheit wägte, wurde ihr der Lärm bewusst, der auf die Lichtung brandete – Stimmen, unterbrochen von heftigem Fauchen. Mit zuckenden Ohren schaute sie auf.
Die Laute rührten von den Katzen des BlattClans her.
Nachtpfotes Clangefährten hatten sich allesamt unter dem bleichen Mond versammelt. Viele von ihnen hockten im nassen Gras, die Schnauzen wie betäubt in den Regen gestreckt, und schienen von der Welt um sich herum kaum Notiz zu nehmen. Andere staksten rastlos und mit peitschenden Schwänzen umher. Im Zentrum des Geschehens standen sich mehrere Krieger mit gesträubten Pelzen gegenüber. Nachtpfote hörte sie hitzig aufeinander einreden. Krallen wurden gezückt, Zähne blitzten auf, aber sie alle konnten das furchtbare Geräusch nicht übertönen, das wie ein schwerer Schleier über der Lichtung hing und die Katzen erstickte.
Es war dieses Wehklagen.
Nachtpfote stürzte vor. Sie hatte ihre Clangefährten allerdings noch nicht erreicht, als Messerzahn ihr entgegenkam. Sobald er das Geräusch ihrer Pfotenschritte hörte, wirbelte er herum und starrte sie an.
„Nachtpfote! Dem SternenClan sei Dank, du bist unverletzt!“
„Mir geht es gut“, versicherte sie.
Erleichtert beugte der Zweite Anführer sich zu ihr herab. „Jetzt sind wir alle hier“, sagte er. „Du warst die Letzte, die noch fehlte. Ich wollte gerade einen Suchtrupp …“ Er verstummte. Sein Blick glitt über Nachtpfotes Schulter und richtete sich auf etwas hinter ihr.
Erschrocken sah sie, wie seine Augen sich zu gelben Schlitzen verengten. Ein Grollen regte sich tief in seiner Brust. Wie der Blitz schoss Messerzahn um sie herum und stieß ein bedrohliches Fauchen aus.
Nachtpfote beobachtete bestürzt, wie er sich vor den WurzelClan-Katzen aufbaute, die sich am Rand der Lichtung ins Gras gekauert hatten. „Bei meinen Krallen und den Schnurrhaaren!“, fuhr der goldbraun getigerte Kater Rauchfuß an. „Was habt ihr hier zu suchen?!“
Der Älteste legte die Ohren an und schob sich schützend vor Buchenpelz und ihre Jungen. Sein Fell blieb glatt, er hatte die Klauen eingefahren. Nachtpfote bewunderte ihn für seinen Mut.
Messerzahn hat alles Recht, zornig zu sein. Aber diese Katzen brauchen unsere Hilfe!
Mit klopfendem Herzen trat sie näher.
„Wir kommen in Frieden“, sagte Rauchfuß mit fester Stimme. Er bemühte sich sichtlich um einen ruhigen Tonfall.
Messerzahn schnaubte nur und peitschte mit seinem Schwanz. „Und was wollt ihr?“, fragte er schließlich abweisend.
Rauchfuß zögerte und warf Nachtpfote einen Blick zu. Dann schien er eine Entscheidung zu fassen. „Mir ist bewusst, dass du uns nicht mit offenen Pfoten empfängst. Nicht nach allem, was geschehen ist.“ Seine Augen waren dunkel. „Aber nicht jeder seiner Krieger teilt Zapfensterns Meinung. Ich weiß, dass seine Taten falsch sind. Es ist falsch, das Gesetz der Krieger zu brechen und unseren Ahnen den Rücken zu kehren. Es ist das Gesetz, das uns zu Kriegern macht und unsere Gemeinschaften zu Clans.“ Rauchfuß richtete sich auf und sah den Zweiten Anführer direkt an. „Und deshalb bitten wir dich, uns aufzunehmen, denn zum WurzelClan werden wir nicht zurückkehren.“
Auf seine Worte hin schwieg Messerzahn eine ganze Weile. Nachtpfote zählte ängstlich ihre Herzschläge.
Dann schüttelte der massige Kater zweifelnd den Kopf. „Hier ist kein Platz für euch“, knurrte er.
Nachtpfote setzte zum Sprechen an, aber Borkenfell kam ihr zuvor. Die dünne Katze tappte vor, ihr rostroter Pelz schimmerte sacht im Mondlicht. Regen tropfte von ihren Flanken. „Wenn ihr uns nicht aufnehmen wollt, verstehe ich das. Aber bitte sorgt für unsere Jungen. Sonst werden sie sterben!“ Aus ihrer Stimme sprach echte Verzweiflung. Mit einer Pfote schob sie ein braun getigertes Fellbündel zu Messerzahns Tatzen.
Schweigend blickte der Zweite Anführer auf das Junge herab. Es bewegte sich kaum noch. Nachtpfote hoffte inbrünstig, dass es noch lebte.
„Lass sie bleiben, Messerzahn.“
Erst als sie Kieselschweifs Stimme hörte, bemerkte die Schülerin, dass sich mehrere Katzen aus dem BlattClan genähert hatten und das Gespräch zwischen Messerzahn und den Neuankömmlingen verfolgten. Sie konnte weder Tannenpfote noch einen der anderen Schüler entdecken, aber sie hatte nicht die Kraft, nach ihnen zu suchen.
Kieselschweif blieb neben Nachtpfote stehen. „Siehst du nicht, dass diese Katzen einen Unterschlupf brauchen? Die Jungen müssen völlig durchnässt und halb erfroren sein.“ Die graublaue Kriegerin schnippte energisch mit dem Schwanz, wobei sie ein paar Regentropfen durch die Luft schickte.
Messerzahn drehte sich zu ihr um. Dabei fiel sein Blick auf Nachtpfote. Die Schülerin schluckte, als sie sah, wie seine Augen schmal wurden.
„Du hast sie hergebracht, nicht wahr?“
Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Sie nickte beklommen.
Habe ich einen Fehler gemacht?
Seine Miene war nachdenklich. „Traust du ihnen?“, fragte er schließlich.
Nachtpfote kribbelte vor Überraschung und Nervosität das Nackenfell. Lag Messerzahn tatsächlich etwas an ihrer Meinung? „Ja, ich glaube schon“, erwiderte sie. „Rauchfuß hat sich gegen seine eigenen Clangefährten gestellt, um mir das Leben zu retten.“
Unglaube huschte über das Gesicht des Zweiten Anführers. Dann senkte er den Kopf und schien seine Möglichkeiten abzuwägen.
Rauchfuß nickte Nachtpfote dankbar zu.
„Gut, ihr dürft bleiben“, bestimmte Messerzahn. „Vorerst.“
Auf seine Worte hin atmete Nachtpfote erleichtert auf. Es war, als würde ein Gewicht von ihren Schultern fallen.
Wie auf ein stilles Kommando traten Kieselschweif und Blattsprenkel vor und begrüßten die WurzelClan-Katzen. Gemeinsam trugen sie die fünf Junge über die Lichtung zum Bau der Königinnen, um ihnen einen trockenen Unterschlupf zu suchen. Nachtpfote entgingen nicht die feindseligen Blicke, die manche ihrer Clangefährten den Besuchern nachschickten. Aber keiner von ihnen wagte es, Messerzahns Entscheidung zu widersprechen. Dreckpelz, der Heiler, folgte den Kätzinnen, vermutlich um sich einen Überblick über den Zustand der Jungen zu verschaffen.
Nur Rauchfuß blieb bei Messerzahn zurück. Die beiden Kater standen sich noch immer gegenüber.
Nachtpfote beobachtete sie beunruhigt.
Schließlich peitschte Rauchfuß mit dem Schweif und trat zurück. „Ich danke dir, Messerzahn. Wir stehen in eurer Schuld.“
Messerzahn seufzte resigniert und wandte sich ab. „Wir werden jede Hilfe gebrauchen können“, brummte er, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
Erschrocken folgte Nachtpfote dem Tigerkater mit den Augen, als er Wolkenschweif und Hellpelz zu sich winkte. „Stellt sicher, dass sie die einzigen WurzelClan-Katzen in der Gegend sind“, befahl er. Dann schritt er durch das regennasse Gras davon. So niedergeschlagen hatte Nachtpfote ihn noch nie gesehen. Sein Kampfgeist von vorhin schien völlig ausgelöscht.
„Nachtpfote!“
Eine warme, graue Nase berührte sie am Kopf. Unwillkürlich stieg ein Schnurren in ihr auf, als Wasserfell sich an sie drückte. Einen Moment lang zählte nur ihre tröstliche Berührung und das Chaos um sie herum verstummte.
„Es tut mir so leid“, sagte die Kriegerin und nahm Nachtpfote in Augenschein. „Wo bist du gewesen? Bist du verletzt?“ Sie bemerkte die Wunde an ihrer Schulter, wo Moospelz sie gebissen hatte. „Du solltest damit zu Dreckpelz gehen.“
Nachtpfote starrte auf ihre Schulter. Sie blutete kaum. „Ich bin okay“, murmelte sie.
„Nichts ist okay“, widersprach Wasserfell. Sie klang aufgewühlt.
„Ich konnte dich nicht beschützen, Nachtpfote.“ Sie rückte zur Seite, um ihre Schülerin anzusehen. „Morgenstern hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Dem SternenClan sei Dank, dass es dir gut geht.“
Nachtpfotes Kehle war wie zugeschnürt. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, sich in Wasserfells Pelz zu verkriechen und die Augen nicht mehr zu öffnen. Aber die Stimmen, das Wehklagen; es schmerzte in ihren Ohren.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie, wagte kaum, es auszusprechen.
Wasserfell seufzte. Statt zu antworten, rappelte sie sich auf die Pfoten und schnippte mit dem Schwanz, zum Zeichen, dass die schwarze Katze ihr folgen sollte.
Mit einem flauen Gefühl tappte Nachtpfote hinter ihrer Mentorin her durch die Katzenmenge zur Mitte der Lichtung. Tropfen prasselten auf den Boden und trieben sie vorwärts. Die Schülerin ließ ihren Blick über die Gesichter der Krieger schweifen, die sie in der Dunkelheit ausmachen konnte. Hinter dem Wasserschleier wirkten sie wie die Masken von Toten. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Manche ihrer Clangefährten starrten ins Leere, das Entsetzen hatte sich in ihre Gesichter gegraben. Ihre Augen sprachen von Leid.
Nachtpfote spürte, wie sich eine Kralle um ihr Herz legte. Sie war so erschüttert, dass sie beinahe mit Wasserfell zusammenstieß.
Die graue Katze war stehengeblieben und hatte den Kopf gesenkt.
Nachtpfotes Blick huschte über das Gras – und die Erkenntnis traf sie wie ein Tatzenhieb. Mit einem Schlag verstand sie die verzweifelten Gesichter der Krieger, begriff ihr hoffnungsloses Klagen.
Ihr Herz stolperte, als sie die kleine Gestalt entdeckte, die auf das silberne Gras gebettet war.
Morgenstern. Sie rührte sich nicht.

Chapter 9: Traum

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Der Eulerich war die ganze Nacht unterwegs gewesen. In den frühen Morgenstunden machte er sich schließlich mit schweren Flügelschlägen auf den Rückweg zur Baumhöhle. Während der kalten Dämmerung, wenn noch der erste Himmelsschleier die Ankunft der Sonne verkündete, lag etwas Geheimnisvolles in der Luft. Der Eulerich fühlte es in den Federspitzen und tief in seinem Innern. Energisch schlug er seine Schwingen und glitt durch die schattenbefleckten Baumstämme. Auf einer Lichtung zog er hoch und jagte über die grauen Wipfel hinweg, bis seine Federn die niedrigsten Wolken streiften.
Die Sonne lugte bereits über den Horizont. Ikarus kniff die Augen zusammen und flog schneller.
Es ist schon spät. Viel zu spät.
Die Ratte baumelte in seinem Schnabel, als er eine scharfe Kurve um eine Tannenspitze flog.
So ungern er die Jungeulen über Nacht alleine ließ, so blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Jemand musste für ihr Fressen sorgen und seit ihre Mutter kurz nach dem Schlüpfen der Eier einem Nachtjäger zum Opfer gefallen war, lag die Verantwortung nun schwer in seinen Krallen. Und Beute war rar.
Die Sonne kroch ein Stückchen höher und streckte ihre Finger aus, um den Morgentau auf den Waldwiesen zu trocknen.
Ikarus näherte sich dem Wipfel der heimatlichen Tanne. Ihre Nadeln zitterten im Wind. Da hörte der Eulerich ein Geräusch. Er lauschte. Ein verräterisches Rascheln auf dem Waldboden. Ohne zu zögern schoss Ikarus herab, drehte eine Schleife und erfasste die Maus im feuchten Gras. Er schoss vor und packte sie, bevor sie reagieren konnte. Das Tier war schon tot, als er seinen Schnabel in das weiche Fell stieß.
Erleichtert holte Ikarus Luft und musterte die wohlgenährte Maus. Sie war erst sein zweiter Fang diese Nacht. Satt würde sie die Jungeulen zwar nicht machen, aber den schlimmsten Hunger sollte sie stillen. Er warf einen Blick auf die dünne Ratte, die er bei dem Sturzflug auf die Maus ins Laub hatte fallen lassen, und beschloss, sich selbst nur wenige Bissen davon zu nehmen, damit mehr für seinen Nachwuchs übrig blieb. Rasch hob er beide Beutestücke auf und flog weiter.
Als Ikarus die Tanne erreichte, ertappte er Sylph, Nova und Jib dabei, wie sie auf dem Ast vor dem Nest ihre Flügel probten. Mit fröhlichem Kichern warfen sie sich in die Luft und flatterten auf einen der Nachbaräste, der unter ihrem Gewicht gefährlich schwankte. Dabei wetteiferten sie miteinander, wer als Erstes die Borke des schwankenden Astes berühren und wieder auf dem Platz vor der Baumhöhle landen konnte.
Als die Jungeulen ihren Vater entdeckten, sammelten sie sich hüpfend vor Aufregung vor dem Loch.
Ikarus ließ sich neben ihnen auf die Rinde fallen. „Ihr sollt doch im Nest bleiben!“, sagte er, sobald er die Beute abgelegt hatte. Seine schwarzen Augen funkelten.
„Aber wieso?“, fragte Sylph.
Der Eulerich blickte die Drei der Reihe nach streng an. „Es ist hier draußen nicht sicher für euch, solange ihr noch nicht fliegen könnt. Einer mit Zähnen hätte euch holen können. Oder ein Raubvogel.“ Er breitete seine Schwingen aus und scheuchte die Jungeulen in die Baumhöhle.
„Ihr hättet tot sein können!“
Widerwillig flatternd drängten sich die kleinen Vögel durch das Astloch. Sylph protestierte laut.
„Ich weiß“, seufzte Ikarus. „Aber da draußen gibt es Gefahren, von denen ihr nicht die geringste Ahnung habt. Geht ins Nest, es ist spät. Ich habe eine Maus für euch.“
Damit schlichen die Kleinen in ihr Nest, nach wie vor mit enttäuschten Gesichtern.
Ikarus schnalzte und schüttelte besorgt seinen Kopf.
Das wird noch schwierig werden.
Er nahm die toten Fellwesen vom Ast und folgte seinem Nachwuchs in die warme Höhle. Dort warf er den Jungeulen das Fressen zu und ließ sich im Moos nieder.
Gedankenverloren begann er, sich mit dem Schnabel durch seine Schwungfedern zu nesteln.
Keiner von ihnen sah den großen, schwarzen Vogel, wie er sich aus einem nahe gelegenen Baum erhob, von dem aus er die Jungeulen beobachtet hatte, und mit einem bösartigen Schrei das Weite suchte.

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Sie lag auf dem Boden, völlig durchnässt. Das Fell klebte an ihrem Körper. Regen lief durch ihr Haar bis auf die Haut und wusch den Schmutz heraus. Viel zu klein wirkte die Kätzin inmitten des raschelnden Grases, jede ihrer Rippen stach hervor und sie hatte die Augen geschlossen.
Im ersten Licht der Morgendämmerung glänzte das Blut, das ihren Körper sprenkelte. So viel Blut.
In blankem Entsetzen starrte Nachtpfote auf die zusammengesunkene Kätzin herab. Sie spürte jeden Herzschlag auf der Zunge.
„Sie hat eines ihrer Leben verloren.“
Messerzahn trat neben sie, die Augen schmal vor dem Regen oder vor Trauer; Nachtpfote vermochte es nicht zu sagen.
Elsterkralle, die dicht neben Morgenstern kauerte und ihre Schnauze in das goldene Fell presste, hob den Kopf. Als sie Rauchfuß entdeckte, der Wasserfell und Nachtpfote wohl über die Lichtung gefolgt war, wurde ihr Blick hart.
„Verschwinde von hier! Siehst du nicht, was dein Clan getan hat?!“
Rauchfuß zuckte zurück und einen Augenblick lang sah Nachtpfote den Schmerz in seinen Augen. Unwillkürlich verspürte sie den Drang, ihn zu verteidigen. Bevor sie sprechen konnte, meldete sich Mottenfuß rechts von ihnen zu Wort.
„Rauchfuß und diese Königinnen scheinen ebenso ihr Zuhause verloren zu haben wie wir. Du solltest sie nicht verantwortlich machen für das, was geschehen ist, Elsterkralle.“
Der BlattClan-Älteste neigte auf seine für ihn so typische ruhige Weise den Kopf, die Elsterkralle dazu brachte, ungehalten zu schnauben und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Pflege von Morgensterns Fell zu richten.
Rauchfuß senkte taktvoll den Kopf und zog sich unter ein nahegelegenes Ginstergestrüpp zurück. Dabei schritt er an den Gruppen zusammengekauerter BlattClan-Katzen vorbei, die sich um ihre Anführerin versammelt hatten.
Nassfuß, Tintenherz und Hellpelz saßen dicht an dicht, nur wenige Katzensprünge neben Feuerpelz, dessen Kopf tröstend auf Fleckenfells Rücken lag. Die Schüler waren bei ihnen, Klettenpfote hatte den Schwanz um Tannenpfote geschlungen.
Nachtpfote konnte sich nicht rühren. Ihr Blick hatte sich in den Spuren des Regens verfangen, die er in Morgensterns Fell zeichnete, in den Blutwirbeln, die er über ihren Körper ins Gras spülte. Ein großer Teil ihres Rückens und ihrer Kehle waren schwarz vom Blut.
Nachtpfote war sicher, dass sie nicht mehr atmete.
Morgenstern – immer stark und unerschütterlich – wirkte auf einmal so klein und verletzlich.
Was ist, wenn sie nicht mehr aufwacht? Wenn es tatsächlich ihr letztes Leben war? Dann verliert der Clan sie für immer.
Nachtpfote wurde schlecht.
Als die goldene Katze ihren Platz als Anführerin des BlattClans eingenommen hatte, war Morgenstern, wie es die Tradition vorschrieb, zum Mondstein gewandert, um vom SternenClan das Geschenk der neun Leben zu erhalten. Dieses Geschenk, das der SternenClan einem jeden Clanführer gewährte, gab ihnen Kraft für die Aufgabe, ihre Krieger mit voller Hingabe zu führen und zu schützen. Damit wohnte Morgenstern und auch Zapfenstern eine Macht inne wie keiner anderen Katze im Wald.
Aber wie viele Leben hatte Morgenstern zum Wohl ihres Clans bereits gegeben? Wie viel hatte sie geopfert, um dem Vertrauen gerecht zu werden, das ihre Kriegerahnen in sie setzten?
Morgenstern war schon lange vor Nachtpfotes Geburt Anführerin des BlattClans gewesen und auch viele der Krieger hatten niemals eine andere Katze an der Spitze gesehen.
Jetzt stand Nachtpfote da und starrte auf ihre gekrümmte Gestalt hinunter.
Messerzahn war noch immer neben ihr. Mit schweren Schritten trat er an Morgensterns Körper und setzte sich zu ihr. „Sie wird aufwachen“, sagte er mit fester Stimme. „Sie muss.“ Sein Tonfall ließ keine Zweifel zu.
Plötzlich zuckten Morgensterns Pfoten und ihre Flanke bebte. Ein starker Windzug peitschte über die Lichtung und bürstete ihr blutbeflecktes Fell gegen den Strich. Elsterkralle wich nach hinten.
Nachtpfote zuckte zurück, als sich die Augen der toten Kätzin öffneten. Im Licht des Mondes waren sie wie in Silber getaucht. Erleichterung überschwemmte sie und machte ihre Knie weich.
„Messerzahn … Ich habe ein weiteres Leben verloren,“ waren Morgensterns erste Worte. Ihre Stimme klang brüchig. Mühsam versuchte sie sich aufzurichten, die Hinterbeine suchten kraftlos nach Halt auf dem glitschigen Gras.
Messerzahn war sofort an ihrer Seite und stützte sie an der Schulter. „Ich bin da“, raunte der Zweite Anführer so sanft, wie Nachtpfote ihn noch nie hatte sprechen hören. „Wir sind alle entkommen.“
Morgenstern lehnte sich schwer an seine Flanke, ihr Blick glitt rasch über die versammelten Katzen.
Als die Mitglieder des BlattClans sahen, dass ihre Anführerin aufgewacht war, kamen sie auf die Pfoten und näherten sich mit aufgerichteten Ohren und hoffnungsvollem Murmeln. In den toten Gesichtern, die Nachtpfote eben gesehen hatte, erwachte neues Leben.
Morgenstern begrüßte ihre Clangefährten mit einem Schwanzschnippen. Ihre Kehle war blutgetränkt, aber der SternenClan hatte die tödliche Wunde geschlossen. Mit Messerzahns Hilfe stand sie schon wieder recht sicher auf den Beinen. Ihr Blick war so intensiv, dass es Nachtpfote fast unwirklich erschien, dass sie nur wenige Momente zuvor befürchtet hatte, diese Augen könnten sich vielleicht niemals wieder öffnen.
In dieser Sekunde verengten sie sich zu blauen Schlitzen. Morgenstern hatte Rauchfuß entdeckt. „Was hat er hier zu suchen?“, verlangte sie zu wissen.
Die Aufmerksamkeit der Katzen richtete sich auf den WurzelClan-Ältesten im Schatten des Ginstergestrüpps. Manche der Gesichter waren neugierig, andere offen feindselig. Der graue Kater bewegte sich keine Mäuselänge und erwiderte Morgensterns Blick herausfordernd, aber nicht unfreundlich.
Rasch berichtete Messerzahn, was vorgefallen war.
Morgensterns Miene wurde nachdenklich, als sie Rauchfuß' Geschichte hörte, aber sie unterbrach ihren Stellvertreter nicht. Als er verstummte, legte sich Stille über die Lichtung. Die Pelze der Katzen knisterten vor Anspannung. Nachtpfote spürte das Misstrauen ihrer Clangefährten wie spitze Krallen in der Luft. Einige Augen richteten sich auch auf sie. Messerzahn hatte ihren Namen in seinem Bericht zwar weitestgehend ausgelassen, aber mehrere Krieger hatten gesehen, wie der Älteste und die Königinnen des WurzelClans Nachtpfote auf die Lichtung gefolgt waren. Mit einem unangenehmen Gefühl in der Brust starrte sie auf ihre Tatzen.
„Ich verstehe“, sagte Morgenstern schließlich und brachte die Schülerin dazu, ihren Kopf wieder zu heben.
„Rauchfuß, ich gestatte dir und deiner Begleitung, vorläufig bei uns zu bleiben.“ Die goldene Katze peitschte mit dem Schwanz ohne auf das protestierende Raunen und Flüstern zu achten, das sich unter einigen der Anwesenden erhob. Stattdessen sandte sie Streifenfell und Blütenwind ein Zeichen. „Bitte seht zu, dass ihr im Wald trockenes Moos findet und bringt es her. Wir müssen Buchenpelz' und Borkenfells Junge wärmen.“
Ohne zu zögern tauchten die beiden ins Dickicht. Kurz darauf verklangen ihre Schritte unter dem Rauschen der Regentropfen. Anschließend schickte Morgenstern zwei Krieger zu der provisorischen Kinderstube, wo Tupfenfell und Schwarzgesicht den Kätzinnen des WurzelClans und ihren Jungen Platz gemacht hatten. Schwarzgesicht schien bereits gut mit den Besuchern auszukommen. Die beiden Krieger, Wolkenschweif und Dunkelpelz, brachten den Neuankömmlingen einen Teil vom Frischbeutehaufen und halfen bei der Anfertigung ihrer Nester. Dunkelpelz blickte allerdings recht finster drein.
Anscheinend mag er unsere Gäste nicht sonderlich, dachte Nachtpfote. Er wird sich wohl damit abfinden müssen.
Sie selbst war mehr als dankbar für Morgensterns Entscheidung. Heute Nacht würden die Jungen einen sicheren Unterschlupf haben.
Nachtpfote sah auf. Ein einzelner Stern hing am Himmel und sandte sein verblassendes Licht in die Dämmerung.
Genau wie wir, dachte sie.

 

In dieser Nacht schlief Nachtpfote schlecht.
Silbriges Mondlicht und geschärfte Krallen wanderten durch ihre Träume; Pfützen aus Blut, die um ihre Pfoten spülten, nach ihren Beinen langten und ihr über den Rücken schwappten, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Panisch strampelte sie, um sich zu befreien, aber die zähe schwarze Flüssigkeit zog sie immer tiefer, um ihre Schnauze zu bedecken und sie zu ersticken. Fürchterliches Wehklagen zerriss Nachtpfote die Ohren und sie fuhr aus dem Schlaf.
Ihr Herz pochte so heftig, dass es wehtat. Mit steifen Muskeln zog sie sich aus dem Nest und starrte zwischen den Zweigen auf die mondbeschienene Lichtung hinaus. Das schmerzhafte Heulen noch in den Ohren, ließ sie ihren Blick über die Körper ihrer schlafenden Clanmitglieder streifen. Erleichterung machte sie fast schwindelig, als sie sah, dass es ihnen gut ging.
Im Schutz der Farnwedel unter dem Weißdorn waren die Krieger dicht zusammengedrängt, nicht unweit des Haselstrauchs, unter dem sich die Königinnen jetzt vermutlich um ihre Jungen gerollt hatten. Es war fast Mondhoch. Sicherlich war eine Patrouille unterwegs und zwei Wachposten schlichen durch das Unterholz, um nach nächtlichen Gefahren zu spähen.
Nachtpfotes Blick fiel auf Tannenpfote. In sein Moosnest gerollt, lag er nur wenige Pfotenschritte entfernt. Sein Rückenfell berührte den braunen Pelz seines Bruders Klettenpfote. Der Anblick erfüllte sie mit Ruhe und Nachtpfote drehte sich einmal im Kreis, bevor sie sich wieder zurück auf ihren Schlafplatz sinken ließ.
Es dauerte jedoch lange, bis die Gedanken der schwarzen Kätzin versiegten und noch länger, bis sie schließlich wieder einschlief. Als sich ihre Augen endlich schlossen, verblassten die Sterne schon im ersten Morgenlicht und sie fiel in einen seltsamen Traum.
Sie stand in einem Feld voll wogendem Gras. Dunkelgelbe Halme bogen sich mit dem Wind, streiften ihre Flanken und piksten ihre Haut. Langsam tappte Nachtpfote durch die warme Sonne voran, der Boden federte unter ihren Ballen. Die Ebene schien kein Ende zu haben. Und doch war sie erst wenige Schritte gelaufen, als sie erschrocken innehielt. Ein paar Katzenlängen voraus stürzte die Erde in einer tiefen Felsklippe hinab. Am Rand des Abgrunds erhob sich eine abweisende, knochige Kiefer. Ihr Stamm glühte rot im Schein der untergehenden Sonne, er schwankte und knarrte gefährlich im Wind.
Nachtpfote zuckte zusammen, als ihre Pfoten kalten Stein berührten. Vorsichtig schlich sie in den Schatten der Kiefer, um einen Blick über die Felskante zu wagen. Ein mulmiges Gefühl regte sich in ihrem Bauch, als sie über der Klippe stand. Fast senkrecht fiel der Fels, bestimmt vierzig Sprünge tief, bis in ein Tal hinunter. Ein Fluss bahnte sich dort unten seinen Weg durch die Wiese. Wie eine schillernde Schlange wirkte er.
Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?
Sie trat zurück, die Krallen fest auf den Stein gepresst. Irgendwo über ihr schrie ein Vogel. In dem Moment strich ihr ein angenehmer Duft um die Nase. Das Gras hinter ihr raschelte.
Nachtpfote fuhr herum und erschrak. Neben ihr stand eine Katze.
Es war eine Kätzin; schlank, klein, mit drahtigem, kastanienbraunem Fell. Ihre Augen waren so blau wie der Himmel über ihrem Kopf. Nachtpfote zuckte irritiert mit den Ohren. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Fremde genauer. Etwas an ihr kam der Schülerin bekannt vor, fast vertraut. Die Kontur ihres Körpers, die Art, wie sie die Schnauze reckte und den Schwanz um die Hinterpfoten ringelte. Noch während Nachtpfote sie anstarrte, wandte die braune Katze sich um und erwiderte den Blick.
Nachtpfote schnappte nach Luft. Sie kannte diese Augen, strahlend blau mit den dunklen Flecken. Erinnerungen zuckten durch ihren Kopf – eine sanfte Stimme, warmer brauner Pelz an ihre Seite geschmiegt. Da war etwas, ganz tief in ihrem Innern. Und plötzlich hatte sie es gepackt.
„Wolke?“, flüsterte sie.
Die Kätzin antwortete nicht. Sie hatte sich wieder abgewandt und betrachtete das Tal zu ihren Pfoten.
Aber Nachtpfote war sich jetzt sicher. „Wolke!“, sagte sie.
Eine Windböe fegte über das Feld und wühlte durch Wolkes Fell. Sie schien sich aufzulösen. Das Abendlicht brach durch ihr gesträubtes Haar und Nachtpfote konnte die Felsen, auf denen sie saß, durch ihren Körper schimmern sehen. Als die Kätzin sich umdrehte, verblasste das tiefe Blau ihrer Augen, aber ihre Stimme war klar.
„Nacht wird die Tage retten …“, wisperte sie so leise, dass sie kaum zu hören war, aber mit einer Intensität, dass Nachtpfote zurückzuckte.
Die Sonne erstarb unter einem rabenschwarzen Schleier, der mit bösartigem Grollen über das Feld rollte. Halm um Halm tauchte in den Nebel, gierig breitete sich die Dunkelheit über die Ebene in Nachtpfotes Richtung aus.
„Was bedeutet das?“, fragte sie entsetzt. „Was meinst du damit?!“
Doch bevor Wolke antworten konnte, griff der Schleier nach ihrem Pelz und hüllte ihn ein. Das Letzte, was Nachtpfote von ihr sah, waren die dunkelblauen Kreise ihrer Augen, dann versank alles in Finsternis.
Mit einem Ruck wachte Nachtpfote auf.
Die Äste schwankten über ihrem Nest, als sie sich auf die Seite drehte und sich den Schlaf aus dem Kopf schüttelte. Die Schülerin brauchte einige Herzschläge, bis sie wusste, wo sie war.
Frühes Morgenlicht fiel auf die Lichtung. Die Vögel hatten begonnen zu singen. Es würde nicht lange dauern, bis auch die anderen Schüler erwachten. Tannenpfote zuckte mit den Pfoten, als könnte er jeden Moment die Augen öffnen.
Unruhig sank Nachtpfote zurück ins Nest. Ihr kribbelte das Fell, während sich die Reste ihres Traumes allmählich auflösten. Das beständige Rauschen des Flusses und das leise Schnarchen ihrer Gefährten entspannten sie ein wenig. Nun, da die Eindrücke des Traums verblassten, normalisierte sich auch ihr Herzschlag wieder. Nachtpfote atmete tief durch und drehte sich auf die andere Seite.
War das eine Prophezeiung? Ein Zeichen des SternenClans?
Sie zögerte. Bedeutete das, Wolke war tot? Und wenn dem so war, jagte sie tatsächlich in den Jagdgründen des SternenClans? Sie wusste es nicht. Sie hätte nicht sagen können, woher sie die Gewissheit nahm. Doch in diesem Augenblick spürte sie, dass es eine Prophezeiung war, so klar und hell wie die Sterne am Himmel.
Was soll sie bedeuten?
Sie ließ ihren Blick über die Katzen schweifen, die bereits auf der Lichtung unterwegs waren, bis er an Dreckpelz hängen blieb. Der dunkelgraue Kater besah sich Morgensterns Wunden. Geschickt tauschte er einen Verband an ihrer Schulter.
Heiler bekommen Träume und Zeichen vom SternenClan, dachte Nachtpfote. Jedenfalls hat Wasserfell das gesagt …
Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Pfoten.
Aber ich bin kein Heiler.
Eine Lichtlanze fiel auf ihre Beine und brachte die scharfen Krallen an ihren Zehen zum Schimmern. Sie seufzte.
Nein, ich bin kein Heiler. Also warum hatte ich diesen Traum und nicht Dreckpelz? Was wollte Wolke mir mitteilen?

Notes:

Ich hab länger kein Kapitel mehr gepostet, dachte es würde mal wieder Zeit :)
Ich selbst bin mittlerweile bei Kapitel 52 der Geschichte ^^ es gibt also noch eine Menge zu posten für die nächsten Monate

Chapter 10: Bernstein

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Das Junge ist da! Es ist ein Kater!“
Der Schrei schallte über die Lichtung und ließ Nachtpfote aus ihren Tagträumen aufschrecken. Blinzelnd hob sie den Kopf und sah sich um.
Mehrere Tage waren vergangen seit dem Traum, in dem ihr Wolke erschienen war. Ihre Gedanken drehten sich ständig darum. Allerdings blieb ihr kaum Zeit, wirklich über die Botschaft der braunen Katze nachzudenken, denn ihre Clan-Pflichten hielten sie von Sonnenauf- bis Untergang auf den Pfoten.
Schon früh am Morgen führte Wasserfell sie ins Unterholz, um ihr Ratschläge für ihre Anschleichtechniken und das Jagdkauern zu geben. Unter dem wohlwollenden Blick ihrer Mentorin hatte Nachtpfote einen schönen Fang für den Frischbeutehaufen gemacht. Nach einer Mahlzeit in Gesellschaft der anderen Schüler übten sie sich dann zu Sonnenhoch in ihren Kampffertigkeiten, manchmal einzeln, manchmal kämpften sie gegeneinander, um ihre Kräfte zu messen.
Nachtpfote genoss jede Minute, die sie mit den anderen Schülern verbringen konnte. Klettenpfote blieb zwar meist zurückhaltend, war aber stets freundlich ihr gegenüber, und Wüstenpfote gelang es immer, sie mit seiner Art zum Schnurren zu bringen. Vor allem aber hielt Nachtpfote sich an Tannenpfote. Der grüngraue Kater betrachtete sie anders als die anderen. Als würde sie dazugehören, als wäre sie wichtig.
Nachtpfote wurde heiß unter dem Pelz. Mit einem energischen Kopfschütteln vertrieb sie die Träumereien und erhob sich auf die Pfoten. Während sie in die Sonne blinzelte, wurde ihr erst gänzlich die Bedeutung der Worte bewusst, die sie eben gehört hatte.
Das Junge?
Plötzlich war Nachtpfote hellwach. Das musste bedeuten, dass Tintenherz endlich ihren Nachwuchs bekommen hatte! Als sie der blaugrauen Katze zuletzt begegnet war, hatte ihr Bauch sich bereits gefährlich gewölbt.
Tatsächlich hatten sich am Rand der Lichtung einige Katzen um den Haselstrauch versammelt, der den Königinnen und ihren Jungen Schutz bot. Der Wind trug aufgeregte Stimmen, Komplimente und Glückwünsche zu ihr herüber.
Nachtpfote ließ sich von der fröhlichen Stimmung nur allzu gerne anstecken. Energisch leckte sie sich den Morgentau aus dem Pelz und trabte durch das Gras Richtung Waldrand. Dabei fiel ihr Blick auf Rauchfuß, der sich abseits der BlattClan-Katzen auf einem kahlen Stück Erde niedergelassen hatte und seine Pfoten putzte.
„Rauchfuß!“, rief Nachtpfote dem Ältesten zu und bahnte sich einen Weg durch die Halme, bis sie den grauen Kater erreichte.
Rauchfuß war von Nachtpfotes Clangefährten sehr unterschiedlich aufgenommen worden. Manche Katzen waren ihm gegenüber freundlich, vor allem Mottenfuß und Feuerpelz. Andere hielten sich von ihm fern, beobachteten den Außenseiter aus schmalen Augen und fauchten, wenn er ihnen zu nahe kam. Birkenschweif erging es auch nicht besser. Die junge Kriegerin hielt sich meist in Borkenfells und Buchenpelz' Nähe, denn kaum jemand aus dem BlattClan wollte ein Wort mit ihr wechseln. Nachtpfote verstand ihr Misstrauen, aber ihr tat die Kriegerin leid. Immerhin waren ihre Clangefährten gegenüber den beiden Königinnen verständnisvoller. Morgenstern stellte sicher, dass sie ihren Anteil vom Frischbeutehaufen erhielten. Dreckpelz hatte mehrmals nach den Jungen gesehen und sich vergewissert, dass sie die Reise gut überstanden hatten. Buchenpelz und Borkenfell hatte er stärkende Kräuter gegeben. Seitdem hatten die Jungen – Kirschjunges, Wildjunges, Lärchenjunges, Fuchsjunges und Taujunges – an Gewicht zugelegt und begonnen, ihre neue Umgebung zu erkunden. Gemeinsam mit Tupfenfells und Schwarzgesichts Jungen waren sie über die Lichtung gestürmt und jeder Katze vor die Pfoten gekommen.
Jetzt gerade wirbelte die Bande kleiner Katzen durch die Versammlung am Waldrand und versuchte neugierig, einen Blick auf Tintenherz' Nachwuchs zu erhaschen.
„Rauchfuß“, sagte Nachtpfote noch einmal und kam vor dem Ältesten zum Stehen.
Rauchfuß hielt in seiner Wäsche inne, warf ihr einen Blick zu und schnaubte. „Was ist jetzt schon wieder? Hat man denn nie seine Ruhe?“
Nachtpfote blinzelte überrascht. Bevor sie reagieren konnte, sah sie das Funkeln in seinen Augenwinkeln und verstand, dass er es nicht ernst meinte. Die Schülerin verkniff sich ein Schnurren. „Du hattest die ganze Nacht deine Ruhe“, entgegnete sie.
Er brummte nur. „So würde ich es nicht nennen. Diese Tannennadeln waren schlimmer als jede Fuchskralle.“
Nachtpfote zuckte belustigt mit den Schnurrhaaren. „Beim SternenClan, WurzelClan-Katzen sind vielleicht empfindlich.“
„Stimmt doch gar nicht“, wehrte Rauchfuß ab. Prüfend betrachtete er seine Pfoten. „Wir kommen nur besser mit greifbaren Gegnern zurecht.“
Nachtpfote verdrehte die Augen. Da kamen weitere Rufe vom Waldrand her. Aufgeregt spitzte die schwarze Katze die Ohren. „Was für eine schöne Neuigkeit“, sagte sie.
Rauchfuß folgte ihrem Blick. „Ich hörte, es gibt Junge?“
„Ich glaube, es ist nur eins. Von Tintenherz“, antwortete Nachtpfote. Vor Freude sträubte sich ihr Pelz.
„Herzliches Beileid“, murmelte Rauchfuß und widmete sich wieder seiner Pfotenwäsche. „Kater oder Kätzin?“, nuschelte er durch ein Maulvoll Fell.
„Kater“, rief die Schülerin sich ins Gedächtnis, was sie vorhin gehört hatte. „Du solltest dir lieber deine Ohren waschen. Ich werde ihn mir ansehen. Kommst du mit?“
Rauchfuß ignorierte ihre Spitze und schaute nochmals zum Waldrand hinüber. „Ich denke nicht“, sagte er. „Zu viele Katzen sind nicht gut auf mich zu sprechen.“
„Ach was“, widersprach Nachtpfote, aber sie wusste natürlich, dass er recht hatte. Insgeheim dachte sie an die feindseligen Blicke, die Dunkelpelz und die anderen Krieger ihm zuwarfen. Seit der Ankunft der WurzelClan-Katzen standen die Mitglieder der BlattClans ständig unter Spannung. Nachtpfote selbst war überrascht, wie schnell sie sich an die Besucher gewöhnt hatte, vor allem an Rauchfuß. Sie mochte es nicht zugeben, aber sie konnte den alten Kater gut leiden.
„Nun geh schon.“
Rauchfuß knurrte gutmütig und schickte die Kätzin mit einem Schwanzzucken los.
Also machte Nachtpfote sich kurz darauf alleine auf den Weg in Richtung der Katzenmenge, um einen Blick auf das Junge zu werfen. Sobald sie den Waldsaum erreicht hatte, musste sie sich einen Weg durch die Anwesenden schlängeln, bis sie den geschützten Platz unter dem Haselstrauch erreicht hatte.
Tintenherz lag in einem Nest aus Moos, umringt von Kriegern. Ihr Junges lag eng an ihren Bauch geschmiegt.
Wüstenpfote hockte nur ein paar Sprünge weiter. Der hellrote Schüler beugte sich zu Klettenpfote herüber und zischte: „Ein Wunder, dass es nur ein Junges ist. Tintenherz' Bauch war so riesig, dass ich dachte, sie würde platzen!“
Klettenpfote knuffte seinem Baugefährten schnell in die Seite, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber Tintenherz hatte sie gar nicht gehört.
Nachtpfote starrte entzückt auf das kleine Fellbündel im Moos. Es hatte kurzes, rotbraunes Fell und seine Augen waren fest geschlossen. Während sie es betrachtete, öffnete sich sein rosa Mäulchen zu einem langen Gähnen. Seine Zähne waren so winzig! Zuneigung durchströmte sie von den Ohren bis zu den Zehen.
„Herzlichen Glückwunsch“, schnurrte sie. „Wie heißt dein Junges?“
Die blaugraue Katze schaute zu Nachtpfote auf und ihre Augen glänzten vor Liebe. „Das ist Bernsteinjunges“, sagte sie stolz.
Nachtpfote betrachtete den neugeborenen Kater erneut. „Er ist perfekt“, murmelte sie.
Bernsteinjunges strampelte mit seinen kleinen Pfötchen, als ein Sonnenstrahl durch die Baumkronen brach und seinen Pelz berührte.
Ich war auch einmal so klein, dachte Nachtpfote versonnen. So klein und schutzlos.
Ihr Pelz kribbelte unheilvoll.
Wir müssen ihn schützen, hier draußen ohne unser Lager. Zapfenstern darf ihn nicht finden.
Entschlossen kniff sie die Augen zusammen.
Keine Sorge, Bernsteinjunges. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.

 

Mitten in der Nacht rüttelte jemand Nachtpfotes Schulter.
Sie blinzelte schlaftrunken, hinter ihren Lidern noch Fetzen eines wirren Traums.
„Psst, Nachtpfote.“
Verwirrt wischte sie sich das Gesicht und sah auf.
Tannenpfote kauerte neben ihr, seine Augen glänzten schelmisch.
„Tannenpfote?“ Mit einem Ruck kam sie auf die Beine. Ihre Muskeln waren noch etwas steif vom Kampftraining. „Ist alles in Ordnung?“
Tannenpfote warf einen schnellen Blick auf Klettenpfote und Wüstenpfote. Die beiden Schüler lagen Pelz an Pelz und schienen tief und fest zu schlafen. „Ja doch“, flüsterte der grüngraue Kater. Er hatte etwas Verstohlenes an sich.
Nachtpfote legte den Kopf schief. „Was ist los?“, wollte sie wissen.
Aber Tannenpfote grinste bloß und schnippte den Schwanz. „Komm mit!“ Fast lautlos schlich er aus seinem Nest und über den Rand der Sandkuhle ins Dickicht.
Verwirrt von seiner Verschwiegenheit, aber auch neugierig, folgte Nachtpfote ihm.
Die Äste des umgestürzten Baums zitterten, als sie sich aus der Kuhle hievte. Mit klopfendem Herzen sah sie zurück, aber die anderen Schüler regten sich nicht. Erleichtert schlüpfte sie zu Tannenpfote unter einen Brombeerstrauch.
„Wolkenschweif und Blattsprenkel sind gerade auf der anderen Seite der Lichtung.“ Tannenpfote spähte durch die Blätter. „Beeil dich.“ Er drehte sich um und schob sich durch ein Büschel Wiesenklee.
Nachtpfote bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. „Was wird das hier?“, zischte sie.
„Das wird dir gefallen“, versprach er.
„Wir sollten uns aber nicht so weit von der Lichtung entfernen.“ Nachtpfote zuckte nervös die Ohren.
Tannenpfote drosselte sein Tempo und wartete, bis sie an seiner Seite war. „Wir sind zurück, bevor es jemand merkt.“
Er war so zuversichtlich, dass Nachtpfote spürte, wie sie sich entspannte. „Also gut“, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Und wohin gehen wir?“
Tannenpfote lächelte verschwörerisch und zwängte sich an einem Farn vorbei. „Wir sind schon da“, verkündete er.
Der Wald um sie herum war in ein weiches Licht getaucht, aber es war nicht bloß der silbrige Schein des Mondes. Dutzende weißer Pünktchen tanzten durch das Dickicht, ein Fest winzig kleiner Lichter, das jeden Beobachter in seinen Bann zu ziehen vermochte.
Fasziniert beobachtete Nachtpfote das Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte.
„Glühwürmchen.“
Tannenpfote hatte sich hingesetzt und den Schwanz um die Pfoten gelegt. Sein Blick galt aber nicht den leuchtenden Tierchen, sondern ihr.
Nachtpfote zögerte kurz, dann ließ sie sich neben ihm nieder. „Es ist wunderschön“, bekannte sie. „Woher wusstest du das?“
Tannenpfote zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ich konnte nicht schlafen“, sagte er nur.
Eine Weile lang saßen sie so da und schwiegen. Aber es war kein unangenehmes Schweigen.
Glühwürmchen schwebten um ihre Köpfe, sandten ihr kleines, warmes Licht aus und erloschen dann. Die Nacht war überraschend lau. Der Schein der tanzenden Insekten spiegelte sich in Tannenpfotes Augen, bis sie fast golden wirkten.
Nachtpfote erfüllte eine Art Frieden, den sie seit dem Überfall des WurzelClans vor einigen Tagen nicht mehr gefühlt hatte. Eng beisammen lauschten sie auf das Flattern der kleinen Flügel um ihre Ohren und die Welt um sie herum und ihr Clan schienen weit weg zu sein.
„Wenn ich hier sitze, könnte ich all den Schmerz und die Verluste fast vergessen“, sagte Tannenpfote, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Nachtpfote seufzte und wünschte sich, sie könnte den Augenblick festhalten, um ihn nicht mehr loslassen zu müssen.
„Ich weiß, was du meinst.“
Eine Windböe strich durch das Dickicht und brachte den kühlen Hauch des Blattfalls mit sich. Tannenpfote lächelte wehmütig und streckte seine Pfote aus, als langte er nach den wirbelnden Lichtpunkten. „Lilienfell hat die Glühwürmchen geliebt“, murmelte er. „Denkst du noch manchmal an sie? Lilienfell, meine ich.“ Er ließ die Pfote sinken.
Überrascht sah Nachtpfote ihn an. Seit ihrem Tod hatte er nicht von ihr gesprochen. Aber manchmal sah Nachtpfote noch den Schmerz in seinem Blick, wenn er dachte, niemand würde es bemerken. Jetzt war die Traurigkeit, die ihn umhüllte, fast greifbar.
Lilienfell war Morgensterns Schwester gewesen – und Tannenpfotes Mutter. Mit ihren dunkelblauen Augen und dem sandfarbenen Fell hatte sie ein fast perfektes Ebenbild der anmutigen BlattClan-Anführerin abgegeben. Auch hinsichtlich Kraft und Geschick hatte sie Morgenstern in nichts nachgestanden.
Und dann, vor einigen Monden, war sie an einem Schlangenbiss gestorben. Dreckpelz hatte getan, was er konnte, aber es war zu spät und Lilienfell hatte sich den Jagdgründen des SternenClans angeschlossen.
Ab und an, wenn Nachtpfote die Augen schloss, konnte sie noch ihre Stimme hören.
„Ja, Tannenpfote“, flüsterte sie. „Natürlich tue ich das.“
Die sandfarbene Katze hatte sie aufgenommen, sich um sie gekümmert, als wäre sie ihr eigenes Junges. Und Lilienfell war fast wie eine Mutter für Nachtpfote gewesen, wenn auch nur für eine kurze Zeit.
Tannenpfote nickte. Sein Schwanz zuckte und fegte ein Blatt über den Waldboden. „Manchmal frage ich mich, ob wir die Einzigen sind“, gestand er. „Es ist, als …“ Er stockte. „Als hätte man sie vergessen.“
Erschrocken richtete Nachtpfote sich auf. „Das ist nicht wahr!“ Sie rückte ein Stück zur Seite, um ihn anzusehen, aber er wich ihrem Blick aus. „Wir haben sie alle geliebt“, sagte sie. „Ich glaube, die Umstände haben uns einfach nicht die Zeit gegeben, die wir gebraucht hätten, um zu trauern.“
Tannenpfote runzelte zweifelnd die Stirn. „Feuerpelz hat jetzt Fleckenfell. Und Wüstenpfote.“
Ein Glühwürmchen setzte sich auf sein Ohr. Er schnippte es nicht weg.
Nachtpfote verstand. Mitfühlend lehnte sie sich an seine Schulter und spürte die Wärme, die von seinem Fell ausging. Kurz nach Lilienfells Tod war Feuerpelz mit Fleckenfell zusammengekommen und die hellbraunweiße Katze hatte Wüstenpfote geboren. Und dennoch; Nachtpfote erinnerte sich gut an den Schmerz im Gesicht des roten Katers und das stumme Leid, das ihn umgab. Sie zweifelte nicht daran, dass Feuerpelz Lilienfell geliebt hatte.
„Ich bin sicher, er vermisst sie ebenso sehr wie du“, sagte sie. „Vielleicht ist es gut, dass er nicht alleine ist.“
Tannenpfote seufzte und zuckte die Schnurrhaare. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Ein kleines Lächeln zuckte um sein Maul. „Und was würden wir bloß ohne Wüstenpfote tun?“
Unwillkürlich musste Nachtpfote schnurren. „Unsere Trainingsstunden wären deutlich langweiliger, schätze ich.“
„Ja.“
Danach herrschte kurz Stille. Nachtpfote war froh, dass die Anspannung ein wenig gewichen war. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie dicht sie nebeneinander saßen. Aber sie wich nicht zurück.
„Ich denke, wir sollten gehen“, sagte Tannenpfote schließlich.
Der Mond begann hinter die Baumwipfel zu sinken und das Licht der Glühwürmchen erstarb allmählich. Der grüngraue Kater stand auf und schüttelte seinen Pelz aus.
Widerstrebend kam Nachtpfote hoch und folgte ihm. Sie wusste, dass er recht hatte, doch sie wünschte sich, sie hätte ihren Pflichten und Problemen noch etwas länger entfliehen können. Aber wenn sie nicht bald zurückkehrten, würde man ihr Fehlen bemerken.
Als sie die Kuhle unter dem umgestürzten Baum erreichten, hatten die anderen Schüler sich noch nicht gerührt. Vorsichtig ließen sich Tannenpfote und Nachtpfote zwischen den beiden ins Moos sinken.
„Danke, dass du mir die Glühwürmchen gezeigt hast“, flüsterte Nachtpfote, nachdem sie sich gedreht und die Beine unter den Körper geschoben hatte.
Tannenpfote blinzelte nur. Mit einem leisen Lächeln legte er den Schwanz über die Nase und schloss die Augen.

 

Zu Sonnenhoch des nächsten Tages kaute Nachtpfote lustlos auf ihrem Spatzen herum. Wenn die goldene Scheibe so beharrlich am Himmel stand, wollte die Zeit einfach nicht vergehen.
Schon früh am Morgen war sie mit Wasserfell, Blütenwind und Streifenfell auf der Jagd gewesen. Mehr durch Zufall war Streifenfell auf ein Mäusenest gestoßen, das sie gemeinsam ausgehoben hatten, um vier magere Mäuse zu fangen. Davon wurden keine drei Katzen satt, aber momentan waren die Krieger auf jedes Bisschen Beute angewiesen.
Nachtpfote schaute auf den Spatzen hinab. Obwohl ihr Magen knurrte, brachte sie kaum einen Bissen herunter. Das Glücksgefühl vergangener Nacht war ihr spätestens bei der morgendlichen Jagd vergangen. Die Ereignisse von vorhin kamen noch erschwerend hinzu.
Sie hob den Kopf und sah sich auf der Lichtung um, bis sie Morgenstern entdeckte. Die Anführerin des BlattClans hatte sich seit dem Verlust eines ihrer Leben vor ein paar Tagen merklich erholt. Die goldene Katze, die jetzt mit hochgereckten Schultern an Messerzahns Seite stand und mit ihm die Wachposten und Patrouillen einteilte, stimmte gar nicht überein mit der blutüberströmten, gekrümmten Gestalt, die Nachtpfote nach der Großen Versammlung ins Gras gebettet gefunden hatte. Einen Tag nach ihrer tödlichen Verletzung hatte sie Dreckpelz energisch fortgeschickt, damit er sich anderen Katzen widmete. Der SternenClan hatte nicht alle ihrer Wunden heilen können und einige Kratzer zogen sich noch deutlich über Morgensterns Fell, aber sie sprach mit fester Stimme und das kalte Leuchten in ihren Augen war zurückgekehrt.
Während Nachtpfote sie betrachtete, wandte die Katze sich um und heftete ihren nachdenklichen Blick auf sie. Die Schülerin zuckte zusammen und sah zu Boden. Seit der Nacht der Großen Versammlung rechnete sie mit Konsequenzen für ihre Entscheidung, Rauchfuß und die Königinnen auf die Lichtung zu bringen. Aber hätte die Anführerin sie bestrafen wollen, hätte sie das wohl bereits getan.
Mit vor Unbehagen prickelnden Ohren wandte Nachtpfote sich um und ihre Aufmerksamkeit fiel auf Dunkelpelz. Der schwarze Kater lag im Schatten einer krummen Tanne und zerrte einen Streifen Mäusefleisch vom Knochen.
Nachtpfote kniff die Augen zusammen und dachte darüber nach, was kurz vor Sonnenhoch geschehen war.
Morgenstern hatte eine Versammlung einberufen, um ihre Krieger über den Zustand des BlattClans zu informieren und den Fortschritt, den Dreckpelz bei der Heilung der Wunden machte. Tatsächlich waren die Spuren der verhängnisvollen Schlacht, bei der sie ihr Zuhause verloren hatten, bald nur noch ferne Erinnerungen. Allein die Kerben in Blattsprenkels Ohren und die lange Narbe quer über Messerzahns Flanke zeugten noch von Zapfensterns hinterhältigem Angriff. Die Verletzungen jedoch, die einige der Katzen im Kampf während der Vollmondnacht davongetragen hatten, waren frischer. Eichelpelz fehlten ein paar Placken Fell am Rücken, Nassfuß trug eine dünne Lage Spinnweben über einem verheilenden Biss auf ihrem Hinterlauf.
Morgenstern hatte ihnen versichert, dass Dreckpelz tat, was ihm möglich war. Mehrfach während der letzten Tage war der Heiler in Begleitung eines oder zweier Krieger durch den Wald gestreift, um seine Kräuterhaufen aufzufüllen. Die wenigen Vorräte, die er bei der hastigen Flucht aus dem BlattClan-Lager hatte mitnehmen können, waren erschöpft, und seitdem mussten sie mit dem auskommen, was Dreckpelz im Umfeld der Lichtung finden konnte. Morgenstern sprach dem Heiler ihren Dank aus und ging anschließend kurz auf Bernsteinjunges ein und die Hoffnung, die ein Junges in ihrer Mitte für sie alle bedeutete.
Nachtpfote erinnerte sich auch, wie die goldene Kätzin gemahnt hatte, Frieden mit den Gästen aus dem WurzelClan zu wahren. Sie wies Messerzahn an, Birkenschweif in die Jagdpatrouillen mit einzubeziehen, und Rauchfuß bestand ebenfalls darauf zu helfen, obwohl er ein Ältester war.
Als Morgenstern die Zusammenkunft jedoch hatte schließen wollen, war Dunkelpelz aus der Katzenmenge vorgetreten, um sich seiner Anführerin entgegenzustellen. Nachtpfote hatte noch seine Stimme im Ohr.
„Warum sind wir hier?“
Die Blicke der Anwesenden waren verwirrt über sein Fell gehuscht, sie tuschelten und spitzten die Ohren.
Morgenstern zuckte verärgert mit dem Schwanz, doch dann lehnte sie sich zurück und nickte. „Sprich.“
Dunkelpelz hatte sein Kinn kühn nach vorne gereckt. „Wir verstecken uns hier, außerhalb unseres Territoriums“, fuhr er fort. „Wir fliehen vor dem WurzelClan wie Beute! Zweimal haben wir unser Glück aufs Spiel gesetzt. Du hast eines deiner Leben verloren.“
Mit einem Schaudern dachte Nachtpfote daran, wie Morgenstern warnend ihre blauen Augen zusammengekniffen hatte. „Was schlägst du vor? Willst du kämpfen?“, forderte sie den schwarzen Krieger heraus.
Dunkelpelz senkte ergeben seinen Kopf. „Ich denke, wir sollten uns Zapfenstern anschließen.“
Daraufhin war es so leise, dass Nachtpfote auf der anderen Flussseite eine Maus hören konnte, die sich durch das Laub wühlte.
Dann stürzte Messerzahn vor. „Das kann nicht dein Ernst sein!“
Seine Stimme wurde jedoch verschluckt von den Rufen, die sich ringsum erhoben. Nachtpfote erstarrte entsetzt, als einige der Katzen aufsprangen und energisch protestierten. Allerdings nicht alle von ihnen; manche blieben still, Zweifel stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
Sie sind doch nicht Dunkelpelz' Meinung, oder? Nachtpfote fühlte auch jetzt noch den Stich der Angst, der ihre Beine hatte zittern lassen. Wir dürfen uns Zapfenstern nicht anschließen!
Morgensterns scharfes Knurren beendigte die Diskussion. Alle Köpfe wirbelten zu ihr herum. Missbilligend ließ die Anführerin des BlattClans ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Schließlich musterte sie Dunkelpelz.
„Ich verstehe deine Bedenken“, sagte sie ruhig. „Und ich bin mir sicher, dass du das Beste für deinen Clan im Sinne hast. Sich gegen einen stärkeren Feind zu richten, erfordert Mut – und kann uns alle das Leben kosten.“ Die goldene Katze straffte ihre Schultern. „Zapfensterns Plan ist nicht gänzlich zu verurteilen. Ein Bündnis zwischen den Clans könnte die Feindschaft, die seit vielen Blattwechseln zwischen uns herrscht, endlich beenden …“
Die Spannung unter den Katzen war beinahe greifbar. Mit angehaltenem Atem warteten sie auf Morgensterns nächste Worte.
Die Anführerin legte ihre Ohren an und schüttelte den Kopf. „Wir müssen einsehen, dass sein Plan zum Scheitern verurteilt ist“, sagte sie. „Viel zu lange haben wir getrennt gelebt. Eine solche Kluft kann niemals vergessen werden. Würden wir uns im Kiefernwald des WurzelClans zurechtfinden? Könnten sie lernen, im dichten Gestrüpp unseres Territoriums zu jagen?“ Sie fuhr sich mit der Pfote durch die Schnurrhaare, mehr nachdenklich als wütend. „Das Zerwürfnis zwischen unseren Clans zu richten, ist noch schwieriger, als es erscheinen mag. Wir waren so lange getrennt, dass wir uns fremd geworden sind.“
Dunkelpelz schnaubte.
„Von Zapfensterns Plan einmal abgesehen, gefallen mir seine Beweggründe nicht.“ Morgensterns Stimme wurde hart. „Vergesst niemals: Das Einzige, was Zapfenstern interessiert, ist Macht. Er wird erst zufrieden sein, wenn er uns vor ihm im Staub kriechen sieht.“ Sie reckte ihre Schnauze in Dunkelpelz' Richtung. „Wie gut, denkst du, wird es uns unter seiner Pfote ergehen?“
Der schwarze Kater sträubte wütend den Pelz, schwieg aber.
Mit einem Schwanzschnippen verwies Morgenstern ihn auf seinen Platz.
„Der SternenClan wird unsere Pfoten leiten“, miaute sie. „Vertrauen in unsere Kriegerahnen ist das Einzige, was wir jetzt noch haben.“ Mit einem abschließenden Blick zum Himmel beendete Morgenstern die Versammlung und schickte die Katzen zurück zu ihren Pflichten.
Nachtpfote schüttelte sich im Versuch, die Geschehnisse aus ihren Gedanken zu streichen.
Die Lichtung lag mittlerweile im Schatten. Dunkelpelz war aufgestanden und im Dickicht verschwunden, womöglich auf der Jagd. Seine Worte hatten ihr Angst gemacht. Sie fragte sich, wie viele ihrer Clangefährten so denken mochten. Ihr Magen drehte sich um bei der Vorstellung, sich Zapfenstern auszuliefern.
Umso dankbarer war Nachtpfote Morgenstern, die sich entschieden hatte, bis auf den letzten Tropfen Blut um ihre Freiheit zu kämpfen.
Mit kalter Zuversicht sah die Schülerin nach oben.
Nur in einem hast du dich geirrt. Wir haben nicht nur den SternenClan. Wir haben auch dich. Wir haben uns.

Notes:

Endlich ein bisschen Tannenpfote und Nachtpfote Action ^^ es macht mir echt Spaß, ihre Gespräche zu schreiben

Chapter 11: Nachtpfote hilft Dreckpelz

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Als die Sonne die Baumspitzen berührte, kam Wüstenpfote über die Lichtung auf Nachtpfote zu.
Sie hatte einige Zeit damit verbracht, im Wald Moos zu sammeln, um die Nester der Ältesten auszubessern. Die meisten Krieger waren jagen, allerdings hatte Morgenstern sorgsam darauf geachtet, dass genügend Katzen in der Nähe blieben, um die Kinderstube nicht unbewacht zu lassen.
Am anderen Ende der Wiese hockten Borkenfell, Buchenpelz und Schwarzgesicht und beobachteten ihre Jungen, die sich im wilden Spiel über den Boden kugelten. Buchenpelz' Junge Taujunges, Wildjunges und Fuchsjunges waren ein einziges Fellknäuel. Lärchenjunges, Borkenfells Tochter, pirschte sich gerade an die rangelnde Gruppe heran, als Kirschjunges – das Junge mit dem weißen Fleck auf der Stirn, das Nachtpfote zum BlattClan getragen hatte – von der Seite auf Lärchenjunges' Rücken sprang und sie umwarf. Die zwei Jungen von Schwarzgesicht, Haseljunges und Wirbeljunges, nutzten die Gelegenheit und begruben Lärchenjunges mit einer Menge Kichern und Geschrei. Dieser kurze Moment des Friedens und der Unbekümmertheit ließ Nachtpfote ein Schnurren im Hals aufsteigen.
„Nachtpfote!“
Mit großen Sprüngen überwand Wüstenpfote die letzten paar Katzenlängen zwischen ihnen. Er wirkte heiter wie immer und Nachtpfote war dankbar für seinen Optimismus. Das rote Fell zauste sich wild an seinen Ohren, als er schließlich vor ihr haltmachte.
„Wüstenpfote! Was gibt’s?“, fragte die schwarze Kätzin. Seine gute Laune steckte sie fast sofort an.
Wüstenpfote schüttelte sich, woraufhin sein Pelz noch zerzauster ausschaute als vorher. Im Nachmittagslicht der Sonne sah er seinem Vater Feuerpelz sehr ähnlich. „Wir warten auf dich beim Kampftraining!“, sagte der junge Kater. „Wir trainieren heute alle zusammen mit unseren Mentoren! Hast du das vergessen?“
Nachtpfote war sofort auf den Beinen. „Oh, nein!“, rief sie, ihre Schnurrhaare zuckten nervös. Wasserfell hatte ihr am Vorabend Bescheid gegeben, aber sie war so tief in Gedanken um Wolkes Prophezeiung gewesen, dass sie den Zeitpunkt für das Treffen glatt vergessen hatte.
„Jetzt guck nicht so entsetzt, benutze lieber deine Pfoten!“
Wüstenpfote war schon umgekehrt und rannte über die Wiese in Richtung des Platzes, an dem die Schüler sich vorübergehend zum Training trafen. Nachtpfote strengte sich an, mit ihm mitzuhalten, und schüttelte sich zunächst einmal alle Gedanken an irgendwelche Träume aus dem Kopf.
Die beiden Schüler jagten von der Lichtung einen bewaldeten Hang hinauf und in dichteres Unterholz hinein. Nach ein paar weiteren Pfotenschritten öffnete es sich zu einer kleinen von Farn befleckten Grasfläche, auf der bereits sechs Katzen warteten. Als Wüstenpfote und Nachtpfote aus den Schatten traten, hoben sich ihre Blicke. Klettenpfote stand ihnen mit Blattsprenkel, seiner Mentorin, am nächsten. Dahinter unterbrachen Wasserfell, Tannenpfote und Kieselschweif ein Gespräch. Wolkenschweif saß etwas abseits und peitschte ungeduldig mit dem buschigen weißen Schwanz.
„Da seid ihr ja endlich“, sagte er und rappelte sich auf. Kleine Narben an der Schnauze von seinem letzten Kampf mit dem WurzelClan entblößten Flecken rosa Haut.
„Nachtpfote.“ Wasserfell trat vor und betrachtete ihre Schülerin mit tadelndem Gesichtsausdruck. „Du bist zu spät. Hast du etwa unsere Trainingseinheit vergessen?“
„Tut mir leid, Wasserfell.“ Nachtpfotes Nackenfell prickelte vor schlechtem Gewissen. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor der grauen Kätzin stehen.
Wasserfells Blick wurde ein bisschen weicher. „Ich weiß, dass es im Moment nicht einfach ist. Der BlattClan befindet sich in einer misslichen Lage. Umso wichtiger ist es, dass jede Katze ihre Pflichten erfüllt und wir uns alle aufeinander verlassen können, damit wir das durchstehen. Dein Kampftraining solltest du nicht vernachlässigen.“
Nachtpfote nickte beschämt und fühlte die Augen der anderen heiß auf ihrem Pelz. Sie traute sich nicht, Tannenpfotes Blick zu begegnen und in seinem Gesicht zu lesen, wie peinlich sie war.
Als die Aufmerksamkeit sich allerdings von ihr löste und die Mentoren mit ihren Schülern das Training begannen, kehrte Nachtpfotes gute Laune zurück. Wolkenschweif und Blattsprenkel bauten sich voreinander auf, die Köpfe lauernd gesenkt, die Schwänze starr vom Körper gestreckt. Blattsprenkel zuckte mit den Ohren. „Heute werdet ihr lernen, wie ihr euch gegen einen viel schwereren und größeren Gegner zur Wehr setzen könnt. Denn wenn ihr nicht gerade Messerzahn seid, wird früher oder später der Moment kommen, in dem ihr einem Krieger begegnet, der euch an Masse überlegen ist.“
Die Schüler gaben ein belustigtes Schnurren von sich.
„Pah“, schnaubte Wüstenpfote und sprang auf. „Wenn ich erst einmal ausgewachsen bin, sollte Messerzahn sich in Acht nehmen!“ Der rote Kater warf sich in die Brust, die selbst im Vergleich zu Klettenpfotes oder Tannenpfotes Körper noch sehr schmächtig wirkte.
„Da bin ich sicher“, sagte Blattsprenkel freundlich. „Aber bis dahin spitz deine Ohren und schau zu, was wir dir zeigen.“
Wüstenpfote setzte sich wieder hin und überließ es der gefleckten Kätzin, sich erneut vor Wolkenschweif aufzubauen.
Unter dem zottigen Fell des weißen Kriegers verbargen sich starke Muskeln und seine Schultern waren ein gutes Stück breiter als die von Blattsprenkel. Obwohl sie auch nicht gerade klein war, würde sie von der Stärke allein her nicht mit ihm mithalten können. Wolkenschweif schoss vor, um sich auf seine Gegnerin zu werfen. Mit einer einzigen Bewegung wich Blattsprenkel zur Seite, streckte die Tatze aus und fuhr Wolkenschweif beim Vorbeisprinten über die Flanke. Wären ihre Krallen ausgefahren gewesen, hätte sie gute Kratzer über seine Haut gezogen. Wolkenschweif schwankte, konnte sich aber fassen, wirbelte herum und fiel in seine vorherige Lauerstellung zurück.
„Habt ihr das gesehen?“, rief Blattsprenkel und legte das Fell an. „Ihr müsst nicht nur stark sein, um euch erfolgreich gegen einen Feind zur Wehr zu setzen. Schnelligkeit und Einfallsreichtum zählen ebenso viel.“
Diesmal stürzte die Kriegerin vor, schlug einen Haken dicht vor Wolkenschweifs Schnauze und war schon wieder aus seiner Reichweite, bevor er reagieren konnte. Der weiße Kater machte einen Satz und versuchte Blattsprenkel auf den Rücken zu springen. Sie preschte vor, tauchte unter Wolkenschweif hindurch und ließ ihre Pfote über seinen Bauch fahren, während er über sie hinwegflog. Wolkenschweif landete unbeholfen, schaffte es aber wie zuvor, sich zurück in seine Lauerstellung zu begeben.
Blattsprenkel lockerte ihre Rückenmuskulatur und streckte genüsslich die Krallen. „Es gibt viele Möglichkeiten, euch euren Gegner vom Leib zu halten“ erklärte sie an die Schüler gewandt. „Wenn er stärker ist als ihr selbst, ist es wichtig, dass ihr euch niemals in eine Position begebt, in der er die Chance hat, seine gesamte Kraft gegen euch zu wenden. Euer Vorteil liegt in eurer Wendigkeit.“ Blattsprenkel gab Wolkenschweif mit dem Schwanz ein Zeichen. „Sollte es eurem Gegner doch gelingen, euch zu packen und beispielsweise auf den Boden zu drücken, so gibt es ein paar Tricks, sich zu befreien.“
Ihr Clangefährte warf sich gegen Blattsprenkels Flanke und stieß sie um. Im nächsten Moment hatte er seine Pfoten auf ihrer Brust und presste sie auf den Boden. Wolkenschweif schnappte nach ihrer Kehle. Nachtpfote beobachtete gespannt, wie Blattsprenkel ihre Hinterpfoten in seinen weichen Bauch stemmte und ihn mit einem gewaltigen Tritt von sich schleuderte. Mit einer geschickten Drehung war die Kriegerin auf den Pfoten und nahm den Kater, der noch auf der Wiese lag und versuchte sich aufzurichten, ihrerseits in die Mangel. Allerdings nur kurz, dann stupste sie ihn freundschaftlich Nase an Nase und die beiden Krieger kamen zurück auf die Beine, um sich das Gras aus dem Fell zu schütteln.
Kieselschweif und Wasserfell, die ebenfalls zugesehen hatten, schnurrten belustigt.
„Jetzt seid ihr an der Reihe“, sagte Wolkenschweif, während er mit der Pfote einen Grashalm von seiner Schulter klopfte, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die vier Schüler. „Und zwar arbeitet ihr in Zweiergruppen und eignet euch die Fertigkeiten an, die Blattsprenkel und ich euch gerade gezeigt haben.“ Seine blauen Augen schweiften über die aufgeregten Katzen. „Klettenpfote und Wüstenpfote, ihr seid ein Team. Tannenpfote, du arbeitest mit Nachtpfote.“
Nachtpfote blinzelte nervös. Wüstenpfote sprang gleich aufgeregt zu Klettenpfote hinüber und stieß ihn unbeholfen in die Seite. Der ältere Schüler grummelte ärgerlich und schaffte es, den roten Kater auf die Erde zu pinnen. Während die beiden schon rangelten, trottete Tannenpfote vorsichtig zu Nachtpfote herüber.
„Ähm … Hi“, sagte er und zuckte mit dem Schwanz.
Nachtpfote wartete darauf, dass er noch mehr sagte, doch er schwieg. „Hallo“, brachte sie schließlich heraus.
Tannenpfote zuckte mit den Ohren in Richtung der zwei anderen Schüler. „Willst du zuerst einen von Blattsprenkels Tricks versuchen?“, schlug er vor.
„Okay.“
Nachtpfote blinzelte und versuchte, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die die Mentoren eben gezeigt hatten. Während ihr Blick noch gedankenverloren in Tannenpfotes grüngrauem Fell hing, jagte ihr Freund plötzlich los. Ihr Herz setzte aus, als sie sich mühte, seinem Angriff zu entkommen. In der Ausweichbewegung holte sie mit der rechten Vordertatze aus, um ihn an der Flanke zu erwischen, aber dabei stolperte sie über ihre eigenen Pfoten und Tannenpfote krachte in sie hinein. Mit einem überraschten Schrei ging Nachtpfote zu Boden, im nächsten Augenblick war der Kater schon über ihr und drückte sie mit seinem Gewicht ins Gras.
„Hab dich.“
„Gut gemacht, Tannenpfote.“
Kieselschweif und Wasserfell hockten wenige Katzenlängen weiter und hatten den Kampf beobachtet. Die zwei grauen Kätzinnen wirkten zufrieden.
Wasserfell nickte Nachtpfote aufmunternd zu. „Nicht schlecht für den Anfang, Nachtpfote. Mit der Zeit wird es dir besser gelingen, deine Beine zu kontrollieren. Versuch das nächste Mal, schneller zu reagieren.“ Ihre bernsteinfarbenen Augen konnten ein belustigtes Funkeln nicht verstecken.
Nachtpfotes Fell kribbelte vor Scham.
Tannenpfotes warme Augen waren nur eine Schnurrhaarlänge von ihren entfernt. „Alles okay?“, fragte er, den Kopf besorgt zur Seite geneigt.
Blitzschnell stemmte Nachtpfote ihre Hinterbeine in seinen Bauch und stieß ihn von sich. Mit einem Ächzen ging Tannenpfote zu Boden und gab seiner Gegnerin die Chance, ihn ihrerseits zu packen.
„Hab dich“, schnurrte Nachtpfote und grinste, während er noch verdutzt zu ihr aufsah.
„Ihr beide lernt schnell“, bemerkte Kieselschweif amüsiert.
Wasserfells Augen dagegen hatten das belustigte Funkeln verloren. Die Kriegerin betrachtete Nachtpfote mit einer neuen Art von Respekt, bei der Nachtpfote die Ohren ganz warm wurden vor Stolz.
„Das war gemein“, sagte Tannenpfote, aber er grinste auch. „Das nächste Mal entwischst du mir nicht, du wirst schon sehen.“
„Na dann zeig's mir“, forderte Nachtpfote ihn auf. Mit einem Satz sprang sie von ihm herunter, wirbelte herum und wartete darauf, dass der Kater erneut angriff.
Tannenpfote stand auf, schüttelte sich das Gras aus dem Fell und rannte mit einem lauten Kampfschrei auf sie zu.
Unter der Anleitung ihrer Mentoren übten sie den Rest des Tages, bis jeder von ihnen die Übungen zur Zufriedenheit der älteren Katzen ausgeführt hatte, ihre Muskeln von der Arbeit schmerzten und ihr Fell unter der dicken Schicht aus Grasfetzen kaum noch zu erkennen war. 

 

Am nächsten Tag war Nachtpfote schon kurz nach Sonnenaufgang mit Wolkenschweif, Eichelpelz und Klettenpfote auf Patrouille gewesen. Der weiße Kater hatte sie angewiesen, wachsam zu bleiben und stets auf Krieger des WurzelClans zu lauschen, für den Fall, dass der feindliche Clan sie noch immer suchte.
Nachtpfote juckte der Pelz vor Neugier. Sie hätte zu gerne gewusst, was in ihrem heimatlichen Wald vor sich ging. War Zapfenstern nun zufrieden, da er sich beide Territorien einverleibt hatte? Verschwendete er überhaupt einen Gedanken an die Katzen, die er vertrieben hatte; die Ältesten, Königinnen und die Jungen?
Eilig schluckte Nachtpfote den letzten Bissen ihres Fischs herunter. Die schleimige Beute war recht gewöhnungsbedürftig, aber nicht unbedingt schlecht. Hellpelz und Fleckenfell waren am Morgen hinsichtlich des Mangels an Fressen ungeschickt in den Fluss gewatet und hatten mehr durch Glück als Können zwei Fische gefangen. Groß waren sie nicht, aber Nachtpfote begnügte sich mit den paar Happen und überließ die anderen Beutestücke den Clangefährten, die sie nötiger hatten.
Sie fuhr sich mit der Zunge noch einmal über die Schnauze und ließ ihre Gedanken, wie so oft in letzter Zeit, zu Wolkes Prophezeiung wandern. Obwohl der Traum jetzt einige Nächte zurücklag, hatte sie Wolkes Gesicht noch genau vor Augen – den himmelblauen Blick, das braune Fell, das sich im steifen Wind zerzauste …
Aus den Augenwinkeln nahm Nachtpfote eine Bewegung wahr. Wolke?
Jäh aus ihren Gedanken gerissen, warf sie den Kopf herum, aber natürlich war es nicht Wolke.
Dreckpelz tappte über die Lichtung. Es schien, als hätte er viel zu tun. Aus seinem Maul baumelten einige verdorrte Pflanzenstängel und schmale Blätter wanden sich über seine Schnauze, die er sich ärgerlich aus den Augen schüttelte.
Während Nachtpfote ihn beobachtete, verschwamm Wolkes Prophezeiung hinter ihren Lidern und eine Idee begann sich zu formen. Der dunkelgraue Kater war sichtlich erschöpft. Er musste mehrere Tage durchgearbeitet haben, Nachtpfote hatte ihn kaum einmal schlafen sehen.
Klettenpfote hatte den Heiler seit der Großen Versammlung mehrfach bei seinen Aufgaben unterstützt, aber heute war er mit Blattsprenkel und Streifenfell beim Kampftraining.
Nachtpfote rappelte sich auf und machte sich durch das hohe Gras auf den Weg zu Morgenstern.
Messerzahn befand sich wohl auf der Jagd, aber die goldene Katze war eben von einer Patrouille zurückgekehrt. Jetzt überwachte sie die Königinnen, die mit ihren Jungen im Dickicht spielten, und ihr Blick war weicher als Nachtpfote ihn bisher gesehen hatte. Seit die Kätzinnen des WurzelClans hier Unterschlupf gefunden hatten, war Morgenstern mehrfach bei ihnen gewesen, um sich zu vergewissern, dass die Krieger des BlattClans sie mit Respekt behandelten und dass sie genug zu fressen für sich und ihre Jungen hatten.
Als die Anführerin ihr Kommen bemerkte, wandte sie sich mit gespitzten Ohren um. „Nachtpfote.“
Nachtpfote zögerte und senkte den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um den Mut aufzubringen, sie wieder anzusehen. „Ich habe eine Bitte“, hob sie an.
Morgenstern wartete geduldig.
„Ich hätte gerne deine Erlaubnis, heute Dreckpelz zu helfen“, sagte Nachtpfote. „Ich weiß, die letzten Tage hat Klettenpfote das getan und ich habe gleich eigentlich eine Trainingsstunde mit Wasserfell, aber ich denke, er könnte ein paar helfende Pfoten wirklich gebrauchen.“
Und er ist der Heiler, dachte Nachtpfote im Stillen. Wenn sich irgendwie die Gelegenheit ergibt, kann ich ihn vielleicht auf meinen Traum ansprechen.
Sie wusste nicht, wie sie Dreckpelz von der Prophezeiung erzählen sollte – falls es eine war – und was sie anschließend von ihm erwartete. Aber wenn ihr jemand einen Rat geben konnte, dann war er es.
Morgenstern betrachtete sie eingehend. Nachtpfote meinte, Überraschung über ihr Gesicht huschen zu sehen, aber ob sie vermutete, dass noch mehr hinter Nachtpfotes Bitte steckte, war schwer zu sagen.
Die Anführerin schaute kurz über die Lichtung zu Dreckpelz, der wieder durch das Gras trottete, diesmal mit einem anderen Büschel Kräuter. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. „Ich werde Wasserfell Bescheid geben, sobald sie von ihrer Patrouille zurückkehrt.“
„Danke.“
Nachtpfote beugte noch einmal respektvoll den Kopf, dann lief sie an Hellpelz und Elsterkralle, die sich eine Maus teilten, vorbei zu Dreckpelz. Als sie ihn eingeholt hatte, kam sie rutschend vor ihm zum Stehen.
„Dreckpelz! Morgenstern hat angeordnet, dass ich dir bei deiner Arbeit helfe“, verkündete sie.
Der Kater hielt inne und legte seine Kräuter zu Boden, um sie anzusehen. „Tatsächlich?“
„Ja. Also … was kann ich für dich tun?“, wollte sie wissen.
Dreckpelz zögerte einen Augenblick. Sein Ohr zuckte, während er überlegte. Dann runzelte der Heiler die Stirn. „Mein Vorrat an Mohnsamen ist seit dem letzten Kampf erschöpft. Du kannst im umliegenden Unterholz welchen suchen. Den Mohn hier auf der Lichtung habe ich bereits gesammelt.“
Er erklärte Nachtpfote kurz, wie Mohn aussah und wo er zu finden war, und mahnte sie, sich nicht zu weit zu entfernen. Dann drehte er sich um und tappte in seinen behelfsmäßigen Bau – eine Mulde zwischen einem Felsen und einer jungen Buche – um weiter Kräuter zu sortieren.
Die schwarze Katze zögerte und überlegte, ihm zu folgen, um ihn direkt auf den Traum anzusprechen, entschied sich aber dann, zunächst die Aufgabe zu erledigen, die er ihr aufgetragen hatte. Danach würde sie weitersehen.
Mit einem Schwanzschnippen drehte Nachtpfote ab und tauchte ins Unterholz. Gerade als sie die Lichtung verließ, kehrte eine Jagdpatrouille zurück. Die Schülerin entdeckte Wasserfell, Wolkenschweif und Birkenschweif. Ihre Mentorin schien gut mit der gestreiften WurzelClan-Kriegerin auszukommen.
Sie beobachtete gerade, wie Birkenschweif mit einem Maul voller Frischbeute über etwas schnurrte, das Wasserfell gesagt hatte, als sich die Farnwedel vor ihr teilten und sie fast in Tannenpfote hineinlief, der ein Eichhörnchen von der Jagd mit sich brachte.
Überrascht wich Nachtpfote zurück und stolperte beinahe über ihre eigenen Tatzen. „Entschuldigung“, brachte sie hervor und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
Tannenpfotes gelbe Augen blinzelten belustigt. „Wohin geht's denn so eilig?“, nuschelte der grüngraue Kater, bevor sie sich verlegen ins Dickicht davonmachen konnte.
Nachtpfote scharrte mit den Krallen durch das Gras. „Ich werde Mohnsamen für Dreckpelz suchen.“
Tannenpfote stellte begeistert die Ohren auf. „Warte kurz, ich komme mit! Ich bringe nur schnell das Eichhörnchen weg.“
Dann war er im Gebüsch verschwunden.
Verdutzt schaute Nachtpfote ihm nach. Unwillkürlich musste sie an ihr Gespräch im Licht der Glühwürmchen denken, und an seine Worte.
Seit sie sich erinnern konnte, war Tannenpfote für sie da gewesen. Als Junge hatten sie, in Lilienfells weichen Pelz gedrückt, eng aneinander gekuschelt geschlafen. Gemeinsam hatten sie zum ersten Mal ihr Zuhause, das Lager des BlattClans, erkundet und waren mit einer Mooskugel durch die Senke getollt. Nachtpfote spürte ein Schnurren in ihrer Kehle aufsteigen. Er war auch die erste Katze gewesen, die sie nicht wie eine Fremde behandelt hatte.
Plötzlich raschelte der Farn und riss sie aus den Erinnerungen. Tannenpfote schlüpfte an ihre Seite.
„Es kann losgehen.“
Nachtpfote vertrieb jeden Gedanken an die Vergangenheit mit einem energischen Kopfschütteln und grinste. „Wer als Erstes Mohnsamen findet!“, rief sie und stürzte los in den Wald.
Sofort jagte Tannenpfote hinter ihr her; sie hörte sein Lachen und das Rascheln des Laubs unter seinen Tatzen. Nachtpfote lief noch schneller und ließ dabei den Blick durch das Unterholz schweifen auf der Suche nach den roten Blüten. Wind ging durch die Bäume und rüttelte an den Stämmen, bis die Blätter in einem wilden Tanz zur Erde trudelten. Es schien, als hätte Blattfall endgültig eingesetzt. Mit Unbehagen plusterte die schwarze Kätzin ihr Fell auf, der Gedanke an die kommende Kälte machte ihr Angst.
„Jetzt ist die Blattgrüne wirklich vorbei“, rief Tannenpfote hinter ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Nachtpfote drosselte das Tempo und ließ ihn aufholen, bis er neben ihr lief. „Sieht so aus“, antwortete sie ohne die Augen vom Schauspiel der fallenden Blätter abzuwenden.
Tannenpfote schwieg und Nachtpfote nahm an, dass ihm ähnlich düstere Sorgen durch den Kopf schossen.
Entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen, konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung und suchte das Dickicht weiter nach Mohn ab. Sie hatten inzwischen den Hang zu ihrer Trainingskuhle erklommen in der Hoffnung, im leichteren Gehölz fündig zu werden. An einer alten Kastanie trennte sich Tannenpfote von ihr und folgte einem Bach. Nachtpfote verließ die Grasfläche und tappte mit zuckenden Schnurrhaaren in die entgegengesetzte Richtung. Vorsichtig teilte sie Büsche mit den Pfoten, lugte unter die tiefhängenden Wedel einer Tanne und sprang sogar auf einen moosbedeckten Felsbrocken, um sich einen Überblick zu verschaffen. Doch Tannenpfote kam ihr zuvor.
„Ich hab' Mohn gefunden, ganz viel! Komm hierher!“, hörte sie seinen Ruf.
Mit einem Satz war Nachtpfote wieder unten und folgte seiner Stimme, bis sie ihren Freund in der Nähe des Wassers am Rand eines Grasstreifens fand. Wildes Gestrüpp wucherte über den Bach und schien ihn fast zu ersticken, lange Halme beugten sich bis in den Strom hinein. Tannenpfote stand ein paar Katzenlängen weiter und betrachtete zufrieden mehrere rote Blütenkelche, die auf dünn schwankenden Stängeln thronten. In all dem Grün stachen sie hervor wie ein Fuchs inmitten einer Schar von Kaninchen.
„Gut gemacht“, sagte Nachtpfote, als sie ihn erreicht hatte. „Dreckpelz wird bestimmt zufrieden sein.“
Tannenpfote warf ihr einen triumphierenden Blick zu. „Ich habe gewonnen. Ich habe den Mohn zuerst gefunden“, bemerkte er. „Was bekomme ich jetzt dafür?“
Nachtpfote kniff die Augen zusammen. „Wie wäre es mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Nase?“, knurrte sie und ließ ihre Tatze durch die Luft sausen.
Tannenpfote wich ihr lachend aus. „Wie wäre es mit einem großen Stück Frischbeute?“
„Du wirst noch dick, wenn du nicht aufpasst!“
Tannenpfote schnurrte. „Eine schöne Vorstellung.“ Er fuhr sich mit der Pfote über den Bauch, als stellte er sich vor, wie es sein könnte, dick zu sein. Dann fielen seine Augen wieder auf den Mohn und er wurde nachdenklich. „Die Frage ist, wie wir die Samen transportieren“, überlegte er.
Nachtpfote schaute sich die Blumen an. Zwischen den roten Blüten entdeckte sie einige der Samenkapseln, die Dreckpelz ihr beschrieben hatte. Dann packte sie kurzerpfote einen der Stängel mit den Zähnen und zerrte versuchsweise daran. Mit einem Ruck brach er ab und sie hatte die Pflanze im Maul. Der bittere Geschmack brachte ihre Nackenhaare zum Kitzeln.
„Ganz einfach“, sagte sie, nachdem sie den Stängel auf den Boden gelegt hatte. „Wir bringen den Mohn zu Dreckpelz und um den Rest kümmert er sich besser selbst.“
„Okay.“ Tannenpfote schnippte mit dem Schwanz und beugte sich vor, um ebenfalls eine Pflanze zu greifen.
Nachtpfote half ihm und zupfte so viel Mohn, bis ihr Maul so voll war, dass sie nicht mehr reden konnte. Am Ende bedeutete sie Tannenpfote mit einem Ohrenzucken, die Führung für den Rückweg zu übernehmen. Der grüngraue Kater lachte unterdrückt und trabte los.
Nachtpfote versuchte ihn mit einem Hieb zu erwischen, dann folgte sie ihm durch den Wald bis zur Lichtung.

 

„Gute Arbeit. Das dürfte fürs Erste reichen.“
Dreckpelz besah sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck den Haufen Mohnblumen, den die beiden Schüler gemeinsam gesammelt hatten. Seine Schnurrhaare zuckten. „Wie ich sehe, hattest du Hilfe, Nachtpfote. Gut so.“ Er nickte Tannenpfote beifällig zu.
Nachtpfote starrte auf ihre Zehen.
„Ich habe eine weitere Aufgabe für euch“, fuhr Dreckpelz fort. „Meine Vorräte an Spinnweben und Beinwell sind seit dem letzten Kampf zuneige gegangen. Ringelblume konnte ich bereits wieder auffüllen, nicht jedoch die anderen Mittel.“ Der Heiler hielt inne und warf einen missmutigen Blick auf den Mohn. „Und viele meiner Kräuter sind bei dem letzten Regen aufgeweicht.“
Nachtpfote hob bereitwillig den Kopf. „Wir werden noch einmal auf die Suche gehen.“
Tannenpfote nickte zustimmend. „Das machen wir. Wo finden wir Beinwell?“
Dreckpelz kratzte die Mohnstängel mit den Krallen zusammen. Rasch erklärte er den Schülern, wie die Pflanze zu finden war.
Nachtpfote schloss die Augen versuchte sich das Bild, das seine Beschreibung in ihren Kopf zeichnete, einzuprägen. Erst als sie und Tannenpfote sich kurz darauf in Bewegung setzten, wurde ihr klar, dass sie die Gelegenheit verpasst hatte, den Heiler auf ihren Traum anzusprechen.
„Am besten suche ich dieses komische Kraut und du die Spinnweben“, schlug Tannenpfote auf dem Weg ins Unterholz vor.
Nachtpfote betrachtete ihn von der Seite und ihr entging nicht der beunruhigte Ausdruck auf seinem Gesicht. „Warum?“, fragte sie, doch im selben Augenblick fiel es ihr ein. „Nein!“, rief sie ungläubig.
Der grüngraue Kater schaute etwas zu angestrengt auf den Boden.
„Tannenpfote, sag mir nicht, dass du immer noch Angst vor Spinnen hast!“ Nachtpfote starrte ihn an und konnte nicht verhindern, dass ihr ein Kichern in der Kehle aufstieg. „Du fürchtest dich vor Spinnen? Den kleinen Krabbeldingern?“
„Hast du sie dir mal von Nahem angesehen?“, verteidigte sich ihr Freund. „Die sind so gruselig!“
Nachtpfote lachte. „Nein, habe ich nicht.“
„Dann hast du keine Ahnung.“
Empört zuckte Tannenpfote mit den Ohren, aber er konnte sein gesträubtes Rückenfell nicht verbergen. „Bitte sag es nicht Wüstenpfote, okay?“ Er schüttelte sich angewidert. „Sonst wache ich morgen früh mit einem Spinnennest in meinem Moospolster auf.“
Nachtpfote schnurrte. „Na gut.“ Dann kniff sie die Augen zusammen und stieß ihn in die Seite. „Pass auf, ich bin eine Spinne! Gleich fresse ich dich!“
„Hör auf!“ Tannenpfote langte mit der Tatze nach ihr, aber es fiel ihm schwer, ein Grinsen zu verbergen. „Kannst du jetzt das Spinnenzeugs für mich machen oder nicht?“
Die schwarze Kätzin legte den Kopf schief, als würde sie die Möglichkeiten überdenken. Dann gab sie einen gespielten Seufzer von sich. „Einverstanden.“
„Danke.“
„Na dann los. Gehen wir auf Spinnenjagd.“
Wie eben auch nahm Nachtpfote einen eigenen Weg und trabte ins Gebüsch davon. Da Dreckpelz ihnen erklärt hatte, wo der Beinwell zu finden war, sollte Tannenpfote keine Schwierigkeiten haben. In der Zwischenzeit suchte die schwarze Kätzin verschiedene Sträucher und Büsche nach Spinnweben ab. In Gedanken rutschte sie zurück zu Wolkes Prophezeiung und ärgerte sich darüber, nicht vorhin mit Dreckpelz geredet zu haben. Jetzt wo Tannenpfote dabei war, traute sie sich nicht. Sie seufzte und langte nach einem dicken Spinnennetz, das zwischen den Zweigen einer Brombeere gespannt war. Eine Spinne huschte über die Blätter davon.
Weil sie die Weben mit dem Maul nicht transportieren konnte, versuchte Nachtpfote, sie sich wie einen Verband um die Vorderpfote zu wickeln. Die klebrigen Fäden klammerten sich so dicht an ihr Fell, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob sie sie jemals wieder loswerden würde.
Nachdem Nachtpfote eine gute Menge Spinnweben gesammelt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Tannenpfote und fand ihn schließlich in der Nähe eines Seitenarms des Flusses. Die Sonne hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein großes Stück Weg hinter sich gebracht. Als der ältere Schüler sie bemerkte, spuckte er eine Reihe dunkelgrüner Blätter aus und schüttelte enttäuscht den Kopf.
„Diese blöde Pflanze“, klagte er. „Ich hatte noch nie so etwas Widerliches im Maul!“
Nachtpfote schnurrte. „Schau mich an“, sagte sie und hob die Vorderpfote, um ihm die Spinnweben zu zeigen. „Mein ganzes Fell klebt von diesem Zeug!“
„Bleib bloß weg damit!“ Mit einem Satz wich Tannenpfote zurück. Im nächsten Moment verzog er angewidert das Gesicht. „Ich glaube nicht, dass ich den Geschmack je wieder vergessen kann. Dieses komische Kraut schmeckt schlimmer als Krähenfraß!“
Nachtpfote rümpfte die Nase und konnte ein Schnurren nicht unterdrücken.
Jetzt lachte Tannenpfote ebenfalls. „Na warte!“ Der Kater kam vor und patschte ihr mit der Pfote auf die Schnauze.
Nachtpfote erstarrte und der eklige Geruch des Beinwells stieg ihr in die Nase. „Ist das widerlich!“, rief sie und schmierte ihm die Spinnweben ins Gesicht.
Tannenpfote prustete.
In diesem Augenblick knackte es im Gebüsch.
Die beiden Schüler verstummten schlagartig. Nachtpfote wirbelte herum und warf einen Blick in das Unterholz. Sie hatte nicht bemerkt, wie tief die Schatten mittlerweile unter den Bäumen hingen. Der Wind war zu einer schwachen Brise abgeflaut und brachte die Buchenblätter zum Wispern. Erst jetzt wurde ihr klar, dass kein einziger Vogel mehr zwitscherte.
„Wer ist da?“, fragte Tannenpfote unsicher. Sein Nackenfell sträubte sich.
Keine Antwort.
Eine Maus?, schoss es Nachtpfote durch den Kopf.
Da raschelte es erneut und eine Stimme höhnte: „Sieh dir das an. Zwei Schüler, die mit Pflanzen spielen!“
Dann ein Kichern.
Es klang ganz und gar nicht wie eine Maus.
Nachtpfote unterdrückte ein Wimmern. Sie warf Tannenpfote einen ängstlichen Blick zu, aber ihr Freund hatte nur Augen für das Gestrüpp, aus dem die schreckliche Stimme gekommen war. Sie schluckte. In der Stille des Waldes hämmerte das Blut in ihren Ohren wie laute Pfotenschläge. Mit in den Boden gegrabenen Krallen konnte sie nur einen einzigen klaren Gedanken fassen.
Wer immer das auch ist, er ist kein Freund.

Notes:

Heyy, ich habe eine Weile kein neues Kapitel mehr hinzugefügt :) ich werde versuchen, häufiger daran zu denken ^^
Es kommen immerhin noch einige!

Chapter 12: Die Entführung

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Jib erwachte so plötzlich, dass es ihm vorkam, als hätte er gar nicht geschlafen.
Er blinzelte in das Sonnenlicht, das schräg durch den Eingang der Baumhöhle fiel. Staubkörnchen wirbelten durch den Lichtstrahl und Jib erkannte, dass es noch Stunden dauern würde, bis die Nacht hereinbrach. Sein erster Instinkt sagte ihm, den Kopf wieder unter die Federn zu stecken und zu versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Aber irgendetwas ließ ihn innehalten. Blätter raschelten dort draußen im Wind. Die warme Sonne schien ihn auf eine stille, sanfte Art zu sich zu locken. In diesem Moment war sie interessanter als alles, was Jib bisher gesehen hatte. Und plötzlich war an Schlaf nicht mehr zu denken.
Ganz vorsichtig wühlte die junge Eule sich aus dem Moos, um ihre Geschwister nicht zu wecken. Sylph und Nova schliefen so eng beisammen, dass ihre Federkleider wie Wasserstrudel ineinander flossen. Ikarus kauerte in der dunkelsten Ecke der Höhle, die Augen geschlossen. Jib vergewisserte sich, dass auch er schlief, und krabbelte aus dem Nest in Richtung Licht. Beinahe lautlos gelangte er an den Eingang des Astlochs, seine Krallen schlossen sich um die Rinde. Dann schlüpfte er hinaus.
Die Helligkeit traf ihn wie eine heiße Welle. Erschrocken kniff Jib die Augen zusammen und wartete darauf, dass sie sich an das Licht gewöhnten. Helle Flecken tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern. Die Wärme der Sonne legte sich überdeutlich auf jede seiner Federn. Obwohl seine Augen schmerzten, konnte er sich kaum beherrschen, sie nicht aufzureißen. Denn unter seinem Ast erstreckte sich eine neue Welt.
Jib konnte kaum glauben, dass es derselbe Wald war, den er noch in der vorigen Nacht im Schein des Mondes betrachtet hatte. Alles, das er nur schwarz und grau kannte, war grell und bunt; ja, es schien praktisch zu leuchten. Die Blätter der Bäume hatten Farben, die er nicht kannte.
Der Bach, der am Waldboden durch das Unterholz floss, fing die Sonnenstrahlen ein und reflektierte sie mit einer Intensität, dass Jib die Federn zitterten. Er wagte einen Blick in den Himmel und kniff die Augen gleich wieder zu. Der Umriss der Sonne brannte runde Scheiben in sein Sichtfeld. Sie glühte so heftig, dass es Jib schmerzte.
Wie blau der Himmel ist!
Noch mit geschlossenen Augen konnte er ihn vor sich sehen: Ohne einen einzigen Stern, so strahlend blau wie Jib es niemals für möglich gehalten hätte, bedeckt von viel zu hellen, weichen Wolken. Jib schwankte unter dem Ansturm an Eindrücken und konnte sich gleichzeitig nicht satt sehen an ihrer Pracht.
So sieht also der Tag aus …
Sogleich kamen ihm die Worte seines Vaters in den Sinn, die er ihnen eingebläut hatte. „Geht niemals bei Tageslicht nach draußen.“
Mit einem unangenehmen Kribbeln in der Brust drehte sich Jib zum Astloch um. Ikarus schlief noch, seine Geschwister ebenfalls. Aber er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie erwachten. Er musste zurück, sich wieder in das weiche Moos kuscheln, Seite an Seite mit den anderen Jungeulen. Er wusste es, und doch konnte er sich nicht dazu entschließen, wieder hineinzugehen. Unsicher verweilte er auf dem Ast, die Federn gegen die kühle Brise gestellt.
Die Sonne kroch ein Stück über den Himmel. Irgendwo schrie ein Tier, das Jib nicht kannte. Ohne weiter nachzudenken, breitete er die Flügel aus und schwang sich in die Luft.

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Zwei Katzen stürzten aus dem Dickicht.
Nachtpfote wich erschrocken zurück, als die Neuankömmlinge sich angriffslustig vor ihr und Tannenpfote aufbauten. Breite Schultern schirmten das Sonnenlicht ab und legten tiefe Schatten über das Gehölz. Kalt glitzernde Augen richteten sich auf sie, gleich darunter gebleckte, weiße Zähne. Zu Nachtpfotes Entsetzen kannte sie die beiden Katzen und ihre Rolle bei der letzten Großen Versammlung war ihr noch schmerzhaft in Erinnerung.
Das Fell auf Bärentatzes Rücken war gefährlich gesträubt und seine mächtigen Pfoten zermalmten das Gras, das sie berührten. Mit schief gelegtem Kopf stierte er auf die Schüler hinunter, die Schultern so kräftig, dass er es fast mit Messerzahn hätte aufnehmen können.
Der Kater an seiner Seite war schmaler, aber er jagte Nachtpfote mehr Angst ein, als Bärentatze es je vermocht hätte. Den eisigen Blick unverwandt auf ihren Pelz gerichtet, zuckte Schattenkralle mit dem Schwanz und fuhr die Klauen aus. In seinem Fell schien jedes Bisschen Licht zu erlöschen. Mit einer Eleganz, die einem lauernden Raubtier gleichkam, machte er einen Satz nach vorn, aber er griff nicht an.
Als Nachtpfote sich ihm jetzt gegenübersah, stiegen in ihr die Bilder hoch von jener schicksalhaften Nacht, in der der WurzelClan über ihr Lager hergefallen war und sie aus ihrem Territorium gejagt hatte. Sie konnte wieder das stachelige Gras spüren, in das sie sich geduckt hatte, als die Feinde nur einen Katzensprung entfernt waren, und Schattenkralles glühende Augen, die das Gebüsch so akribisch nach einer Bewegung abgesucht hatten, dass sie kaum zu atmen wagte. Die Angst, die sie damals empfunden hatte, kehrte zurück wie eine schwarze Welle und spülte über ihren Körper, bis sie völlig gelähmt war.
Plötzlich war Tannenpfote an ihrer Seite und streifte beruhigend ihre Flanke. „Ihr habt hier nichts verloren“, rief er mit fester Stimme, obwohl Nachtpfote fühlen konnte, wie er zitterte. „Geht zurück in euer eigenes Territorium.“
Bärentatze, der neben Schattenkralle getreten war, stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Nichts verloren?“, fragte er gespielt erstaunt. „Das BlattClan-Gebiet gehört bereits uns. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis Zapfenstern den gesamten Wald eingenommen hat. Du siehst also – wir sind in unserem Territorium!“ Bärentatze warf den Kopf zurück und lachte.
Schattenkralle bleckte die Zähne und durchbohrte mit seinen Krallen einen Grashalm. „Und wenn wir Eines nicht leiden können“, knurrte er, „dann sind es Eindringlinge.“ Ohne Vorwarnung schoss der schwarze Kater vor.
Nachtpfote schrie auf, als Schattenkralle auf Tannenpfote losging. Mit einem Satz war er auf dem Rücken des Schülers und warf ihn zu Boden. Tannenpfote keuchte und versuchte sich zu befreien, während der WurzelClan-Krieger mit den Klauen in seinen Pelz fuhr. Nachtpfote stieß ein Heulen aus und wollte ihrem Freund zu Hilfe kommen, aber Bärentatze war schneller. Mit einem Sprung war er zwischen ihr und den Kämpfenden und versperrte den Weg.
„Was denkst du, wohin du gehst?“, fauchte er.
Die Kätzin schluckte und bohrte ihre Krallen in die Erde. Sie würde nicht zurückweichen, auch wenn Bärentatze doppelt so groß war und seine Schultermuskeln sich deutlich unter dem dichten Pelz abzeichneten. Sie würde nicht davonlaufen und Tannenpfote im Stich lassen!
Noch während der braune Kater lachte und mit seiner Tatze nach ihr schlug, preschte sie vor. Mit einem Satz war sie auf seinem Rücken und rammte ihre Zähne in sein Fleisch. Bärentatze wankte und schrie überrascht auf. Er warf den Kopf herum und versuchte, sie zu packen, aber da war Nachtpfote schon nach unten geglitten und stieß dem massigen Krieger mit aller Macht die Vorderpfoten unter dem Körper weg. Der Feind fiel schwer zu Boden. Noch in derselben Sekunde war die Schülerin zurückgewichen und schnappte nach Luft.
Er darf mich nicht erwischen, dachte Nachtpfote, die Trainingseinheit mit Blattsprenkel und Wolkenschweif noch vor Augen, Wenn er mich einmal gepackt hat, bin ich Krähenfraß.
Bärentatze knurrte voll unterdrückter Wut und stemmte sich hoch. Jetzt hielt er den Kopf gesenkt und musterte seine Gegnerin aus schmalen Augen. Ein zweites Mal würde er Nachtpfote wohl nicht unterschätzen.
Nachtpfote straffte ihre Schultern und brachte die Beine zurück in eine sichere Position. Das Gras schnitt in ihre Ballen, während sie auf den nächsten Angriff wartete. Der kam schon einen Herzschlag später, als eine krallenbesetzte Tatze auf ihren Kopf zu flog. Sie konnte ihr nur knapp entkommen und nutzte die Lücke in der Verteidigung des Kriegers, um ihm mehrere schnelle Hiebe beizubringen. Mittlerweile protestierten ihre Muskeln vor Anstrengung. Bärentatze brüllte frustriert und taumelte. Nachtpfote sah ihre Chance und rammte ihn in die Seite. Doch bei seinem Sturz riss er die Schülerin mit sich.
Nachtpfote jaulte bestürzt auf, ihre Pfoten verloren den Halt. Ihr Schrei erstarb, als sie auf den harten Waldboden traf. Einen Augenblick konnte sie nichts sehen; ihr blieb die Luft weg, aber als sie das Maul aufriss, um Atem zu schöpfen, quetschte ein bleiernes Gewicht ihr die Lunge. Er rollte sich über sie!
Mit einem gehässigen Lachen drückte Bärentatze sie so fest zu Boden, dass Nachtpfote das Blut in den Schädel schoss. Schwarze Punkte tanzten wild vor ihren Augen. Verzweifelt trat sie ihm die Hinterpfoten gegen Bauch, doch Bärentatze knurrte nur und drückte noch fester. Der nächste Tritt war viel zu schwach. Die schwarzen Punkte wurden zu Flecken und die ballten sich zu einer schwarzen Wand zusammen.
Hilfe! Ich bekomme keine Luft!
Nachtpfote trat nochmals zu. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Brustkorb. Sie hätte geschrien, wenn noch genug Luft in ihren Lungen gewesen wäre.
Plötzlich war Bärentatzes Schnauze dicht an ihrem Ohr. „Was habt ihr mit Birkenschweif und den anderen gemacht?“ Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht, aber Nachtpfote hörte seine Worte kaum. „Ihr habt sie bei euch, nicht wahr?“ Erneut fraßen sich heftige Schmerzen durch ihren Brustkorb, und auch ihr Bein pochte unangenehm.
„Ihr entführt unsere Katzen?!“, schrie Bärentatze. „Zahlt den Preis!“
Gerade als Nachtpfote dachte, nun würde sie tatsächlich ersticken, löste sich endlich das Gewicht von ihrem Rücken. Gierig saugte sie Luft in ihre Lungen, hustete und würgte an dem Dreck. Die schwarzen Punkte tanzten an den Rand ihres Blickfelds und sie konnte ihre Pfoten wieder fühlen. Mit zitternden Beinen versuchte sie aufzustehen, stürzte und kämpfte sich wieder hoch. Die Gedanken gingen ihr wirr durch den pochenden Schädel, mit einem Ächzen versuchte sie das Entsetzen abzuschütteln, das sie von der Nase bis zur Schwanzspitze erfüllte.
Warum hat Bärentatze mich verschont?
Ihre Augen schmerzten, als sie sich aufrichtete, ihr Herz pochte wie wild im stechenden Brustkorb und ihre Beine fühlten sich seltsam leicht an. Hustend und jede Sekunde einen erneuten Angriff erwartend, drehte die Schülerin sich um und starrte ins Gebüsch.
Es war katzenleer. Nachtpfote war allein.
Nur das schwere Trommeln von Pfoten verriet, wie Bärentatze und Schattenkralle durch das Unterholz flohen. Die Zweige eines Weißdorns schaukelten verdächtig. Warum hatten sie es nicht zu Ende gebracht? Bärentatze war die letzte Katze gewesen, von der sie Skrupel erwartet hatte. Sie blinzelte erneut und die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Tannenpfote! Wo ist Tannenpfote?!
Nachtpfote keuchte vor Entsetzen. Der Boden war aufgewühlt und blutgetränkt von ihrem Kampf, das Gras lag büschelweise ausgerissen herum. Von Tannenpfote keine Spur. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie rang nach Luft, während jeder Atemzug schwarze Teiche über ihr Sichtfeld schickte. Ihre Tatzen drohten, unter ihr nachzugeben.
Nein! Bitte, SternenClan, lass es nicht wahr sein!
Mit einem wütenden Schrei schlug Nachtpfote sich ins Dickicht. Ihre Hinterbeine knickten ein und sie ging zu Boden. Fauchend zog sie sich wieder hoch. Eine Welle von Schmerz fuhr durch ihr rechtes Hinterbein. Nachtpfote jaulte auf und betrachtete es. Bärentatze hatte die Zähne tief in ihr Fleisch gegraben, dunkelrotes Blut quoll aus der Wunde. Wie ein Strom wanderte es ihr Bein hinunter und tropfte auf das Laub. Die Schülerin biss ihre Zähne zusammen. Sie versuchte, das Bein zu belasten, aber es hielt ihrem Gewicht nicht stand. Sie wimmerte, als eine neue Schmerzenswelle über ihren Rücken griff.
Ich kann sie nicht verfolgen. Ich werde sie niemals einholen!
Verzweifelt bohrte sie ihre Krallen in die Erde. Die Gewissheit, dass ihre Feinde Tannenpfote etwas Schreckliches antun würden, schickte ein drängendes Klingeln durch ihre Ohren.
Ich kann ihnen nicht folgen, aber ich kann Hilfe holen.
Nachtpfote knurrte entschlossen.
Ich kann Hilfe holen!
Der neue Gedanke war der winzige grüne Grashalm, an den sie sich jetzt klammerte. Wenn es ihr nur möglich war, ihre Clangefährten zu erreichen, würden sie Tannenpfote retten.
Mit der Kraft, die noch in ihren Muskeln steckte, schleppte sie sich durch das Unterholz.
Tannenpfote, ich werde dich nicht im Stich lassen. Wir kommen.
Jeder Herzschlag erinnerte sie an Schattenkralles eiskalten Blick, an die Luft, die ihr aus der Brust gedrückt wurde, und das Geräusch der Pfoten ihrer Feinde, als sie geflohen waren. Mit Tannenpfote – dessen Leben nun von ihr abhing.
Halte durch. Bitte halte durch.

 

Noch bevor sie die Lichtung am Fluss erreichte, kam ihr Rauchfuß entgegen. Der WurzelClan-Älteste hatte sich an einen bemoosten Fels geduckt und schien nach Beute zu lauschen. Als er sie bemerkte, sprang er überrascht auf.
„Nachtpfote? Alles in Ordnung?“ Er hielt inne und Nachtpfote sah, wie sein Blick auf ihre Verletzungen fiel. „Beim SternenClan, was ist mit deinem Bein passiert?“
Wie betäubt starrte Nachtpfote an sich herunter. Noch immer floss dunkles Blut aus der Wunde, ihr Bein hatte begonnen, unkontrolliert zu zucken. Die Versuchung, sich von den Tatzen zu werfen und erschöpft die Augen zu schließen, war übermächtig.
Nein, auf keinen Fall! Tannenpfote ist in Gefahr!
Nachtpfotes Sichtfeld schlingerte. „Wir sind angegriffen worden … von Bärentatze und Schattenkralle …“, brachte sie mühsam hervor. „Sie haben Tannenpfote. Wir müssen … ihm helfen.“
Ihre Beine gaben nach. Nachtpfote fiel ins Laub, braune Blätter stoben auf und legten sich sachte auf ihren Rücken. Sie seufzte und schloss die Augen. Alle Kraft hatte sie verlassen.
„Dreckpelz! Ich hole Dreckpelz“, hörte sie Rauchfuß noch rufen, anschließend seine sich entfernenden Schritte.
Dann herrschte Stille.
Sonnenstrahlen brannten auf ihr Fell und versetzten sie in eine seltsam behagliche Gleichgültigkeit. Selbst der Schmerz war in weite Ferne gerückt, sie spürte ihren Körper kaum mehr. Eine Weile war sie nicht sicher, ob sie überhaupt noch lebte.
Irgendwann kehrte Rauchfuß mit dem Heiler im Schlepptau zurück. Dreckpelz hatte mehrere Packen Spinnweben im Maul, die er neben Nachtpfote auf den Boden fallen ließ, um ihren Hinterlauf zu untersuchen. Die Schülerin spürte seine Zunge kaum, die ihre Wunde säuberte. Sie wusste, dass Dreckpelz die Spinnweben fest auf ihr Bein drückte und dass es eigentlich sehr schmerzhaft sein müsste, trotzdem konnte sie nur an Tannenpfote denken.
„Es wird schon wieder“, sagte Dreckpelz, während er eine letzte Lage Spinnweben auf ihr Bein drückte. „Und nun möchte ich wissen, wie das geschehen ist.“
Rauchfuß stand eine Fuchslänge entfernt, das Gesicht von Besorgnis und Verwirrung gezeichnet. „Sie hat etwas von einem Angriff gesagt“, miaute er mit hohler Stimme.
Nachtpfote öffnete die Augen und zwang sich in die Wirklichkeit zurück. „Wir haben Beinwell gesucht …“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Tannenpfote …“
„Wo ist er?“, fragte Rauchfuß.
„Rauchfuß“, knurrte Nachtpfote mit letzter Kraft. „Tannenpfote wurde entführt … Schattenkralle und Bärentatze haben uns angegriffen …“
„Schnell.“ Dreckpelz erhob sich. „Rauchfuß, Morgenstern muss davon erfahren!“
Durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hörte Nachtpfote, wie sich die Schritte des alten Katers im Wald verloren.
Bitte lass sie nicht zu spät kommen,schoss es ihr durch den Kopf. Sie schloss die Augen und betete zum SternenClan.
Halte durch.

 

Dreckpelz stützte sie auf dem Weg zum Fluss. Die letzten Schritte trug er sie fast. Als sie die Lichtung erreichten, kam Feuerpelz angerannt und drückte sich an ihre andere Flanke. Gemeinsam hievten die beiden Kater Nachtpfote an den Rand der Grasfläche zwischen die Wurzeln einer alten Eiche. Entsetztes und mitleidiges Murmeln anderer Katzen schwemmte von allen Seiten über Nachtpfotes Pelz, aber die Flecken vor ihren Augen machten es unmöglich, jemanden zu erkennen, und ihre Stimmen vereinten sich zu einem einzigen ängstlichen Jaulen.
Dreckpelz befahl ihr, sich nicht zu rühren, aber das wäre nicht nötig gewesen. Die schwarze Katze lag zusammengekauert im Gras und zuckte mit keinem Schnurrhaar. Das Rauschen in ihren Ohren schwoll an, bis es so laut war, dass sie nichts anderes mehr hörte. Die Zeit war für sie stehen geblieben.
Hinter geschlossenen Lidern sah sie nichts als Tannenpfotes Gesicht, wie er auf dem Haufen ausgerissener Beinwellstängel saß und mit gesträubtem Fell über den bitteren Geschmack der Pflanzen klagte.

 

Messerzahn stürzte durch das Unterholz voran. Blattsprenkel, Fleckenfell, Wolkenschweif und Nassfuß waren ihm dicht auf den Pfoten. Die Zähne gebleckt und die Krallen geschärft, waren sie zu allem bereit, um Tannenpfote zu retten. Als die Grenze zu ihrem einstigen Territorium in Sicht kam, zögerten die Katzen keine Sekunde, sie zu überqueren. Hier kannten sie sich aus. Jede Lichtung, jeder Baum, jeder Grasfleck, jeder Bach und jeder Stein war ihnen vertraut. Nicht einmal im Schlaf hätten sie sich verlaufen.
Messerzahn führte sie mit weit ausgreifenden Schritten und auf schnellstem Weg zum Großfelsen – dem Versammlungsort – an dem sich die zwei Clans noch vor Kurzem einen erbitterten Kampf geliefert hatten.
Mit einem Schwanzschnippen bedeutete der massige Kater den anderen zu warten und überprüfte das gegenüberliegende Ufer des Flusses, der über die Lichtung floss. Dann gab er das Zeichen und ließ sich ins kühle Wasser gleiten. Seine Krieger folgten ihm.
Sobald die Gruppe aus dem Fluss tauchte und das Gebiet des WurzelClans betrat, drosselte sie das Tempo und bewegte sich auf stillen Pfoten voran.
Messerzahn war sich jeden Herzschlag bewusst, dass seine Tatzen fremden Grund berührten. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, führte er seine Gefährten über einen schmalen Wildwechsel zum Lager des WurzelClans. Die Äste der Fichten schwankten knapp über ihren Köpfen, gelegentlich fuhr ihnen einer wie eine haschende Pfote über das Rückenfell. Messerzahn spannte die Muskeln in Erwartung eines Angriffs, aber der Wald blieb still.
Als die Gruppe das Lager zwischen den schwarzen Baumstämmen ausmachen konnte, schnippte der zweite Anführer des BlattClans energisch mit dem Schwanz.
„Jetzt keinen Laut mehr“, flüsterte er. Ein grimmiges Knurren grollte in seiner Kehle. „Wir wollen sie überraschen …“

Notes:

Tannenpfote wurde entführt! ;-; Wird es der Patrouille gelingen, ihn zurückzubringen?

Chapter 13: Enttäuschung

Chapter Text

Unsanft knallte Jib auf den Waldboden. Mit einem erschrockenen Piepsen versank der Eulerich im tiefen Laub, das die Erde und die knorrigen Wurzeln bedeckte. Die Blätter wirbelten auf und griffen wie Krallen nach seinen Flügeln, versuchten ihn nach unten zu ziehen. Jib strampelte, tastete mit den Füßen nach Halt und zog sich aus der Laubschicht. Das Rascheln und Knistern der Blätter war so laut, dass ihm die beklemmende Stille, die anschließend zwischen den nebligen Baumstämmen herrschte, nur noch deutlicher bewusst wurde.
Verwirrt schüttelte Jib sich einen Moosklumpen von der Schulter. Sein Gefieder war über und über mit Dreck verspritzt, aber zumindest schien er sich bei dem Fall nichts getan zu haben. Mit einem unangenehmen Ziehen im Magen starrte der den Stamm des Baumes hinauf, in dem Ikarus und seine Schwestern jetzt friedlich schliefen. Wie hatte es nur dazu kommen können? Wie hatte er so töricht sein können, sich aus der Sicherheit der Baumhöhle in den Tag hinaus zu begeben? Angst kroch durch seine Federn, als er verstand, was der Sturz für ihn bedeutete.
Ein Windstoß fegte über den Waldboden, zerrte an Jibs Körper und brachte ihm unbekannte Gerüche mit sich. Er lauschte, als erwartete er eine Antwort auf seine Gedanken, aber da war nur der Wind und sein unheimliches Wispern in den Ästen.
Was kann ich tun?, dachte er. Um Hilfe rufen?
Sein Blick wanderte über das tageshelle Unterholz und noch einmal die große Tanne hinauf. Der Himmel begann sich zu verändern und schimmerte in Farbtönen, die er noch nie gesehen hatte. Aber die Faszination, die Jib noch eben auf seinem Platz vor dem Astloch verspürt hatte, war einem nagenden Angstgefühl gewichen. Was hatte Ikarus gesagt? Für eine junge Eule gibt es keinen gefährlicheren Ort als den Waldboden? Sein Herz hämmerte viel zu laut. Es waren viel mehr Geräusche im Wald, als er jemals erwartet hätte. Zusätzlich zu denen, die der Wind verursachte, war das Dickicht von Rascheln und Knacken und dem Trippeln winziger Mäusepfoten erfüllt. Hin und wieder hörte er einen Vogel rufen und etwas wühlte durch die Farnwedel in seiner Nähe.
Jib schluckte und rieb sich nervös die Flügel. Er wollte nach seiner Familie rufen, aber der Laut blieb ihm im Hals stecken. Das Dickicht schien Augen zu haben, tausende Augen, die ihn zwischen Zweiggewirr und Blätterlücken zu beobachten schienen, mit Pupillen so schmal wie Eulenklauen. Ihm kamen die Kreaturen in den Sinn, vor denen sein Vater immer gewarnt hatte, mit Fell statt Federn und dornenscharfen Zähnen im Gesicht.
Ich bin verloren.
Ins Laub gekauert blieb er hocken, ohne Möglichkeit, seine Familie zu erreichen, die nur wenige Flügelschläge entfernt war. Er überlegte, ob er versuchen sollte, nach oben zu fliegen, aber Zweifel begannen unter seine Haut zu kriechen. Er war sich nicht sicher, wie er sich aus eigener Kraft in die Luft erheben sollte. Bisher hatte er sich immer nur von einem Ast fallen lassen und war zum nächsten geglitten. Die Sorge, dass er scheitern könnte und einen lauernden Feind auf sich aufmerksam machte, hielt ihn zurück. Er warf einen Blick hinter sich. Die Sonne schickte ihre Strahlen schräg durch die Baumwipfel und ließ die Blätter glühen.
Warum bin ich nicht einfach in meinem Nest geblieben?
Frustriert dachte er daran, wie die hellen Sonnenstrahlen ihn gelockt hatten. Und dann hatte er die Baumhöhle verlassen. Sein Vater, seine Geschwister, keiner hatte ihn bemerkt. Weil er davongeschlichen war.
Wenn ich es bis zum Einbruch der Nacht schaffe, vielleicht habe ich dann eine Chance.
Hoffnungsvoll spähte Jib zu den Wipfeln hinauf, die in den aufkommenden Schatten versanken. Die Sonne stieg den Himmel herab und würde bald hinter dem Horizont verschwinden. Der Wind brachte die erste Kühle der Dämmerung mit sich. Möglicherweise würde Ikarus bald aufwachen und sein Fehlen bemerken. Jib plusterte sein Gefieder auf und dachte mit einem Stich an das weiche warme Moosnest, das er so bereitwillig zurückgelassen hatte.
In diesem Moment knackte ein Zweig im Unterholz. Jib fuhr zusammen. Ein Rascheln folgte, dann herrschte wieder Ruhe. Der Jungeulerich konnte jedoch das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden. Ängstlich spannte er die Muskeln an, um sein Zittern zu unterdrücken, aber es wollte nicht funktionieren. Bedacht, keine Bewegung zu machen, ließ er seinen Blick durch das Dickicht wandern und durchsuchte das Zwielicht nach der Ursache des Geräuschs. Sein Herz setzte aus, als er zwei giftgrüne Augen erblickte, die aus einem Busch direkt zu ihm hinüber funkelten.
Jib keuchte, bereit auf der Stelle mit den Flügeln zu schlagen und sich zu verteidigen. Doch bevor er blinzeln konnte, waren die Augen verschwunden. Von einer Sekunde zur anderen blieb nur gähnende Finsternis zurück. Jib kauerte sich dichter in das Laub. Mit angehaltenem Atem spähte er zu dem Busch. Nichts bewegte sich.
Irgendwo schrie ein Vogel.
Die Nerven der jungen Eule waren zum Zerreißen gespannt.
Gleich frisst es mich, dachte Jib mit klopfendem Herzen. Es springt aus dem Gebüsch und frisst mich mit Haut und Federn!
Unfähig sich zu rühren, starrte er und hörte schon den Schrei des Ungetüms, das sich gleich auf ihn werfen würde.
Aber kein Busch zitterte. Das Laub hielt still. Gar nichts regte sich mehr.
Jib reckte den Kopf.
Ist es weg?

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Auf Messerzahns Zeichen stürzten die Krieger der BlattClan-Patrouille aus dem Dickicht. Der Boden bebte unter den Schlägen ihrer Pfoten, als sie mit gezückten Krallen in das Lager des feindlichen Clans stoben.
Der WurzelClan lebte in lichtem Gelände. Der größte Teil ihres Territoriums bot wenig Deckung, weil die hochgewachsenen Nadelbäume kaum Licht auf den Waldboden fallen ließen, in dem ausladendes Gebüsch hätte wachsen können. Aber an dieser Stelle standen die Fichten nicht so dicht und das Lager, das der WurzelClan hier errichtet hatte, war von stacheligen Schlehenhecken umgeben.
Als Messerzahn durch die Hecke auf die staubbedeckte Lichtung brach, seine Katzen dicht auf den Fersen, erhoben sich erschrockene Schreie um sie herum. Zwei Krieger, die ihnen am nächsten waren – Donnersturm und Rußwind – hockten an einem reich bestückten Frischbeutehaufen und fraßen. Sobald sie sich Messerzahns Patrouille gegenübersahen, ließen sie ihr Essen fallen und sprangen auf die Pfoten. Schneeregen, die das Lager mit Tigerauge und Aschenherz hatte verlassen wollen, wirbelte herum und zischte bedrohlich. Schwarzohr und Löwenbart jagten vom anderen Ende der Lichtung herüber, um sich mit gesträubten Pelzen vor den Eindringlingen aufzubauen. Ihre Blicke waren schärfer als Krallen.
Messerzahn überblickte rasch die Lage. Sieben Katzen knurrten ihm auf der Lichtung entgegen. In der Nähe des Frischbeutehaufens, an dem Donnersturm und Rußwind noch eben gefressen hatten, erhob sich eine erdige Böschung, in der sich zwei im Schatten liegende Baue befanden. Weitere Katzenköpfe schoben sich durch die Öffnungen, vorbei an den knorrigen Wurzeln, die wie verdrehte Pfoten aus der Erde ragten.
Messerzahn grub die Krallen in den Boden. Er war sich keinesfalls sicher, ob sie einen Kampf würden vermeiden können. Mit schmalen Augen starrte er den Fels hinauf.
Zapfenstern hatte sich nicht gerührt, seit die Patrouille des BlattClans aus dem Unterholz gestürzt war. Die Pfoten überschlagen, thronte er auf dem Hochstein: ein dunkler, schiefer Felsen, der wie ein schlafendes Ungeheuer auf der Lichtung kauerte. Sein Fell kräuselte sich in der Brise und sein gelber Blick lag unverwandt auf Messerzahn. Ein beinahe vergnügtes Lächeln umspielte seine Schnauze.
Der braun getigerte Kater mühte sich, sein Rückenfell flach zu halten. Mit steifen Schritten trat er vor, ohne das aggressive Fauchen der WurzelClan-Krieger zu beachten. Giftige Blicke trafen ihn von allen Seiten, doch ohne Zapfensterns Befehl rührte keiner von ihnen eine Tatze. Bloß Schwarzohr kam Nassfuß gefährlich nahe. Die Kätzin hatte alle Muskeln angespannt und schien nur einen Herzschlag davon entfernt, den schwarzweißen Kater anzugreifen. Messerzahn schnippte mit dem Schwanz und Nassfuß hielt inne. Dann richtete der Zweite Anführer des BlattClans seine Aufmerksamkeit auf den braunen Kater auf der Spitze des Hochsteins.
Zapfenstern hatte seine Krallen ausgefahren und betrachtete sie im Sonnenlicht.
„Du weißt, weshalb wir hier sind“, erhob Messerzahn seine Stimme über das Lager. „Wo ist Tannenpfote?“
Zapfenstern zuckte mit den Ohren ohne ihn auch nur anzusehen. „Tannenpfote?“, fragte er gedehnt, als müsste er sich anstrengen, seine Erinnerungen zu wecken. „Ach, du sprichst von diesem mickrigen Schüler, den meine Krieger heute angeschleppt haben. Er ist dort.“
Das Zucken seiner Schwanzspitze führte ihre Blicke an den Rand der Lichtung. Als Messerzahn eben aus dem Dickicht gestürzt war und die Umgebung in Augenschein genommen hatte, war ihm nicht aufgefallen, dass die WurzelClan-Katzen um diesen Teil des Lagers einen Bogen machten. Der sandige Boden dort war aufgewühlt und die Zweige der Schlehen geknickt und teilweise plattgedrückt. In ihren Schatten, halb verborgen in Moos und Gestrüpp, lag ein kleiner grüngrauer Körper.
Messerzahn erstarrte.
Nein!
Mit einem Kreischen stürzte Zapfenstern sich auf Messerzahns Rücken. Der Krieger jaulte auf, als er unter einem Haufen Fell und Krallen begraben wurde, seine Pfoten schlugen auf die Erde. Blind vor Wut versuchte er sich zu befreien, aber der struppige Angreifer fuhr mit den Krallen über sein Gesicht und drückte ihn nach unten. In dem Moment stieß Blattsprenkel einen zornigen Schrei aus. Sie schoss vor, dicht gefolgt von Wolkenschweif, und stieß Zapfenstern von Messerzahn hinunter. Mit einem Satz war der goldbraune Kater wieder auf den Beinen und wirbelte herum.
Blattsprenkel und Wolkenschweif nahmen Zapfenstern in die Mangel, schnitten ihm den Weg zu seinen Kriegern ab. Tigerauge und Aschenherz griffen jetzt ebenfalls an. Donnersturm schlug mit den Krallen nach Nassfuß, während Rußwind und Schneeregen wie Dachse über Fleckenfell herfielen.
Tannenpfotes Körper lag noch unbewegt am Rand der Lichtung. Messerzahn stürzte darauf zu, doch bevor er ihn erreichte, rammte ihn etwas in die Seite und riss ihn von den Pfoten. Mit einem Grunzen rollte er durch den Staub, spürte die Kiefer seiner Feinde nur knapp neben seinem Ohr zuschnappen.
Er konnte sehen, wie mehrere Katzen hämisch lachend nach ihm greifen wollten. Mit einem Wutschrei rollte Messerzahn zur Seite und entging den Krallen, die sich in seine Flanke bohren wollten, nur um Pfotenbreite. Er packte den Gegner, den er als Erstes zu fassen bekam, Löwenbart, und zog ihn zu sich herab, um ihm seine Zähne in die Kehle zu schlagen. Dann stieß er den Krieger mit dem goldenen Fell mit den Hinterbeinen von sich und ließ ihn in seine Kameraden krachen.
Bevor einer von ihnen reagieren konnte, stemmte Messerzahn sich auf die Beine und hetzte zum Rand der Lichtung, wo er den grüngrauen Pelz unter den Heckenzweigen ausmachen konnte.
„Tannenpfote!“
Messerzahn warf sich ins Gras und drückte panisch die Farnwedel zur Seite. Als er sah, was sie verborgen hatten, erbebte er. Ein kleiner Körper. Blutverschmiertes, klebriges Fell. Tannenpfotes gelbe Augen, die ihm blickleer und rund wie zwei Monde entgegen starrten. Sein Maul stand offen, als hätte er in seinen letzten Momenten nach irgendetwas oder jemandem gerufen, vergebens. Messerzahn spürte eine kalte Welle des Entsetzens in sich aufsteigen.
Ein Kreischen durchschnitt die Luft und im nächsten Moment bohrten sich Krallen in seine Flanken. Zähne schlossen sich um sein Ohr. Messerzahn brüllte vor Schmerz und Zorn. Er schlug heftig mit dem Kopf und riss sein Ohr frei, ohne das Blut zu beachten, das aus der Wunde spritzte. Er fuhr herum, packte den Kater, der sich auf seinen Rücken geworfen hatte, und schmetterte seinen Kopf auf den Boden. Er hörte Knochen brechen. Zwei Kätzinnen traten vor und umringten ihn zähnefletschend. Messerzahn versenkte seine Zähne im Nackenfell der ersten Gegnerin und schleuderte sie über das Gras. Bevor ihre Gefährtin zum Schlag ausgeholt hatte, stieß er sie mit einem Tritt von den Beinen und bohrte die Krallen in ihren Bauch. Er hob die Tatze, um ihr einen ordentlichen Hieb zu verpassen, aber da kam Bärentatze und drängte ihn mit dem Rücken ans Gestrüpp. Der bullige braune Kater baute sich geifernd vor ihm auf. Ein Blick in sein Gesicht fachte Messerzahns Zorn nur weiter an. Bärentatzes Pfote schoss auf sein Gesicht zu und als er den Schlag abwehrte, trafen ihn dornenspitze Krallen an der Schnauze.
„Messerzahn!“
Heisere Schreie schallten über die Lichtung.
Der Zweite Anführer des BlattClans blickte auf und sah, dass seine Patrouille als Einheit kämpfte. Die Katzen standen Rücken an Rücken und verteidigten sich gegen die immer größer werdende Menge an Feinden, die aus den Bauen und aus dem Unterholz auf die Lichtung strömten. Aber sie verloren den sicheren Boden unter den Pfoten. Stück für Stück trieben die WurzelClan-Krieger sie aus ihrem Lager. Nassfuß stützte sich schwer auf Blattsprenkel, als die sandfarbene Katze sie in den Wald brachte. Auch Wolkenschweif konnte sich nur schwer auf den Beinen halten. Der weiße Kater zischte und hielt seinen Gefährten die Verfolger vom Hals, die wie eine Mauer aus Fell weiter vorrückten.
Wir verlieren. Messerzahn spuckte Blut. Wir hatten nicht den Hauch einer Chance.
Sein Blick zuckte zu Tannenpfotes Körper, reuevoll. Seine Brust fühlte sich an wie ausgebrannt.
Es tut mir leid.
Er beugte sich hinab, streckte seine Pfoten nach dem Schüler aus …
Bärentatzes dickes Fell schob sich dazwischen. Messerzahn wurde erneut von den Beinen gerammt und schlug hart auf das Gras. Klauen und Zähne zerfetzten sein Bauchfell und seine Schreie wurden im Dreck erstickt. Er versuchte, den Angreifer abzuwehren, aber seine Kraft ließ nach und er konnte Tannenpfotes leere gelbe Augen nicht vergessen.
Ehe Bärentatze ihm den tödlichen Biss geben konnte, wurde er von Messerzahns Rücken gezerrt und Fleckenfell beugte sich zu ihm herab. „Messerzahn! Wir müssen hier weg!“ In ihren Augen spiegelte sich das Entsetzen, das er in jeder Faser seines Körpers fühlte. Entschlossen packte die Kätzin ihn im Nackenfell und mit ihrer Unterstützung hievte sich der Zweite Anführer hoch. Blut lief an seinen Beinen hinab in die durstige Erde. Er schwankte.
„Los!“
Fleckenfell stieß ihn in Richtung Lagereingang.
„Aber … Tannenpfote!“, krächzte Messerzahn. Er hielt inne und machte Anstalten, sich durch die wachsende Menge an feindlichen Kriegern zurück zu Tannenpfotes leblosem Körper zu kämpfen. Aber Fleckenfell schob ihn unerbittlich weiter.
„Es ist zu spät.“ Ihre Stimme bebte vor Schmerz. „Wir können nichts mehr für ihn tun. Jetzt geh!“
Bärentatze war wieder auf den Beinen und seine Augen glühten vor Hass. Die Kätzinnen, die Messerzahn eben abgewehrt hatte, waren an seine Seite getreten und zischten bedrohlich. Auch die Krieger, die Blattsprenkel, Wolkenschweif und Nassfuß davongejagt hatten, näherten sich jetzt ihnen.
Fleckenfell schrie auf, als sich scharfe Krallen in ihren Rücken bohrten, und lief los. „Messerzahn!“, keuchte sie über die Schulter.
Der goldbraune Kater zögerte noch immer und schaute zurück. Die Schlehen beugten ihre Zweige über Tannenpfotes graues Fell und warfen lange Schatten über das Moos.
Es tut mir so leid …
Er presste die Zähne zusammen, um ein schmerzvolles Stöhnen zu unterdrücken. Bärentatzes Schnauze schob sich nach vorne, sein breiter Kopf versperrte den Blick auf den Leichnam des Schülers und seine blutigen Zähne verlangten danach, sich in Messerzahns Pelz zu graben.
Der gebeutelte BlattClan-Krieger machte kehrt und stürzte hinter Fleckenfell her, seine Hinterpfoten entgingen nur knapp Bärentatzes gierigen Fängen. Mehrere Feinde preschten durch das Lager, um ihm den Weg abzuschneiden. Messerzahn beschleunigte das Tempo trotz des brüllenden Schmerzes in seinen Flanken und an seinem Ohr. Aschenherz kam ihm am nächsten, seine Pfoten wirbelten den Staub auf und schickten kleine Kiesel in die Luft. Mit einem gewinnenden Schrei schoss er vor, aber Messerzahn war schneller. Blutend und geschlagen floh der Kater durch die Lücke in den Schlehenhecken und in den schützenden Wald.
Die Büsche schlossen sich hinter ihm, doch sie konnten das triumphierende Jaulen der Feinde nicht ersticken. Gedemütigt tauchte der Zweite Anführer durch das Unterholz, die Schritte seiner Clangefährten nicht weit vor ihm zwischen den Bäumen. Er biss die Zähne aufeinander, ignorierte den Schmerz und rannte, bis er den Rest der Patrouille eingeholt hatte. In einem trockenen Ginstergestrüpp trafen sie wieder zusammen.
Sie alle sahen mitgenommen aus. Wolkenschweif fehlten ein paar Fellfetzen, Nassfuß hatte einen tiefen Biss an der Schulter und auch Blattsprenkel und Fleckenfell waren nicht ohne Blessuren davongekommen. Ohne ein Wort schnippte Messerzahn mit dem Schweif und tappte los. Blattsprenkel und Wolkenschweif tauschten einen Blick, dann folgten sie ihm.
Mit dem Zweiten Anführer an der Spitze schleppten sich die Katzen durch das fremde Gehölz auf den Weg zurück zu ihrem Clan. Wenn die feindlichen Krieger ihnen nachgesetzt wären, hätte Messerzahn sich und seine Gefährten nicht verteidigen können. Jedes Bisschen Kraft brauchte er, um eine Tatze vor die andere zu setzen. Seiner Patrouille ging es nicht besser. Nassfuß stützte sich noch immer schwer auf Blattsprenkel, Fleckenfell und Wolkenschweif halfen sich gegenseitig. In ihren Gesichtern stand eine tiefe Niedergeschlagenheit, die Messerzahn den Atem raubte.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, hob Blattsprenkel traurig den Kopf. „Tannenpfote?“, keuchte sie zwischen zwei Schritten.
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Messerzahn zuckte zurück, das Wort wie ein Hieb auf die Schnauze. Ohne der Kätzin in die Augen zu schauen, tappte er weiter, das Knirschen des Laubs unter seinen Zehen laut wie das Brechen von Katzenknochen.
„Tot.“
Das Wort hing leer zwischen den Bäumen, sobald es aus seinem Maul gekommen war. Messerzahn schluckte und sprach erneut. „Er ist tot.“
Nassfuß brach zusammen. Im Laubmeer war sie nur noch ein nasses Häufchen Fell. Kummervoll drückte sich Blattsprenkel an ihre Seite, ohne das Zittern unterdrücken zu können, das durch ihren Körper lief. „Das kann nicht sein“, flüsterte, die bernsteinfarbenen Augen weit aufgerissen, „Das kann nicht sein.“
Messerzahn starrte wie betäubt auf seine Clangefährten hinab, kein Wort des Trosts kam über seine Lippen.
Wir haben versagt, dachte er. Wir konnten ihn nicht retten. Es tut mir leid.

 

Als Morgenstern die zurückkehrende Patrouille erblickte – geschunden, verletzt, die Blicke tief auf ihre Pfoten gesenkt – straffte sie die Schultern und verbat sich jedes Bisschen Schwäche, das ihr in die Muskeln zu sickern drohte.
Sie spürte, wie die Katzen auf der Lichtung sich regten; sie hatten die Patrouille ebenfalls gesehen. Hoffnungsvolles Murmeln wich betroffenen Gesichtern und die Clanmitglieder, die herangetreten waren, um die Zurückkehrenden zu begrüßen, hielten inne, bevor sie den Schatten der Bäume erreicht hatten. Morgenstern erhob sich und reckte den Kopf. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte ihr Pelz wie Kupfer, als sie die Ankunft ihres Stellvertreters erwartete.
Messerzahn hatte nicht die Kraft, ein Wort mit den wachhabenden Kriegern, Elsterkralle und Streifenfell, zu wechseln. Auf schweren Pfoten tappte er zu seiner Anführerin, die Blicke des gesamten Clans lasteten auf seinem Rücken. Gerade in Momenten wie diesem war es wichtig, die Fassung zu wahren. Und seine Pflicht zu tun. Mit einem Seufzen trat er vor, um Morgenstern über das Scheitern seines Auftrags zu unterrichten.

 

Als die Katzen des BlattClans von dem Unglück erfuhren, brachen sie in Trauergeheul und ungläubiges Wehklagen aus. Schreie stachen wie Nadeln durch den Wald und verloren sich unter dem roten Himmel.
Nachtpfote quälte sich zwischen den Wurzeln der Eiche. Dreckpelz hatte ihre Wunden versorgt und mit seinen letzten Spinnweben die Blutung gestillt. Der Schmerz war zu einem dumpfen Hämmern abgeklungen, das in Wellen durch ihren Körper pulsierte. Gedanken wanderten träge und verloren durch ihren Schädel. Die Mohnsamen machten es ihr schwer, sich auf etwas zu konzentrieren, die Schreie drangen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Nachtpfote stöhnte und warf sich herum. Dornen klammerten sich an ihr Fell, als sie sich vorreckte, um unter den Zweigen eines Strauchs auf die Lichtung zu blicken. Ihr wurde schwarz vor Augen von dem Blutverlust.
Was passiert da draußen?, dachte sie. Wo ist Tannenpfote?
Verzweifelt versuchte sie sich hochzustemmen, aber ihre Beine brachen unter ihr weg. Sie hatte jegliche Kraft verloren. Zitternd sank sie zurück zu Boden und schloss die Augen. Da waren Schritte, die sich ihr durch das Gras näherten. Ein grauer Kopf schob sich durch die Zweige des Strauchs.
Dreckpelz.
Der alte Heiler trug eine Maus zwischen den Zähnen. Wortlos legte er das Tier neben ihr ab, dann sah er Nachtpfote lange an.
Die Schülerin spürte, wie ihr Herz vor Angst schneller schlug. Es gelang ihr kaum, die Frage herauszubringen, deren Antwort sie so sehr fürchtete. „Wo“, krächzte sie, „Wo ist er? Haben sie Tannenpfote befreit? Ist er verletzt?“
Ein Schleier legte sich über Dreckpelz' Augen. Unvermittelt beugte der alte Kater sich zu ihr herab und legte sanft sein Kinn auf ihren Kopf.
Seine Wärme beruhigte Nachtpfote nicht. Sie merkte, wie sie die Fassung verlor. „Dreckpelz … wo ist er?“
Dreckpelz löste sich von ihr, sein Gesicht eine ausdruckslose Maske. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid …“
Nachtpfote konnte seine Worte nicht verstehen. Das Rauschen in ihren Ohren schwoll an, es verwandelte sich in eine brodelnde Wassermasse, die in ihr hochschäumte und all ihre Sinne verschluckte. Sie hörte es nicht. Aber sie wusste es. Sie wusste, was Dreckpelz sagte. Sie konnte es in seinen Augen lesen, sah die Bewegung seines Mauls, als er die Worte sagte.
„Tannenpfote ist … tot.“
Tot.
Nachtpfote spürte, wie sie zerbrach. Ihr Herz sprang vor Angst auf und ab und dann war es viel zu still.
Dreckpelz blickte zu Boden. Seine Stimme zitterte. „Sie haben ihn getötet. Sie haben Tannenpfote ermordet.“
Nachtpfote starrte auf die tote Maus herab. Blut tränkte ihre hellen, samtigen Ohren. Ihre Augen glotzten kalt wie Kieselsteine. Nachtpfote spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Sie schaffte es kaum, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.
„Nachtpfote“, flüsterte Dreckpelz.
Sie nahm ihn kaum noch wahr. Sprach er wirklich? War er tatsächlich hier?
Seine Silhouette spiegelte sich in den schwarzen Augen der Maus.
„Ich muss mich um die Verletzungen der Patrouille kümmern.“
Schritte.
Worte.
„Es tut mir leid …“
Dann war er weg.

Chapter 14: Bereit

Chapter Text

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging. Zeit spielte keine Rolle mehr.
Irgendwann verebbten die Klageschreie ihrer Clangefährten zu bedrücktem Getuschel, dann wurde es still. Die Lichtung war in einen grauen Schleier gehüllt. Dunkelgrau. Schwarz. Vermutlich waren die Katzen zur Totenwache unter dem Mond versammelt. Kälte fraß sich durch die Zweige des Strauchs.
Dreckpelz hatte versucht, Nachtpfote zu seinem provisorischen Bau ein paar Sprünge weiter zu tragen, wo der Fels und die Buche sie vor dem Hauch der Blattleere geschützt hätten. Aber Nachtpfote konnte sich nicht bewegen. Sie fühlte ihren Körper nicht einmal mehr. Es gab nichts, was von ihr übrig geblieben war. Sie war eine Hülle, eingebettet in die harten Fänge der Baumwurzeln und ausgetrocknet wie die raschelnden Laubblätter um sie herum.
Ich werde ihn nicht wiedersehen? Kein Wort mehr mit ihm sprechen, nie wieder sein Lächeln sehen?
Eine Brise fuhr durch ihren schwarzen Pelz und wirbelte die Blätter auseinander. Sie bildete sich ein, ihn bei sich zu spüren. Sein weiches Fell, das sich an ihre Flanke drückte, wo sie noch eben kalter Wind hatte frösteln lassen. Mühsam hob Nachtpfote den Blick.
Sternenlicht glänzte in den Augen der Maus. Nur ein Sonnenaufgang trennte sie von ihrem Leben. Nur ein Sonnenaufgang trennte Nachtpfote von Tannenpfote.
Wie kann es vorbei sein? Wie kann eine Katze so einfach verschwinden? Wir hätten gemeinsam Krieger werden sollen. Ich dachte, wir würden Seite an Seite für den Clan kämpfen und unsere Frischbeute teilen. Ich dachte … wenn ich einschlafe, werde ich immer sein Fell an meiner Flanke spüren.
Nachtpfote fühlte nicht, wie ihre Tränen ins Gras tropften.
Seine Pfoten hatten ihn zu ihr geführt, doch ihre gemeinsame Reise war so kurz gewesen. Also sollte Tannenpfote nur ein Abschnitt ihres Lebens gewesen sein? Ein Pfad, der sich geschlossen hatte? Nachtpfote biss die Zähne zusammen, bis sie Blut schmeckte.
Das alles ist geschehen, weil wir die Pflanzen für Dreckpelz gesammelt haben.
Reue und Zweifel durchzuckten sie.
Aber Dreckpelz hätte niemals wissen können, dass so etwas passiert.
Kraftlos ließ sie ihren Kopf auf das Moos fallen und kniff die Augen zu, als könnte sie die Wirklichkeit ausblenden. Aber vor dem SternenClan konnte sie sich nicht verstecken. Die Kriegerahnen wussten, was sie getan hatte.
Dreckpelz hat mich in den Wald geschickt, um die Heilmittel für ihn zu suchen.
Und ich habe Tannenpfote mitgenommen.

 

„Du musst etwas fressen.“
Messerzahns Stimme.
Nachtpfote starrte leer auf die Maus, die vor ihren Pfoten lag. Ihr Gesicht spiegelte sich in den schwarzen, toten Augen. Klein und verzerrt.
„Nachtpfote.“
Ihr wurde schlecht.

 

Es waren Stimmen um sie herum.
Im Dickicht unter den Tannen, zwischen den Felsbrocken und den Weißdornbüschen.
Nachtpfote tappte durch die Dunkelheit und suchte nach den Katzen, deren Schritte sie überall um sich herum vernahm, ohne je ein einziges Schnurrhaar zu entdecken. Die Worte, die sie sprachen, verwandelten sich in bedrohliches Geflüster, so dringlich, als wollten sie Nachtpfote etwas mitteilen. Aber sie konnte keinen einzigen Satz verstehen. Die Fremden waren wie Schatten – immer gerade außerhalb ihrer Reichweite – und wenn sie meinte, eine Stimme zu erkennen, verschwand sie in einem Chor aus Kreischen und Klagen.
„Wo bist du?“, schrie Nachtpfote in den Wald, ohne zu wissen, nach wem sie eigentlich rief.
Etwas berührte ihren Pelz. Heißer Atem streifte ihr Ohr.
„Tannenpfote?“
Nachtpfote fuhr herum, aber die Katze ihr gegenüber war nicht Tannenpfote sondern Schattenkralle, die Augen kalt wie ein Winterhimmel und die Zähne nach ihrem Hals gebleckt.
„Hattest du gedacht, du würdest mir so einfach entkommen?“, fragte er und ihr Blick fiel auf seine Klauen. Sie waren blutbefleckt. „Ich habe Tannenpfote getötet, und jetzt bist du an der Reihe.“
Nachtpfote rannte.
Sie spürte, wie dicht der schwarze Kater hinter ihr war, aber so schnell sie auch lief, sie schaffte es nicht, ihn abzuhängen. Sie trieb ihre Beine weiter, bis sie kaum noch Luft bekam, doch die Luft fühlte sich falsch an, sie war dick und träge wie Schlamm. Je weiter sie sich voran kämpfte und strampelte, desto zäher wurde der Schlamm, zerrte an ihren Beinen und hielt sie zurück. Als sie fürchtete, dass sich Schattenkralles Zähne jede Sekunde in ihren Nacken graben würden, veränderte sich der Traum.
Der finstere Wald war einer Wiese gewichen. Ihre dunkelgelben Halme wiegten sich unter den Kronen der Kastanien, gaben ein stetiges Knistern und Wispern von sich, obwohl kein Wind wehte. Eine tiefe Abendsonne schickte ihr Licht durch die Äste und malte die Baumstämme flammend rot.
Nachtpfote wirbelte herum, aber Schattenkralle war nirgends zu sehen. Es schien, als wäre er wirklich nur ein Schatten gewesen, den die Sonnenstrahlen fortgewaschen hatten. Trotzdem war sie nicht allein.
Ein Kater saß am Fuß einer mächtigen Kastanie. Sein Fell glühte unter dem Himmel, als sei es über und über von Blut befleckt. Den Kopf schief gelegt, hob er eine Pfote und betrachtete seine gebogenen Krallen. Nachtpfote schnappte nach Luft, als sie ihn erkannte.
„Tannenpfote?“
Sie wollte zu ihm, wollte über das Gras an seine Seite springen, aber entsetzt stellte sie fest, dass sie nicht einen Muskel bewegen konnte. Unbeweglich wie Stein waren ihre Tatzen auf dem Gras und so sehr sie auch versuchte, sie zu lösen, der Boden hielt sie unerbittlich gefangen.
Tannenpfotes Gesicht lag im Schatten. Aber Nachtpfote konnte seine Augen sehen; goldene Teiche, in denen die kleinen Pupillen wie Inseln schwammen.
„Tannenpfote! Tannenpfote, ich bin es!“, jaulte die schwarze Kätzin. „Es tut mir so leid! Es ist alles meine Schuld, es tut mir so leid!“
Tannenpfote stand auf. Er kam langsam näher, nicht in einer vorsichtigen Weise. Seine Bewegungen hatten mehr die elegante, fließende Bewegung eines Raubtiers. Als er sprach, war seine Stimme kälter, als Nachtpfote sie je gehört hatte.
„Du suchst mich?“, fragte der Schüler und teilte das Gras ohne dass seine Pfoten ein Geräusch von sich gaben. „Aber wieso? Ich bin doch da. Ich bin die ganze Zeit da.“ Er trat aus dem Schatten der Kastanie und das rote Licht der Sonne legte sich über seinen Pelz. Er hatte kein Gesicht. Die Augen stachen aus einem flimmernden schwarzen Loch.
Nachtpfote schrie auf und versuchte erneut, ihre Tatzen zu lösen, aber etwas hielt sie am Boden fest. Plötzlich sah sie, dass es Pfoten waren, grüngraue Pfoten, die sich aus der Erde schoben und sie mit dornenscharfen Krallen gepackt hielten. Weitere Pfoten drückten sich aus dem Schmutz, schlangen sich um ihre Beine und zogen sie in die Tiefe.
„Nein! Bitte hör auf!“
Nachtpfote strampelte und jaulte.
„Ich bin doch da“, sagte Tannenpfote. „Ich bin immer da.“
Nachtpfote schrie, bis die Pfoten sie ins Bodenlose zogen. Keine Sekunde konnte sie die wabernde schwarze Masse des Gesichts vergessen, das sie in die Finsternis schickte, auch nicht als die Welt sich über ihr schloss und die Erdklumpen in ihre Kehle drangen, um sie zu ersticken.

 

Rauchfuß war da.
Nachtpfote konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich neben sie gesetzt hatte. Der alte Kater war zerzauster als sonst, sein Fell gesprenkelt von den Regentropfen, die seit einem Tag ununterbrochen vom Himmel fielen. Die Krallen hatte er fest ins Gras gestemmt, als suchte er nach Halt, und seine Augen glitten ruhelos über die Lichtung.
„Es tut mir leid.“ Seine Stimme klang mitfühlend. „Ich weiß, ich habe Tannenpfote kaum gekannt. Das hätte nicht geschehen dürfen. Nichts von alldem.“
Ein Käfer krabbelte über die Wurzeln zu Nachtpfotes Fell. Sie spürte die winzigen Füße, die sich durch ihre Haare drängten. Ein Windzug wischte ihn auf den Boden, wo er auf dem Rücken landete und mit den Beinen in die Luft kickte.
„Nachtpfote.“
Rauchfuß warf sich herum. Sein Gesicht war ein zuckendes, schwarzes Loch.
Nachtpfote schloss die Augen.

 

Ihr Bein heilte.
Dreckpelz hatte sie in den Heilerbau verlegt. Der dunkelgraue Kater blieb in ihrer Nähe und behandelte die Wunde mit Goldrute und Ringelblume. Einmal war Feuerpelz da. Nachtpfote bemerkte es kaum. Auch Klettenpfote und Wüstenpfote konnten nicht zu ihr durchdringen. Der Schmerz saß so tief in ihr, dass sie sich nicht sicher war, ob er jemals verklingen würde.
Ich bin für seinen Tod verantwortlich. Was auch immer ich mache, wo ich auch bin … daran kann ich niemals etwas ändern.
Sie schluckte und rollte sich zusammen.

 

Messerzahn ließ ein Stück Frischbeute vor ihre Schnauze fallen. Der goldbraun getigerte Kater sah ungepflegt aus. Sein Fell starrte vor Dreck, als hätte er es seit Tagen nicht geputzt. Nachtpfote hörte, wie er leise mit jemandem redete.
„Es ist meine Schuld“, murmelte der Zweite Anführer. „Meine Patrouille hätte nicht versagen dürfen.“
„Mach dich nicht verantwortlich für das, was geschehen ist.“ Blattsprenkel war bei ihm. „Die Schuld liegt einzig und allein beim WurzelClan.“
Nachtpfote starrte auf die Beute. Ihr Körper zitterte, als sie sich nach vorne beugte und das Tier mit den Zähnen packte.
„Zapfenstern wird damit nicht davonkommen“, sagte Blattsprenkel. „Das alles wird ihm noch leidtun.“
Nachtpfote lief ein Schauer über den Rücken. Sie versengte die Fänge in dem Fleisch und nahm das Fressen ebenso gierig in sich auf wie Blattsprenkels geflüsterte Worte.

 

Die Nächte brachten schreckliche Albträume.
Sie befand sich im Lager des BlattClans. Gras wisperte um ihre Flanken und alles sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte.
Neben ihr saß Wolke.
Sie hatte den Blick in den Himmel gerichtet. Als sie Nachtpfote bemerkte, sprang sie auf. „Du musst uns retten!“, keuchte sie, die blauen Augen weit aufgerissen. „Du musst uns retten!“ Sie krümmte sich, würgte und röchelte. Plötzlich spuckte die braune Katze etwas auf das Gras. Es war eine Mohnblüte.
Nachtpfote wich zurück.
Die Wiese war gesprenkelt von Mohn. Der Wind fuhr durch den Wald, aber die Blüten bewegten sich keine Mäuselänge. Sie schienen Nachtpfote zu beobachten, sich nach ihr auszustrecken, und die Schülerin konnte sehen, dass sie voller Blut waren. Die rote Flüssigkeit rann in Fäden über die Blütenblätter, triefte auf die Lichtung und sammelte sich in dicken Lachen. Nachtpfote rannte, aber das Blut stieg so schnell. Sie wollte in den Wald fliehen, aber die Ginsterbüsche, die das Lager umgaben, ließen sie nicht durch. Verzweifelt watete sie durch das Blut, suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Eine Welle riss sie mit sich. Nachtpfote ging unter, tauchte in den saugenden, heißen See.
Plötzlich berührte etwas ihr Bein. Es war Messerzahn. Der Kater war leblos, seine Augen geschlossen, während er durch das Blut trieb.
Die Lichtung war voller Leichen. Morgenstern, Wüstenpfote, Feuerpelz, Wasserfell. Sie waren alle da – die Kiefer geöffnet, das Fell tiefschwarz von Blut.
Nachtpfote ging unter in dem schrecklichen Wissen, bald eine von ihnen zu sein.

 

Messerzahn kam oft zu ihr. Auch Feuerpelz und die anderen Schüler sahen mehrmals nach ihr. Zum ersten Mal fand Nachtpfote, dass Feuerpelz wirklich alt aussah. Der Schock, seinen Sohn zu verlieren, erst wenige Monde nach dem Tod seiner Gefährtin, hatte Spuren hinterlassen. Er schien kaum noch die Lichtung zu verlassen und hielt sich eng an Fleckenfells Seite. Klettenpfote hatte sich entschlossen, Dreckpelz weiterhin zu unterstützen, trotz des Schmerzes, den der Verlust seines Bruders in seine Brust gerissen hatte.
Wasserfell blieb auch immer eine Weile bei Nachtpfote, drückte den Pelz an ihre Flanke und sprach mit ihr.
Nachtpfote konnte keinen von ihnen ertragen. Sie wussten gar nichts, sie würden ihr nicht helfen. Tannenpfote war tot. Was sollten ihre Worte daran ändern?
Sie funkelte zwischen den Wurzeln der Buche hinaus auf die Lichtung.
Morgenstern führte gerade eine Patrouille in den Wald. Kieselschweif wurde durch Streifenfell von der Wache abgelöst. Nicht weit entfernt behandelte Dreckpelz eine Wunde an Nassfuß' Schulter. Als Nachtpfote Klettenpfote an seiner Seite sah, traf sie ein Stachel der Schuld. Der Schmerz stand in seinen Augen und obwohl seine Beine zitterten, beugte er sich hinab, um Dreckpelz einen Pflanzenstängel zu reichen. Nachtpfote hatte sich kaum gerührt, war nicht einmal mehr sicher, wie viele Tage vergangen waren, seit Dreckpelz ihr die Nachricht von Tannenpfotes Tod überbracht hatte.
Aber Nachtpfote bezweifelte, dass Klettenpfote fühlte wie sie.
Er ist nicht schuld. Er hat Tannenpfote nicht im Stich gelassen.
Nachtpfote grub mit den Klauen tiefe Furchen in die Erde.
Vergib mir.

 

„Es ist bald so weit.“
Die Stimme war leise, aber die Worte so eindringlich, dass sie Nachtpfote aufschreckten. Sie hob den Kopf und ließ den Blick in die Richtung gleiten, aus der die Stimme gekommen war.
Fast ein halber Mond war seit Tannenpfotes Tod vergangen.
Die schwarze Kätzin hockte am Rand der Lichtung und hatte gerade mühsam ein paar Bissen Wühlmaus heruntergewürgt, als der Wind Messerzahns Stimme zu ihr trug. Nachtpfote stellte ihre Ohren auf und lauschte. Sie tat es nicht einmal bewusst, sie brauchte einfach eine Ablenkung, bevor die Maus wieder hochkam.
„Die Katzen sind bald bereit für den Kampf“, sagte Messerzahn grimmig.
Der massige Krieger saß auf der Seite im Gras und besprach sich mit Morgenstern bei einer Taube. Die Verletzungen, die er sich beim Kampf im Lager des WurzelClans zugezogen hatte, waren kaum noch zu sehen.
Morgenstern saß ihm gegenüber, die Sonnenstrahlen berührten die Spitzen ihres Fells und ließen es aufglühen. Die Kätzin nickte bedächtig mit zusammengekniffenen Augen.
„Einverstanden. Nun, da alle Wunden verheilt sind, werden wir den Kampf mit dem WurzelClan aufnehmen.“
Nachtpfote erstarrte. Die Übelkeit war vergessen.
„Wie geht es Nassfuß?“, fragte Morgenstern in Messerzahns Richtung.
„Nur noch ein Kratzer.“
Die Anführerin beugte sich vor und peitschte entschieden mit dem Schwanz. „Gut. Der Angriff erfolgt zum Dreiviertelmond. Wir attackieren das Lager, wenn die Nacht am dunkelsten ist.“
Messerzahn neigte den Kopf, jeder Muskel in seinem mächtigen Körper schien sich in Erwartung der nahenden Schlacht zu strecken. „So sei es.“
Nachtpfote verharrte mit klopfendem Herzen. Eine Welle der Energie spülte den dumpfen Schleier fort, unter dem sie die letzten Tage verbracht hatte. Die Luft in ihren Lungen war kalt und schmeckte nach Blattfall, aber sie belebte Nachtpfote mehr als ein warmer Blattgrüne-Wind es vermocht hätte.
Wir werden kämpfen.
Der Gedanke fühlte sich seltsam an. Dass die Rache, auf die die Krieger des BlattClans so lange gewartet hatten, jetzt tatsächlich in Reichweite lag. Nachtpfote schloss die Augen und lauschte in sich hinein, suchte nach einer Spur Hoffnung oder Zuversicht. Aber ihr Inneres war leer und still wie der Grund eines Sees. Stattdessen rührte sich etwas anderes; etwas, das lange unter der erstickenden Gewalt der Trauer vergraben gewesen war. Zorn.
Plötzlich hatte sie wieder Bärentatze vor Augen, wie er lachte und sie in den Staub drückte. Schattenkralle, der Tannenpfote packte und brutal über die Lichtung zerrte. Der Zorn stieg an und Nachtpfote ließ ihn kommen. Seit seinem Tod hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt, die Sinne gestochen scharf und das Blut wie ein rauschender Fluss in ihren Adern. Die Wut war ganz anders als das dumpfe Hämmern der Trauer, sie kreischte und schickte Stiche wie dornenscharfe Krallen durch ihre Brust. Es war besser als alles, was Nachtpfote je gefühlt hatte.
Wenn es erst zum Kampf kommt, schwor sie sich, dann werde ich dich rächen, Tannenpfote. Ich werde jedem WurzelClan-Krieger das Fell über die Ohren ziehen. Jedem einzelnen.

 

Nachtpfote war aufgestanden und tappte vorsichtig durch das Gras am Flussufer. Ihre Beine fühlten sich noch schwach an, aber ihre Hinterpfote ließ sich problemlos belasten. Bloß die Narbe würde sie behalten.
Ihre Gedanken rankten sich um das Lager des BlattClans und die Vorstellung, dorthin zurückzukehren. Ein Teil von ihr wollte gerne daran glauben, dass es möglich wäre, ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Aber mit jedem Schritt, den sie tat, entfernte sie sich weiter von der Katze, die sie einst gewesen war.
Verbittert hielt Nachtpfote inne und sah durch die Baumwipfel zum Himmel auf.
Tannenpfote wird nicht an den Ort zurückkehren, an dem er geboren ist, dachte sie. Er wird nie wieder mit seinen Pfoten den Boden in unserem Lager berühren.
Ihre Augen folgten den Wolken, die mit dem brausenden Wind zogen und bis zum Horizont wanderten. Der Anblick konnte den Sturm in ihrem Herzen nicht besänftigen.
Blattsprenkel hat Recht, der WurzelClan wird bezahlen.
Eine Brise ging durch ihr schwarzes Fell.
Ich werde mein Training wieder aufnehmen. Und wenn ich richtig kämpfen kann, dann werden Schattenkralle und Bärentatze meine Krallen zu spüren bekommen.
Mit einem Knurren in der Kehle schoss Nachtpfote vor, wischte ein Buchenblatt aus der Luft und riss es in Fetzen.

Chapter 15: Der Dornbusch

Chapter Text

Auf federnden Beinen pirschte Nachtpfote sich an ein Kaninchen heran. Ihr dunkles Fell verschmolz mit den Schatten der Brombeerbüsche, zwischen denen sie sich lautlos vorwärts bewegte. Sie vermied es, mit den Tatzen auf das trockene Laub zu treten, um das Tier, das ahnungslos an einem Löwenzahn knabberte, nicht zu verscheuchen. Als sie nur noch zwei Katzensprünge von ihrer Beute entfernt war, duckte sie sich tief mit dem Bauch auf den Boden.
Zu spät bemerkte sie, dass der Wind sich gedreht hatte. Das Kaninchen richtete sich auf die Hinterpfoten, witterte, und dann hetzte es los. Mit einem Satz war Nachtpfote auf den Beinen und nahm die Verfolgung auf.
Mäusedreck!
Mit einem kräftigen Sprung hatte sie das Tier eingeholt und packte es am Nacken. Es wehrte sich, seine Krallen wühlten durch die wurzelbedeckte Erde, aber Nachtpfote hielt es eisern im Griff. Noch bevor das Kaninchen einen Schrei von sich geben konnte, hatte die Kätzin es mit einem Biss in die Kehle getötet. Es erschlaffte und ließ sie schnaufend und mit blutiger Schnauze zurück.
Einige Sekunden stand sie still. Dann wollte sie sich nach unten beugen, um die Beute aufzunehmen und zu ihrem Clan zu bringen. In dem Moment fiel ihr Blick auf ein großes, rotbraunes Eichhörnchen, das über einen umgestürzten Baum kraxelte. Sofort kauerte Nachtpfote sich nieder.
Es war ihre erste Jagd, seit ihre Beinverletzung verheilt war. Morgenstern würde ihr wahrscheinlich das Fell über die Ohren ziehen, wenn sie erfuhr, dass sie alleine losgezogen war. Nach Tannenpfotes Tod war es den Schülern untersagt, die Lichtung alleine zu verlassen. Aber Nachtpfote ertrug sie nicht, ihre Gefährten und die mitfühlenden Blicke. Während der Jagd konnte sie vergessen – wenigstens für eine Weile. Und sie war entschlossen, erfolgreich zu sein.
Ebenso lautlos wie zuvor kroch sie voran, nur das Geräusch ihres Bauchfells, wie es über das hohe Gras strich, verriet ihr Näherkommen. Das Eichhörnchen war allerdings viel zu sehr mit einer Kastanie beschäftigt, um die nahende Gefahr zu bemerken. Sein buschiger Schwanz zuckte, während es sich auf die Hinterbacken setzte und an der Nussfrucht nagte.
Sobald Nachtpfote meinte, dass sie nahe genug war, sprang sie los. Dieses Mal würde sie nicht zu lange zögern. Mitten im Sprung allerdings wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Etwas griff ihren linken Hinterlauf und riss sie zurück.
Nachtpfote schrie auf.
Mit einem Ruck wurde sie aus der Luft geholt und knallte auf die harte Rinde des Baumstammes. Das Holz splitterte und Moosfetzchen regneten auf ihren Rücken. Das Eichhörnchen brauchte keinen Herzschlag, um auf dem nächsten Baum zu verschwinden, und ließ die Schülerin mit dem Bauch auf der bröckelnden Borke allein.
Nachtpfote stöhnte, ignorierte die Splitter, die ihr in die Haut stachen, und drehte den Kopf, um zu sehen, was ihren Unfall verursacht hatte. Ihr Hinterlauf hatte sich in einem Dornbusch verheddert. Versuchshalber zog sie daran, aber mehrere Ranken hatten sich um ihre Pfote gewickelt und trieben die Dornen schmerzhaft in ihr Fleisch. Nachtpfote verfluchte sich, dass sie vor dem Sprung ihre Umgebung nicht genauer in Augenschein genommen hatte.
Mit dem Bauch auf dem Stamm, die Pfote verschnürt, fiel es ihr schwer, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien. Mit einem Knurren legte sie den Kopf auf die Rinde und überlegte, was sie tun könnte.

 

Messerzahn räusperte sich und wartete, bis er die Aufmerksamkeit der kleinen Katzengruppe hatte, die auf der Lichtung vor ihm versammelt war. Die Sonne war noch nicht an ihrem höchsten Punkt und es war Zeit für eine Patrouille.
Morgenstern befand sich ein paar Fuchslängen weiter und stattete den Königinnen einen Besuch ab. Messerzahn hörte, wie sie auch mit Buchenpelz und Borkenfell redete und sich nach ihren Jungen erkundigte. Wie den Schülern war es auch den Jungen verboten, die Lichtung zu verlassen und es war immer mindestens ein Krieger in der Nähe, um sicherzustellen, dass sie die Regel einhielten.
Nun, da der andere Clan ihren Aufenthaltsort kannte, hatte Messerzahn versucht, Morgenstern zu überreden, die Katzen an einen sichereren Ort zu bringen. Doch Morgenstern hatte ihn überzeugt, dass die Königinnen und Älteste eine weitere Reise zu sehr schwächen würde. Wohin sie sich auch zurückzogen, dem WurzelClan wäre es nun ein Leichtes, sie zu finden. Gefangen auf dieser Lichtung blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als auf die Gunst des SternenClans zu hoffen – und bereit zu sein.
Als Messerzahn jetzt die spielenden Jungen betrachtete, hatte er plötzlich wieder Tannenpfotes Gesicht vor Augen; blutüberströmt, das Maul zu einem stummen Schrei geöffnet, der Blick entsetzlich leer. Seine Pfote im Todeskampf nach vorne gestreckt, als wollte er in Messerzahns Pelz packen. Der braune Kater erstarrte und der Blattfallwind griff unter sein Fell bis an die Haut wie kleine grüngraue Zehen. Auch seine zum Zerreißen gespannten Muskeln konnten das Zittern seiner Beine nicht verbergen.
Warum hast du mir nicht geholfen?,flüsterte eine Stimme an seinem Ohr.
Messerzahn keuchte und wich zurück.
Er hatte viele tote Katzen gesehen, nicht wenige davon hatten ein ähnlich schreckliches Ende erlitten. Katzen die er gekannt, die er geliebt hatte. Aber der Anblick von Tannenpfotes leblosem, schmächtigem Körper hatte sich in seinen Geist gebrannt wie ein schwarzer Pfotenabdruck.
„Messerzahn, ist alles in Ordnung?“
Blattsprenkels Stimme hatte kaum die Macht, ihn aus seinen schrecklichen Gedanken zu holen.
„Ja. Ja, natürlich.“
Im Bemühen, sein gesträubtes Fell zu verbergen, leckte er sich über die Schulter und konzentrierte sich wieder auf die Katzen, die ihm gegenüberstanden.
Blattsprenkels Blick sagte ihm, dass sie ihm nicht glaubte.
Messerzahn knurrte und schnippte mit dem Schwanz in Richtung Wald. „Blattsprenkel, du führst diese Patrouille. Wasserfell, Wüstenpfote, ihr geht mit ihr. Ich werde euch begleiten.“
Blattsprenkel und Wasserfell nickten zur Bestätigung, dass sie verstanden hatten. Wüstenpfote starrte zu Boden. Messerzahn hatte ihn seit langem nicht mehr laut und fröhlich gesehen. Er widerstand dem Bedürfnis, ihm über den Kopf zu lecken. Stattdessen verbannte er jeden Gedanken an Tannenpfote aus seinem Kopf und wandte sich an die zwei übrigen Katzen, Dunkelpelz und Blütenwind, und teilte sie für die nächsten Wachschichten ein.
Und dann gab Blattsprenkel das Kommando. Wasserfell und Wüstenpfote folgten ihr auf Schritt, Messerzahn hielt sich am Ende der Patrouille und lauschte nach Beute. Er hatte bereits am Morgen Beute für die Ältesten erjagt und war der Meinung, auch er selbst könnte eine frische Maus vertragen.
Die Patrouille war allerdings noch nicht weit gekommen, als Blattsprenkel ihnen mit einem Ohrenzucken bedeutete, stehen zu bleiben. „Hört ihr das?“, wollte sie wissen, den Kopf lauschend schief gelegt.
Verwundert spitzte Messerzahn seinerseits die Ohren. Er hörte es sofort, das Knurren einer Katze gefolgt von einem wütenden Schrei. „Du dummer Busch! Musst du auch unbedingt hier wachsen? Lass mich los!“
Messerzahn unterdrückte ein Schmunzeln und tauschte einen Blick mit den anderen. In ihren Gesichtern konnte er lesen, dass sie die Stimme ebenfalls erkannt hatten. „Ich frage mich, wer das wohl sein könnte“, sagte er und bedeutete dem Rest der Patrouille mit einem Nicken, ihm zu folgen. „Kommt, wir gehen der Sache auf den Grund.“
Der goldbraun gestreifte Kater voran schlüpften die vier Katzen durch das Gestrüpp in die Richtung, aus welcher der Lärm gekommen war. Nach wenigen Schritten durch ein kleines Feld Springkraut und um ein dichtes Zweiggeäst herum erreichten sie einen moosbedeckten, umgestürzten Baum. Mit ungläubigen Blicken kamen die Krieger des BlattClans zum Stehen.
Nachtpfote hing wie ein totes Kaninchen über dem Stamm. Ihr Körper war halb in einem Dornbusch verfangen, die Ranken wie gierige Pfoten um ihre Hinterbeine geschlungen. In dem Versuch, sich zu befreien, hatte sie ihre Haut mit Schrammen und kleinen Wunden versehrt. Messerzahn hätte beinahe angefangen zu schnurren, wenn der Anblick ihn nicht ebenso entgeistert wie belustigt hätte.
Als Nachtpfote Messerzahn und den Rest der Patrouille entdeckte, schnaubte sie und zerrte heftig an ihren Fesseln. „Holt mich hier raus!“, knurrte sie. Ihr Nackenfell war gesträubt, ihre Krallen hatten Kerben auf der Rinde des Baumstamms hinterlassen. „Bitte!“
Wüstenpfote legte seinen Kopf schief. „Was sollte denn das werden?“
„Ich wollte ein Eichhörnchen fangen“, sagte Nachtpfote, die Augen noch immer missmutig verkniffen, „Und dann war dieser Busch im Weg!“ Sie versetzte der Pflanze einen Tritt.
Messerzahn sah, wie Blattsprenkel amüsiert mit den Schnurrhaaren zuckte. „Wir bekommen dich da schon raus“, miaute die gefleckte Katze zuversichtlich und tappte durch das Laub an Nachtpfotes Seite.
Messerzahn, Wasserfell und Wüstenpfote schlossen sich ihr an und gemeinsam begannen sie, die Zweige mit den Zähnen zu packen und von Nachtpfotes Pelz zu lösen. Die Dornen hatten sich teilweise so tief in das Fell gegraben, dass es in Büscheln von der Haut riss. Messerzahn zuckte zusammen und seine Augen tränten, wann immer die Stacheln in seine empfindliche Nase piksten. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, aber schließlich zogen sie die junge Katze heraus.
Erschöpft kroch Nachtpfote über den Baumstamm ins Gras hinunter und begann sich die Wunden zu lecken. Ihr Nackenfell hatte sich noch immer nicht gelegt.
„Na bitte!“, keuchte Blattsprenkel. „Geschafft.“
„Danke“, sagte die Schülerin zwischen zwei Zungenstrichen, aber sie wirkte aufgebracht.
„Wir sollten dich zu Dreckpelz bringen. Nicht, dass sich die Schnitte entzünden.“ Wasserfell drückte sich besorgt an Nachtpfotes Flanke, aber die kleine Kätzin wich zurück.
Wasserfell zuckte überrascht und ein wenig verletzt mit den Ohren.
Jetzt tappte Wüstenpfote zu den beiden hinüber und stupste Nachtpfote in die Flanke. „Und ich hatte schon befürchtet, der Tag würde langweilig werden“, neckte er sie.
Nachtpfote schnaubte und schubste zurück. Wüstenpfote begann zu lachen und kurz darauf fiel Nachtpfote leise mit ein.
Als sich die Patrouille auf den Rückweg zum Fluss machte, wirkten die beiden Schüler ein wenig fröhlicher als zuvor.

 

„Nachtpfote.“
Die schwarze Katze drehte sich um und sah sich Messerzahns forschendem Blick gegenüber. Der Zweite Anführer war stehen geblieben und bedeutete den übrigen Katzen der Patrouille mit einem Schwanzzucken, schon einmal weiterzugehen. Wüstenpfote blickte neugierig zurück, aber er folgte Wasserfell und Blattsprenkel ohne Fragen.
Nachtpfote scharrte mit den Krallen über die Erde und wagte es nicht, den Kater anzusehen. Doch seine Stimme war sanft, als er sprach.
„Ich bin froh, dass du wieder mehr du selbst bist.“
Nachtpfote zuckte zurück. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
„Aber ich hoffe, dieser Dornbusch hat dich daran erinnert, weshalb du nicht alleine auf die Jagd gehen darfst“, fuhr Messerzahn fort, die Nase prüfend in den Wind gereckt. „Nach dem, was passiert ist, streunt kein Schüler mehr ohne Begleitung herum.“
Sein strenger Blick wanderte wieder auf ihren Pelz und forderte eine Antwort.
Nach dem, was passiert ist.
Sie schluckte, die Pfoten fest auf den Boden gestemmt, um das Zittern ihrer Beine zu verhindern.
„Verstanden.“
Messerzahn zuckte die Ohren und wandte sich ab.
In ihrem Innern entfachte sich der Zorn.

 

Jib zwinkerte angestrengt ins Zwielicht, seine Krallen fest in das Moos auf dem Waldboden gegraben. Die dunklen Spitzen der Äste hoben sich kaum noch vor dem grauen Himmel ab und der Wald nahm langsam die vertrauten Farben an, die der Jungeulerich so liebte. Aber es war gefährlich still im Dickicht und die Federn in Jibs Gesichtsschleier zitterten in der furchtbaren Ahnung, dass er nicht alleine war.
Es ist noch nicht weg.
Kläglich verharrte er, eng an die Wurzeln seines Heimatbaums gedrückt, und betete, dass seine Familie ihn endlich finden würde. Doch aus der Asthöhle kam kein Laut. Jib konnte die Augen beinahe spüren, die ihn beobachteten, und drehte panisch den Kopf, ohne je etwas zwischen Zweigen und Farn entdecken zu können. War da ein Rascheln? Er schluckte, um den Schrei zu unterdrücken, der ihm in die Kehle stieg, und rückte enger an die Rinde.
In dem Augenblick wusste er es. Etwas war hinter ihm. Etwas Großes. Heißer Atem strich Jib um den Nacken.
Er wirbelte herum, aber da hatte es ihn schon mit riesigen Pranken gepackt und drückte schmerzhaft seine Flügel an den Körper. Jib schlug mit den Klauen aus, spürte, wie er in die Luft gehoben wurde und schrie auf. Das Wesen grunzte, packte aber nur noch fester zu. Jib wehrte sich, kratzte und schnappte, bis sich etwas Hartes um seinen Körper legte und ihn alles in Dunkelheit hüllte.

Chapter 16: Training

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Und jetzt seid ihr dran.“
Mit einem Schwanzschnippen beendete Kieselschweif ihre Erklärungen und überließ den Schülern die Trainingskuhle. Ihr Blick glitt abwesend über Klettenpfote und Wüstenpfote, bevor er an Nachtpfote hängen blieb.
Nachtpfotes Magen zog sich zusammen, als sie den Schmerz in den blauen Augen der Kätzin entdeckte.
Vor ein paar Tagen hatte sie ihr Training mit ihrer Mentorin und den anderen Schülern wieder aufgenommen. Aber die Lücke, die Tannenpfote in ihrer Mitte hinterlassen hatte, spannte sich wie ein finsterer Schleier zwischen den Katzen.
Kieselschweifs Blick glitt zu Boden. Ohne ein Wort trat Wasserfell an Kieselschweifs Seite und legte ihr den Schwanz auf die Schulter. Die graue Kätzin stellte die Ohren auf und schenkte ihrer Freundin einen dankbaren Blick.
„Also gut. Lasst mal sehen.“ Wasserfell nickte in Nachtpfotes Richtung.
Die Schülerin schrak auf und sah sich nach Klettenpfote und Wüstenpfote um, die ein paar Pfotenschritte entfernt im Gras kauerten und nachdenklich auf ihre Zehen starrten. Offenbar hatte Dreckpelz Klettenpfote ihn für diesen Tag von seinen anderen Pflichten befreit. Er war dünn geworden und sein halblanges Fell hing ihm strähnig am Körper. Jetzt erhob er sich schwerfällig, tappte zu Nachtpfote herüber und legte fragend den Kopf schief.
„Alles klar, Klettenpfote“, rief Wasserfell. „Greif Nachtpfote an.“
Der braune Kater nickte und endlich klärte sich sein Blick. Er spannte die Muskeln.
Nachtpfote fegte jegliche Gedanken davon, die ihr durch den Kopf geisterten, holte tief Luft und versuchte sich das Gefühl des Kampfes zurück ins Gedächtnis zu rufen: das schnelle, panische und gleichzeitig berauschende Pochen des Herzens und der Anblick ihrer Krallen tief im Fleisch eines Gegners. Die Eindrücke drangen so stark auf sie ein, dass sie fast meinte, den metallischen Geruch von Blut unter ihrer Nase zu riechen und das Schreien und Kreischen kämpfender Katzen zu vernehmen. Überrascht schüttelte sie den Kopf und versuchte, auf die Lichtung zurückzukehren, aber auf einmal sah sie anders aus, dunkler, mit struppigem Gras unter finsteren Buchen. Die Äste schwankten bedrohlich und knarzten im Wind, als würden sie aus tiefster Kehle knurren.
Nachtpfote schauderte, als sie den Ort erkannte. Blut befleckte den Boden und die Halme waren plattgedrückt dort, wo Bärentatze sie gepackt und fast getötet hatte.
Hör auf! Das ist nicht echt!
Nachtpfote kniff die Augen zusammen, aber der Geschmack von Blut breitete sich wie heißes Wasser in ihrem Maul aus. Sie hustete, als es ihre Kehle herunter rann, und schnappte nach Luft.
Bitte hör auf!
Ohne Vorwarnung stürzte Klettenpfote los. Nachtpfote straffte die Muskeln und stemmte ihre Beine fest auf den Grund, entschlossen, dem anderen Schüler entgegenzutreten. Aber der braune Kater, der sich vor ihr aufbäumte und mit den Krallen nach ihr hieb, war nicht Klettenpfote. Nachtpfote schrie auf und duckte sich unter der riesigen Pfote weg, die ihr das Gesicht zerfetzen wollte. Gebogene Klauen verfehlten nur haarscharf ihr Ohr. Die Kätzin konnte sich gerade noch ins Gras werfen, rollte herum und sprang in einer einzigen Bewegung wieder auf. Erdbrocken spritzten hoch und ein Schlag traf sie am Rücken, aber sie behielt das Gleichgewicht. Ihr Gegner wirbelte herum und fauchte, die giftgelben Augen schmal wie Krallenspitzen. Nachtpfotes Magen verkrampfte sich und sie keuchte, als er vor ihr stand; die breiten Schultern bebend vor Zorn, die Zähne groß genug, um ihre Knochen zu knacken.
Bärentatze.
Das kann nicht sein!
Nachtpfote spürte, wie ihre Kehle brannte. Sie würgte in Erinnerung daran, wie er sie in den Staub gedrückt hatte.
Du kannst nicht hier sein!, wollte sie brüllen, brachte aber nichts heraus.
Bärentatze bleckte die Zähne und stürzte vor. Sein graubraunes, schütteres Fell wogte, als er seine Klauen nach ihr schleuderte. Die Schülerin schrie auf und konnte ihnen eben noch entkommen, aber da rammte der größere Kater sie mit der Flanke heftig zu Boden. Nachtpfote spürte seine Tatzen auf ihrem Körper. Sobald sie im Gras lag, zischte und schlug sie mit den Beinen aus, um ihn fernzuhalten. Trotz ihrer Bemühungen spürte sie, wie er näher rückte und sie mit seiner Masse auf den Boden presste. Eine Tatze legte sich auf ihre Brust, sein Gesicht nur Mäuselängen von ihrer Kehle entfernt. Braunes Fell legte sich über ihr Maul und dämpfte die Schreie, Zähne drückten in ihren Hals.
In dem Augenblick schaltete Nachtpfote um. Die Gedanken, die ihr so heftig durch den Kopf gewirbelt waren, verstummten wie ein Vogelchor im Sommerregen, und es wurde beängstigend still. Bärentatzes Knurren verzerrte sich und verschwand unter dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Ihr Blick schärfte sich, ihr Herz verfiel in einen raschen, gleichmäßigen Rhythmus – ein Trommeln, das sie anstachelte, das von ihr verlangte, sich zu wehren und zu kämpfen. Nachtpfote holte tief Luft und stoppte das nutzlose, panische Schlagen ihrer Pfoten. Der nächste Hieb war gezielt, mit schwarz funkelnden Krallen griff die Schülerin direkt nach Bärentatzes höhnischen, gelben Augen.
Bärentatze drehte den Kopf im letzten Moment und rettete sein Augenlicht. Stattdessen schlitzten ihre Klauen seine Wange auf und schickten einen Blutstrahl durch die Luft. Bärentatze brüllte, den Kopf zur Seite geworfen, und schwankte nach hinten.
Nachtpfote zögerte nicht. Ihr Körper schoss vor, ihr Inneres so ruhig wie schon lange nicht mehr. Ihre Zähne waren bereit, sich in seine Schulter zu graben.
In dem Augenblick traf etwas mit voller Wucht ihre Seite und stieß sie um. Nachtpfote schrie und schlug um sich in Erwartung weiterer Feinde. Tatzen griffen nach ihr und zerrten an ihrem Fell.
„Nachtpfote! Nachtpfote, hör auf!“ Wasserfells Stimme drang zu ihr durch.
Nachtpfote schnappte ein letztes Mal mit den Zähnen, aber zu viele Katzen hielten sie fest. Erschöpft sackte sie zusammen und keuchte nach Luft. Das Adrenalin des Kampfes zuckte noch durch ihren Körper und trübte ihren Blick.
„Nachtpfote, beim SternenClan!“ Wasserfell und Kieselschweif standen über ihr, die Gesichter verzerrt vor Ungläubigkeit und Entsetzen.
„Warum haltet ihr mich fest?“, krächzte Nachtpfote. „Lasst mich los! Ich muss ihn aufhalten … ich muss …“
„Was redest du?“, fauchte Kieselschweif. „Siehst du nicht, was du getan hast?!“
„Aber ich …“ Nachtpfote verstummte, als sie Klettenpfote sah. Mit großen Augen starrte er auf sie herab, Blut tropfte von einem tiefen Riss auf seiner Wange.
„Nachtpfote, wir kämpfen niemals mit ausgefahrenen Krallen beim Training!“ Kieselschweif starrte noch immer missbilligend auf sie herab.
Wasserfell schwieg, die bernsteinfarbenen Augen dunkel vor Sorge. „Was ist in dich gefahren?“
Nachtpfote presste die Augen zusammen, der Geschmack von Blut machte sie schwindeln. Das Gewicht löste sich von ihren Schultern, aber es brauchte eine Weile, bis sie sich auf die Beine hieven konnte. Die Kriegerinnen wichen zurück, ihre Pelze zerzaust und bestückt mit Grasfetzen, die Blicke unverwandt auf Nachtpfote gerichtet. Nur Klettenpfote wich ihr aus, den Kopf gesenkt. Das Blut tropfte von seiner Wange hinab ins Gras.
SternenClan, habe ich das getan?
Nachtpfote wurde schlecht. Ihre Beine zitterten noch immer, unentwegt suchte sie die Lichtung ab, suchte nach dem riesigen braunen Kater, der noch vor wenigen Herzschlägen seine Fänge nach ihr gereckt hatte. Aber da war nichts. Nur sie und ihre eigenen Dämonen. Und die Clankameraden, die ihr vertrauten und die sie enttäuscht hatte.

 

„Nachtpfote, ich muss mit dir reden.“
Nachtpfote zog sich die Brust zusammen, aber sie hielt inne und wartete, bis Wasserfell zu ihr aufgeholt hatte. Die Kätzin hatte die Ohren angelegt, aber ihre bernsteinfarbenen Augen verrieten nichts.
Die anderen Schüler waren mit Kieselschweif auf dem Rückweg zum Fluss, aber ihre Mentorin hielt Nachtpfote zurück. Mit ernster Miene ließ die graue Kätzin sich nieder. Ihr Schwanz fuhr über das Laub.
Nachtpfote setzte sich ebenfalls, die Pfoten noch immer zittrig angesichts des vergangenen Kampfes. Sie starrte auf den Boden, konnte aber nichts anderes vor sich sehen als Klettenpfotes blutiges Gesicht.
Wasserfell legte den Kopf schief und brach die Stille. „Du bist eine gute Kämpferin“, sagte sie, „besser als jeder der anderen Schüler, wie mir scheint.“
Überrascht sah Nachtpfote auf, suchte nach einer Antwort. Was auch immer sie erwartet hatte, als Wasserfell sie beiseite nahm, das war es jedenfalls nicht gewesen.
„Was ist da eben passiert?“ Wasserfell kniff die Augen zusammen, aber sie wirkte nicht wütend. „Ich kann nicht glauben, dass du Klettenpfote mit Absicht wehtun würdest. Hattet ihr eine Auseinandersetzung?“
„Nein.“ Nachtpfote schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“
Ihre Mentorin überlegte einen Moment und nickte dann. „Ich habe dich kämpfen sehen“, murmelte sie. „Du bist jünger als Klettenpfote, aber du kannst mit Leichtigkeit mit ihm mithalten. Manchmal habe ich das Gefühl, du kämpfst wie eine Kriegerin.“
Die Kätzin hielt inne und seufzte.
Nachtpfote starrte sie an. „Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, brachte sie heraus.
„Du hast ein Talent“, fuhr Wasserfell fort, ohne ihre Verwirrung zu beachten. „Ich kann sehen, dass du eine geborene Kämpferin bist.“
„Auch wenn …?“
„Auch wenn deine Eltern keine Clan-Katzen sind? Ja.“ Wasserfell senkte den Kopf und fuhr Nachtpfote mit der Zunge über die Nase.
„Danke.“
Die Unterstützung der Kriegerin brachte ihre zitternden Pfoten endlich zur Ruhe.
„Versteh mich nicht falsch.“ Wasserfell lehnte sich zurück, um sie mit einem prüfenden Blick zu versehen. „Gewiss wird eines Tages eine großartige Kriegerin aus dir werden. Ich denke, es ist der Weg, den der SternenClan für dich vorgesehen hat. Aber …“ Sie zögerte. „Du musst sehr vorsichtig sein.“
„Was meinst du damit?“
Wasserfell beugte sich zu ihr und senkte die Stimme. „Nachtpfote, als ich dich eben mit Klettenpfote habe kämpfen sehen, habe ich dich nicht wiedererkannt. Es ist, als wärest du eine ganz andere Katze gewesen. Als hättest du eine zweite Seite in dir, die zum Vorschein tritt, wenn du kämpfst.“
Eine andere Katze.
Nachtpfote schauderte. Sie erinnerte sich an den Augenblick, als sie glaubte, dass Bärentatze nach ihrer Kehle schnappte. In dem die Geräusche verstummt waren, in dem sie nichts mehr gehört hatte als das Schlagen ihres eigenen Herzens und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Als sie abgeschaltet und ihren Körper hatte weiterführen lassen, weil sie darauf vertraute, dass er wusste, was er zu tun hatte. Jäh dachte sie an Messerzahns Worte. Dass du wieder mehr du selbst bist. Wie sollte sie, nach dem, was passiert war? Ein Teil von ihr hatte schon lange das Gefühl, dass ihre Pfoten sie auf einen dunklen, blutgetränkten Pfad hatten lenken wollen. Es war, als drohte Tannenpfotes Tod sie nun zu dem zu machen, was sie ihr Leben lang dabei gewesen war, zu werden.
„Diese Gabe wird dir helfen“, sagte Wasserfell. „Sie wird dich schützen vor allem, was dem BlattClan noch bevorstehen mag. Du bist sehr stark. Aber vergiss niemals, wer du bist. Und wer deine Freunde sind.“ Ihre Augen waren voller Wärme. „Ich bin immer für dich da, Nachtpfote. Du kannst mit mir reden.“
Mit zugeschnürter Brust starrte Nachtpfote ihre Mentorin an und konnte sehen, dass sie es ehrlich meinte. „Ich habe Bärentatze gesehen“, flüsterte sie. „Ich war wieder auf der Lichtung, wo … wo sie uns gefunden haben.“
„Es tut mir leid.“ Trauer huschte über Wasserfells Gesicht. „Dass ich nicht dort gewesen bin. Dass ich dich nicht beschützt habe. Du hättest sterben können und ich … ich weiß nicht, was ich getan hätte.“
Nachtpfote presste die Zähne zusammen, aber sie konnte die Angst nicht unterdrücken, die in ihr aufstieg.
„Bleib bei mir, okay?“, sagte Wasserfell und presste ihr graues Fell an den schwarzen Pelz ihrer Schülerin. „Wir werden das schaffen. Zusammen.“
Nachtpfote schluckte und vergrub das Gesicht in Wasserfells Schulterfell. Die Augen fest geschlossen, atmete sie den Duft ihrer Freundin ein und konzentrierte sich auf nichts anderes als den Chor ihrer schlagenden Herzen. Zu gerne hätte sie diesen Moment mit ihren Pfoten gepackt, damit er ihr niemals entgleiten würde. Wasserfell beugte sich tiefer und ringelte den Schwanz um Nachtpfote, als hätte sie sich geschworen, sie vor allem zu beschützen, was aus den Bäumen brechen und versuchen könnte, ihrer Schülerin zu schaden.
So saßen die beiden Katzen noch eine ganze Weile, während der Wind das Laub von den Bäumen pflückte und es auf seinem Weg bis zum Waldboden hinab begleitete.

Notes:

Es tut mir so leid, ich habe ganz vergessen neue Kapitel zu posten!
Momentan bin ich sehr beschäftigt damit, an meinem Merch und dem Convention Stand zu arbeiten, daher hab ich Nachtschwarz ganz vergessen ;-;
Ich hab noch eine Menge Kapitel, die gepostet werden können. Das Buch ist fast fertig, ich werde allerdings erst nach der Convention dazu kommen, es fertig zu schreiben.
Von jetzt an werd ich versuchen, wieder regelmäßig zu updaten ^^